Montag, 23. Januar 2017
Gottesdienst
Mein Handy klingelte kurz bevor ich mich schlafen legen wollte. Müde nahm ich den Anruf entgegen. „Du hast mich fünf Mal versucht anzurufen!“, stellte Dana erschrocken fest. Ja, das war vor einigen Stunden der Fall gewesen. Jetzt wollte ich den Grund eigentlich vergessen und mich in die Nacht flüchten. Auch die Erkältung nahm mich mehr mit, als ich es mir erhofft hatte. „Das hat sich schon erledigt…ich komme klar“, versuchte ich meine Freundin abzuwimmeln. Sollte ich jetzt noch einmal darüber nachdenken, so würde ich vermutlich auf der Stelle anfangen zu weinen. Irgendetwas stimmte nicht mit mir. Aber war das etwas Neues? „Ist etwas mit Marvin?“, fragte sie nach und seufzte. Ich knipste meine pinke Nachttischlampe an und setzte mich auf den Bettenrand. „Ich bin vorhersehbar geworden, nicht wahr?“, erwiderte ich hoffnungslos und starrte ins Leere. „Jungs tun dir einfach nicht gut“, meinte Dana nach einer kurzen Pause. „Dabei rede ich von jedem Jungen. Sowohl Marvin, als auch Noah oder die anderen. Allesamt tun dir nicht gut.“
Sosehr ich ihr auch widersprechen wollte, hatte sie doch recht. Jedes Mal war es ein ähnliches Szenario gewesen. Ich verliebte mich und sobald ich mir eine Zukunft mit dem Jungen vorstellen konnte, verblasste das schöne Bild und der Junge legte eine andere Platte auf. Eine Platte mit schrecklichen Bildern, die ich nun wirklich nicht sehen wollte.
„Ich sollte dich damit nicht mehr nerven“, bemerkte ich monoton und wollte ihr eine „gute Nacht“ wünschen. „Moment“, hielt mich Dana auf. „Erzähl erst was passiert ist.“
Was hatte ich schon zu verlieren? „Es ist diese Eifersucht…ich kann ihn nirgends mehr hinschicken, ohne dass ich Bilder von ihm im Kopf habe. Bilder von ihm mit anderen Mädchen. Das Schlimmste an der Sache ist, dass ich mit diesen besagten Bildern abends einschlafen muss. Es macht mich fertig!“, rief ich verzweifelt aus. Tränen brannten in meinen Augen. „Hat er dir denn einen Grund zur Eifersucht gegeben?“, hakte sie nach. „Einige Male auf Partys…aber das ist schon länger her. Wieso sucht es mich jetzt erst heim?“, jammerte ich und da begannen die Tränen zu fließen. Das passte nicht so gut zu meinem Schnupfen. Sofort war meine Nase wieder zu und ich hörte mich an, wie kurz nach einer Nasen-Operation. „Du musst das so sehen: es passieren richtig viele Dinge in deinem Leben. Vielleicht beginnt dein Kopf das jetzt erst zu verarbeiten. Step by Step sozusagen“, warf Dana nachdenklich ein. „Aber, wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: du solltest dich echt mehr um dich kümmern und nicht ständig um andere. Du wirst daran kaputt gehen.“ (…)
Die Nacht schlief ich nicht gut, weshalb ich am nächsten Morgen besonders schlechte Laune hatte. Trotzdem, und auch wenn meine Erkältung mich noch quälte, beschloss ich zur Arbeit zu fahren. Die Wintermorgende waren bekanntlich dunkel und sehr kalt. Ich war immer wieder froh darüber, dass meine Autoheizung so gut funktionierte.
Die Heizung bewahrte mich allerdings nicht vor dem schrecklichen Berufsverkehr. An jeder Ampel stauten sich die Autos.
Es dauerte länger als sonst, bis ich endlich vor dem Kindergarten parken konnte, in dem ich mein Praktikum absolvierte. Ich schloss meine Autotür zu und ging durch die schmale Gasse, die direkt zum Eingang des Kindergartens führte. Es war so bitterkalt, dass sich mein Gang beschleunigte, bis ich eine hochschwangere Frau sah, die versuchte mit ihren Einkäufen die Eingangstür zu öffnen. Ich hielt kurz inne und bekam ein komisches Gefühl. Plötzlich hörte es sich so an, als würde ein Herz in meinen Ohren schlagen. Irritiert starrte ich ihren Babybauch an. „Ich bin jetzt im siebten Monat“, sagte die Frau, als sie meinen Blick bemerkte. Erschrocken fuhr ich zusammen und hastete zur Tür, um sie ihr zu öffnen. „Tut mir leid, bin etwas neben der Spur. Geht es ihnen denn gut?“, fragte ich höflich und lächelte sie an. Die Frau sah sehr jung aus, hatte einen leicht bräunlichen Teint und schöne, schwarze Haare. „Dankeschön, ach ist kein Problem!“, winkte sie ab und betrat mit mir den Kindergarten. „Eigentlich geht’s mir gut. Aber seit heute Nacht habe ich so Rückenschmerzen. Ich hoffe, dass das Baby sich noch Zeit lässt.“ Die Frau strich sich über ihre dicke Winterjacke. (…)
Da ich spät dran war, rannte ich durch den Flur und stieß fast gegen den Pfarrer, der jede Woche einen Gottesdienst für die Kinder veranstaltete. „Sie sind noch pünktlich. Wir fangen gleich an“, begrüßte er mich freundlich. „Heute können sie ja die Einführungs-Predigt halten.“
Ich weitete meine Augen und wurde nervös. Ich? Ich sollte jetzt spontan eine Predigt halten? Und das auch noch vor kleinen Kindern…augenblicklich wurden meine Handflächen feucht. Super. Ich ging zu der Garderobe, um meine Jacke, meinen Schal und die Mütze auszuziehen. Anschließend atmete ich durch und betrat die Turnhalle, in der schon die Bänke aufgestellt waren. Die Kinder saßen im Kreis und warteten darauf, dass es endlich los ging.
