Montag, 5. Juni 2017
Der falsche Weg
Ich hätte drei andere Wege wählen können. Es lag in meiner Hand, wie der Tag ausgehen würde und ich wählte natürlich den falschen Weg. Marvin und ich hatten beschlossen eine Runde spazieren zu gehen. Es war ein angenehmer Feiertagsnachmittag und man hatte nichts Besseres zu tun. Wir nahmen jeweils ein Eis am Stiel mit und schlenderten durch die schmalen Wege, bis wir an einem Waldstück ankamen. „Ladys First“, sagte Marvin und deutete auf einen dicht bewachsenen Waldweg. Mir war weder nach reden zumute, noch danach ihm zu widersprechen. Ich wollte einfach gar nichts sagen und laufen. Stumm ging ich an ihm vorbei und bahnte mir den Weg in den Wald. Die Sonne strahlte immer wärmer auf unsere Köpfe. Es hätte so ein schöner Tag werden können. Nicht lange und wir standen vor einer kleinen Gablung. Marvin stellte sich neben mich und fragte: „Links, geradeaus oder rechts?“ Intuitiv ging ich nach links und freute mich über den dicht bewachsenen Wald, weil dieser so viel Schatten spendete. Doch kurz darauf bereute ich meine Entscheidung. Meine Schritte wurden langsamer und ich starrte auf ein Fahrrad, welches etwas weiter vorne auf dem Waldboden lag. Als ich weiter ging, erkannte ich ein zweites Fahrrad und zwei Jungs, die auf einem Baumstamm saßen. Da roch ich es aber ich wollte nicht zugeben, dass es mich störte. Ich wollte es mir selbst nicht eingestehen. Mein Plan war es, schnell an den Jungs vorbei zu gehen und zu verschwinden. Aber im selben Moment wusste ich, dass Marvin die beiden Jungs kannte und da begrüßte er sie auch schon. Unbeholfen blieb ich stehen und starrte kurz auf den Joint in der Hand des Jungen. Nachdem ich mich in Sekundenbruchteilen wieder zusammen gerissen hatte, reichte ich dem Jungen aus Höflichkeit die Hand, um mich vorzustellen. Ein Ekel durchfuhr mich, als ich seine stinkende Hand in meiner spürte. Marvin unterhielt sich mit den beiden Jungs, die ziemlich durcheinander aussahen. Ich hörte nicht mehr zu, denn vor meinem inneren Auge tauchten Bilder auf. Bilder von Marvin, wie er hier einst gesessen hatte. Seine Freunde und er drehten sich ihre Joints und sie sprachen, als wären sie die Könige der Welt. Wie gesagt, ich hatte jeden Weg wählen können aber ich hatte mich indirekt für die Vergangenheit entschieden.
Es dauerte nicht lange und wir gingen weiter. Der Geruch an meiner Hand kam jedoch mit.
(…)
Marvin brachte mich nach Hause. Wir sprachen kaum noch, denn ich wollte nur noch weg. Die Bilder in meinem Kopf gingen mir auf die Nerven. Also stieg ich schnell aus seinem Wagen und kramte meine Handtasche aus dem Kofferraum. Ich versuchte ihn anzulächeln, damit er sich nicht schuldig fühlte. Im Rückblick weiß ich nicht einmal, ob es überhaupt ein Lächeln war oder ein vorwurfsvoller Blick.
In meiner Wohnung angekommen, kochte ich mir eine Kanne Kaffee und setzte mich an den Küchentisch. Mit aller Mühe versuchte ich es aufzuhalten. Doch da war ich wieder, mitten in meiner Vergangenheit.
(…)
Kürsad gelte sich seine Haare nach hinten und zog eine schicke Lederjacke an. Auch ich sollte mich schön machen, selbst wenn ich keine Lust dazu hatte. Das hier war seine Welt und ich war erst dreizehn Jahre alt. Deshalb ging ich in sein Badezimmer und versuchte mein Bestes.
Ich zog eine kurze Jeans an, ein enges Top und öffnete meine langen, dunkelblonden Haare, in der Hoffnung, es würde reichen. „Schmink dich, sonst siehst du zu jung aus. Außerdem möchte ich meine Freunde doch beeindrucken“, befahl mir Kürsad, der plötzlich im Türrahmen stand und mich musterte. Das sollte wohl halb Kompliment, halb Beleidigung sein. Ich sprach nicht, sondern schminkte mich. Dabei benutzte ich viel Lidschatten und Lippenstift. Nachdem mein Gesicht nicht mehr mein Gesicht war, ging ich aus dem Bad und holte mir die Erlaubnis mit ihm mitzukommen. Er stand im Flur und nickte anerkennend. Das war mein Zeichen ins Zimmer zu gehen und meine Handtasche zu holen. Dabei sah ich auf meinem Handy nach, ob irgendjemand aus meiner Familie mich vermisste, immerhin war ich schon einige Tage nicht zu Hause gewesen. Keine Nachrichten, keine Anrufe. Ernüchtert steckte ich das Handy wieder in die Tasche und folgte meinem Albtraum.
