Samstag, 4. März 2017
Die Bilder
Die Arbeit in der Kita war zwar sehr mühsam aber es erfüllte mich auch. Die Zeit verging relativ schnell und es dauerte nicht lange, bis ich mich an mein Arbeitsumfeld gewöhnt hatte. Das einzige Negative an der Sache war, dass mich meine Dämonen aus der Vergangenheit immer noch verfolgten…sogar bis in die Kita.
Ich war im Flur und fegte diesen, weil die Kinder von draußen ordentlich Dreck rein gebracht hatten. Die ganze Zeit dachte ich daran, dass ich nach der Arbeit zu Marvin fahren musste. Er hatte am vorherigen Tag Geburtstag gehabt und feierte das heute mit seiner Familie nach. Mittlerweile verstand ich mich recht gut mit seiner Familie, auch wenn mich diese Kälte störte. Dennoch versuchte ich es zu ignorieren, denn man musste die Menschen so nehmen, wie sie nun mal waren. Während ich fegte wanderte mein Blick zu der roten Türe, die einen Spalt breit offen war. In dem Raum befanden sich die Kleinsten aus der Kita. Man hörte sie spielen und lachen. Lächelnd wollte ich weiter fegen, doch plötzlich tauchte ein großer Schatten im Türspalt auf. Ich blieb wie versteinert stehen und starrte das dunkle Etwas an. Langsam bekam ich das Gefühl, dass er es auch bei mir tat. Die Tür fiel quietschend zu, was einen ordentlichen Knall zum Vorschein brachte und wie auf Kommando hörte man ein Kind furchtbar schreien. Kurz darauf auch eine Erzieherin, weshalb ich den Besen fallen ließ und in den Raum stürmte.
Ich blieb wie erstarrt stehen, als ich den kleinen, einjährigen Jungen sah. Tanja, eine Erzieherin hatte ihn auf den Arm genommen, um sich seine Platzwunde anzusehen. Das Blut lief aus der Wunde an seiner Stirn und das nicht grade wenig. Benommen schaute ich mich im Raum um und sah, dass eine Tischkante Blutspuren hatte. Schon wusste ich, dass er dagegen gefallen war. Tanja sah mich erleichtert an, vermutlich weil sie dadurch nicht alleine war. Sie griff sich ein Bündel Socken und presste es auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen. „Haylie! Komm her und drück das da drauf. Ich muss den Verbandskasten holen!“, rief Tanja mir zu. Zuerst zuckte ich zusammen aber dann reagierte ich schnell und nahm ihr das Kind und die Socken ab und tat, wie mir gesagt wurde. Tanja raste aus dem Raum, während ich Jenny im Flur hörte, die einen Notarzt anrief. Meine Hand war plötzlich Blutverschmiert und der kleine Junge schrie kaum noch. Das war doch ein schlechtes Zeichen! Er sah mich mit seinen hellblauen Augen an, als wäre ich ein Alien.
Es waren wahrscheinlich nur Sekunden aber es fühlte sich an wie Stunden, als ich da auf dem Boden kniete und dem kleinen Jungen in das Blutverschmierte Gesicht starrte, während mir immer schlechter wurde. Nein, ich wäre wirklich keine gute Ärztin geworden. Tanja stürmte wieder in den Raum und öffnete den Verbandskasten, um alle Sachen für einen Druckverband heraus zu holen. Da realisierten die anderen kleinen Kinder plötzlich, wie ernst die Lage war und allesamt fingen an lautstark zu weinen. Tanjas Hände zitterten ebenfalls, deshalb ergriff ich die Initiative und half einen ordentlichen Verband anzulegen. (…)
Die Lage beruhigte sich, als wir den Verband angelegt hatten und der Notarzt kam. Kurz darauf kam auch die mehr als besorgte Mutter in den Raum und ich stellte mich benommen in den Türrahmen. Alles kam mir nur noch verschwommen und gedämpft vor. Der Arzt sah das Kind an und wandte sich direkt an Tanja. „Wer hat den Verband denn so perfekt gemacht?“, wollte er anerkennend wissen. „Das Meiste hat Haylie da drüben gemacht. Sie war sehr gut“, sagte sie immer noch mit zittriger Stimme. Der Arzt drehte sich zu mir um und nickte mir zu. „Gute Arbeit!“ Tanja lächelte mich ebenfalls an. „Geh ruhig ins Bad und wasch dir die Hände“, meinte sie dann. Irritiert starrte ich auf meine Hände, die Blutverschmiert waren und auch zitterten. Wie in Zeitlupe entfernte ich mich von dem Raum und taumelte durch den langen Flur, in Richtung Badezimmer. Dort stellte ich mich ans Waschbecken und hielt meine Hände unter Wasser. Das Blut ließ sich etwas schwerer entfernen, weshalb ich schrubben musste. Und während ich dies tat, tauchten schreckliche Bilder in meinem Kopf auf. Von einer riesigen Blutlache, in der meine einst beste Freundin Zeynep lag. Sie wurde immer blasser und blasser, während sie immer mehr Blut verlor. Ihre dunklen Augen wurden ganz grau, als sie meinen Blick suchten. Ihr wich das Leben aus dem Körper und ich konnte nicht helfen. Nur daneben knien und mir dieses Bild einprägen.