Der Pfarrer betrat nach mir die Halle und setzte sich auf einen Stuhl, direkt neben den Kindern. Sobald ich sicher sein konnte, dass alle Kinder ihre Aufmerksamkeit auf mich richteten, fing ich an. „Ich bin zwar neu hier aber habe schon mitbekommen, dass ihr hier im Kindergarten regelmäßig einen Gottesdienst veranstaltet. Dies tut ihr, weil ihr Christen seid oder euch mit christlichen Dingen beschäftigt“, begann ich meine Rede und faltete dabei die Hände. „Euer Pfarrer hat mich heute gebeten mit dem Gottesdienst anzufangen. Also wollte ich euch direkt mal eine Frage stellen: Wer ist Gott?“ Die Kinder fingen direkt an nachzudenken und plapperten drauf los. Lautes Gemurmel wurde noch lauter und die Erzieher, die neben dem Pfarrer auf einer schmalen Bank saßen, beruhigten die Kinder schnell wieder. „Jeder muss sich melden, bevor derjenige etwas sagen möchte“, bemerkte ich mahnend. Sofort sah ich, dass die Mehrheit der Kinderarme in die Höhe schoss. Ich nahm viele Kinder dran. Die meisten Kinder sahen Gott als alten Mann, mit weißen Haaren. Irgendwann nahm ich einen Jungen dran, der behauptete: „Ich glaube nicht an Gott.“ Auf der Stelle wurden die Kinder wieder laut und schrien ihn an, denn sowas sollte man in ihren Augen nicht sagen. Nachdem sich die Menge wieder beruhigt hatte, schaute ich den Jungen an. „Es ist nichts Falsches daran, was euer Freund hier gesagt hat. Jeder darf an das glauben, an das er glauben möchte. Ihr könnt keinen Menschen dazu zwingen, Sachen zu tun. Ihr könnt keinen Menschen dazu zwingen an Gott zu glauben oder das zu machen, was ihr macht. Ja, es gibt auch viele Erwachsene, die nicht an Gott glauben“, ich lies meinen Blick über die Gruppe schweifen. „Der Glaube ist eine Gabe…ein Talent. Und ihr wisst, nicht jeder hat das Talent zu singen oder besonders sportlich zu sein. Jeder Mensch ist in etwas anderem sehr gut. Aber ihr dürft auch nicht vergessen: man kann alles lernen! Wenn ihr viel übt und euch Mühe gebt, dann könnt ihr bald schon besser singen und weiter laufen. Ja, dann könnt ihr auch an Gott glauben. Ihr könnt entscheiden, was ihr in eurer Zukunft machen wollt.“ Wieder herrschte leises Gemurmel bei den Kindern. Ich schaute kurz zu dem Pfarrer, der mich anerkennend anlächelte. „Wer ist Gott denn für dich?“, fragte mich der Junge, der meinte, er glaube nicht an Gott. Grinsend dachte ich kurz nach. „Ich stelle ihn mir auch oft als älteren Mann vor, so wie ihr. Aber eigentlich glaube ich daran, dass Gott in jedem von uns ist. Jetzt, hier und in jedem Moment“, antwortete ich überzeugt. Die Kinder sahen auf ihre Körper und stellten sich vermutlich die kuriosesten Sachen vor. „Gott ist hier?“, hörte ich ein Mädchen fragen. Ich nickte. „Ja, Gott ist immer bei uns, wenn wir nach der Bibel handeln. Jetzt und hier lieben wir uns, wir sind nett zu einander und helfen einander, wenn etwas passiert ist. Und Gott ist diese Liebe, die uns so nett macht und gibt uns Kraft, damit wir einander helfen können.“ (…)
Nach dem Gottesdienst, als ich grade in die Küche gehen wollte, um den Kindern ihr Obst zu holen, kam der Pfarrer zu mir. „Das haben sie wirklich sehr gut gemacht“, lobte er mich aufrichtig. „Haben sie das während ihres kurzen Studiums gelernt? Sie müssen sich ja stark mit solchen Themen befasst haben.“
„Das Leben lehrt einen manchmal viel mehr, als es ein Studium je schaffen könnte“, stellte ich grinsend fest.