Kürsad und seine Freunde trafen sich auch in so einem Waldstück. Entweder saßen sie auf dem Boden oder auf Baumstämmen. Alle waren groß und muskulös und eigentlich viel zu alt für mich. Manche hatten schon einen Führerschein und eigene Autos. Sie kifften, nahmen andere Drogen und tranken viel Alkohol und meistens machte ich mit.
Dann saß ich da, an einen Baum gelehnt, während mir langsam aber sicher schlecht wurde und die Welt sich komisch bewegte. Die meisten der Leute dort waren Arschlöcher. Nur selten waren Mädchen dabei und wenn, dann passten sie ganz gut dorthin. Doch ich passte dort nicht hin und wusste dass auch, egal wie benebelt mein Verstand war. Irgendwann würde ich fliehen oder sterben aber ich würde nicht auf ewig in so einem Waldstück sitzen.
Während es immer später und dunkler wurde, wurde Kürsad immer dichter und betrunkener. Dann kümmerte er sich nicht mehr um mich und ließ mich in seiner Nähe sitzen und frieren. Die anderen Jungs sahen immer wieder zu mir und zogen mich mit ihren Blicken aus. Es war wie in der Hölle. Keiner heißen Hölle, sondern einer kalten, skrupellosen.
Nach einigen Stunden wurde mir immer schlechter und ich beschloss etwas im Wald spazieren zu gehen, zumal ich die Blicke der anderen Jungs auch nicht mehr aushielt. So lief ich durch den Wald, wie ein verlorenes Rehkitz und taumelte durch die Sträucher. Ich begann immer heftiger zu zittern, weil mir so kalt wurde. Da kam er, aus dem Nichts. Noah und reichte mir seine Jacke. „Deine Lippen sind schon ganz blau“, stellte er fest und zog sie mir einfach an, ohne zu fragen. „Das passt schon“, meinte ich und wollte sie wieder ablegen aber Kürsad kam zu uns und ich hielt die Luft an. Seine braunen Augen sahen erst mich und dann Noah durchdringend an. „Was wird das hier?“, knurrte Kürsad verächtlich aber noch zurückhaltend für seine Verhältnisse. Noahs Miene blieb gelassen und er zuckte mit den Schultern. Dann sagte er: „Sie kann nicht mehr. Ihr ist kalt und schlecht, also hab ich ihr angeboten sie nach Hause zu begleiten. Morgen hat sie ja auch Schule. Ist das ein Problem für dich?“ Ich spürte förmlich, wie mir meine Gesichtsfarbe entwich. „Ich mache das schon“, meinte Kürsad mit leicht drohender Stimme. „Und das nächste Mal hältst du dich aus fremden Angelegenheiten raus.“ Kürsad wandte sich zu mir: „Gib ihm seine scheiß Jacke zurück, Askim.“ Mit zittrigen Händen reichte ich Noah seine Jacke und lächelte ihn matt an. Er hatte ja keine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten ich jetzt wegen ihm steckte. Kürsad packte meine Hand und führte mich raus aus dem verdammten Wald. Jedoch nicht nach Hause. Nachdem er mir links und rechts eine verpasst hatte, durfte ich im Auto eines Kollegen warten, bis der König mir erlaubte zu gehen.
(…)
Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein. Währenddessen rollten mir Tränen über die Wange und mein Magen verkrampfte sich. Ich weiß noch, vor einigen Jahren hatte ich meine türkische Großmutter das erste Mal getroffen und wir hatten zusammen Tee getrunken. Es war eine alte Frau, die viel zu erzählen hatte, nur leider konnte ich nichts verstehen, da ich kein türkisch sprechen kann. Daher war meine ältere Schwester dabei gewesen und konnte für mich übersetzen. Meine Oma gab mir einen Rat: „Ich kann dir nicht mehr viel beibringen aber eine Sache musst du dir merken: Suche dir keinen Mann, der in der frühen Jugend schon mit Alkohol und Drogen zu tun hatte. Menschen können sich ändern aber es wird immer ein Teil von ihnen sein. Und solche Jugendlichen schätzen die Eltern und ihre Erziehungsarbeit nicht. So einen Mann möchtest du nicht haben. Sowas macht später nur Ärger und ich möchte nicht, dass du mit einem gebrochenen Herzen endest.“
Es kam oft vor, dass ich an diese Worte denken musste. Ich war selbst nicht besser gewesen, denn ich habe mich damals in diesen Sumpf einsperren lassen. Jetzt konnte ich jedoch alles besser machen. Betrübt nahm ich meine Tasse mit auf den Balkon und schaute mir den Wald vor meiner Wohnung an. Ich war aufgewühlt und nachdenklich aber wusste, dass es mir allemal besser ging, als damals. Meine Frage war nur, wie lange das Anhalten würde.

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