Ich schaute in den Spiegel und bemerkte, dass mein Mascara verschmiert war. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich geweint hatte. Meine Augäpfel liefen rot an und meine braunen Augen wurden plötzlich schwarz, bis ich aussah, wie ein Monster. Ruckartig entfernte ich mich von dem Spiegel, bis mir auf einmal speiübel wurde. Ich kniete mich neben die Toilette und erbrach mich. (…)
Nachmittags versuchte ich mich zusammen zu reißen, als ich zu Marvin fuhr. Seine Familie war schon dort, als ich eintraf. Super, ich hasste es, die Letzte zu sein.
Wir setzten uns direkt an den großen Wohnzimmertisch, den seine Mutter schön dekoriert hatte. Wir aßen Kuchen und alle unterhielten sich. Ich gab mir Mühe den Gesprächen zu folgen und zu lachen, wenn es angemessen war. Die ganze Zeit ignorierte ich den dicken Kloß im Hals und die stechenden Magenschmerzen. Ich aß, lachte und sprach, wie ein normaler Mensch. Das hoffte ich zumindest. Mir wurde immer mehr bewusst, dass Marvins Familie zu den eher glücklicheren Familien zählte und was ich all die Jahre nicht hatte und auch niemals haben würde. Bilder von meiner eigenen Familie tauchten auf und es brach mir jedes Mal das Herz, dass wir so ein schlechtes Verhältnis hatten.
Der Nachmittag verging schleichend und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als in einem dunklen Zimmer zu kauern und zu heulen. Bis plötzlich Marvins älterer Bruder ein Thema ansprach, welches das Fass zum überlaufen brachte. „Marvin, wir planen dann noch das geschenkte Wochenende, ne?“ Verwirrt sah ich erst zum Bruder, der seine Schokotorte aß, dann zu Marvin, der mich auch ansah. „Was für ein Wochenende?“, flüsterte ich mit rauer Stimme. Oh nein, ich war kurz davor den Tisch umzuschmeißen. „Ein Wochenende mit meinen Brüdern in der Großstadt. Ein bisschen Spaß und Party und sowas alles…keine Ahnung“, antwortete er mir leise und zuckte mit den Schultern. „Alles klar“, sagte ich knapp und starrte auf meinen leeren Kuchenteller. Alle unterhielten sich fröhlich weiter, doch in mir drin brodelte es. Schon wieder tauchten Bilder auf. Bilder von Kürsad, wie er einfach mit irgendwelchen Tussen rumgemacht hatte, während wir noch zusammen waren. Er hatte sich gerne leicht bekleidete Mädchen angeschaut, wenn wir Beide feiern gewesen waren. Dann kamen Bilder von Eric, wie er mich hinter meinem Rücken auf Partys betrogen hatte. Bilder von Noah, wie er damals Mädchen abgeschleppt hatte…und das auf Partys. Nein! Keine Partys mehr! Kein Betrug mehr! Wie auf Kommando brannten die Tränen in meinen Augen und eine Stimme flüsterte in mein Ohr. „Betrüger, Betrüger…Betrüger!“
Ich stand auf und ging schnell auf die Treppen zu, die mich zum Badezimmer brachten. Ich wollte allein sein und all diese Menschen nicht mehr sehen. Die Menschen, die mir vor Augen waren und die Menschen, die mir bis in meine Gedanken folgten, um mir jedes glückliche Leben auszusaugen. Im Badezimmer schloss ich mich ein, lehnte mich gegen die Tür und weinte. Innerlich betete ich, es möge einfach aufhören. (…)
Die Nacht träumte ich von vielen Leichen. Menschen, die ich kannte und liebte lagen auf einer blutgetränkten Wiese. Und obwohl ich wusste, dass dies nur ein Traum war hatte ich Angst. Sollte das mein Leben sein? Geprägt von schrecklichen Bildern? Mit nackten Füßen und in meinem Sternchen-Pyjama stapfte ich durch die Totenlandschaft.
„Menschen sind so vergänglich. Du willst doch nicht auch so vergänglich sein“, sprach eine finstere Stimme und es schien aus dem grauen Himmel über mir zu kommen. „Die, die an Gott glauben sind nicht vergänglich. Die sind Ewig“, stellte ich mit ernster Stimme fest. Währenddessen versuchte ich, nicht direkt in die toten Gesichter zu gucken.
„Ist das fair? Die, die du liebst glauben nicht an Gott. Sie sind vergänglich. Dein Gott ist nicht so barmherzig, wie du denkst. Er wird deinen Lieben keine Ewigkeit schenken“, redete die Stimme auf mich ein. „Er wird dir keine Ewigkeit schenken.“ Ich begann etwas schneller zu laufen, denn ich wollte runter von dieser Wiese. „Ich glaube an Gott“, bemerkte ich knapp, während meine Füße sich einen Weg bahnten. „Aber du gehörst zu mir. Du Kind, welches im Leid geboren wurde. Welches aus Hass entstand“, die Stimme wurde lauter.
Ich stolperte über etwas und fiel auf die Wiese. Als ich nach vorne Blickte, konnte ich es nicht vermeiden in ein totes Gesicht zu sehen: in meins.