Freitag, 21. April 2017
Die Hölle auf Erden
Wenn der Arzt einen „unbedingt sprechen muss“ kann man sicher sein, dass es nicht um das letzte Fußballspiel geht. Sobald mir die Sprechstundenhilfe diese Botschaft überbracht hatte, nickte ich wissend und nahm auf einem Stuhl im Wartebereich platz. Der alte Plastikstuhl knackste laut, als ich es mir gemütlich machen wollte. Ich beschloss sofort, dass ich mich während der gesamten Wartezeit nicht bewegen würde, damit mich die anderen Patienten in dem Raum nicht mehr so anstarrten.
Da war ich wieder, in einem Wartezimmer beim Arzt. Es gab eine Zeit der Hoffnung, als ich dachte ich könnte es schaffen gesund zu bleiben. Wie naiv von mir.
Ich starrte auf meine neuen Turnschuhe und musste an diese Zeit der Hoffnung denken. (…)
Es war ein sommerlicher Freitagabend, als ich vor dem Supermarkt auf Jonah wartete. Er war grade dabei Getränke und Knabberzeug zu beschaffen und ich genoss die letzten Sonnenstrahlen, bevor es dunkel werden würde.
Bis ich mich umdrehte, weil Jonah mit einer vollen Tüte aus dem Laden kam. „Die Welt geht vor die Hunde“, jammerte Jonah und stopfte die Tüte in seinen Rucksack. „Wieso?“, hakte ich belustigt nach. Er baute sich übertrieben vor mich auf. „Hat die mich tatsächlich nach meinem Ausweis gefragt…mich! Hallo?“, er tat so, als wäre er empört. „Sehe ich aus, wie ein pickliger Teenager?“ Ich ging einige Schritte zurück und musterte ihn mich hochgezogenen Augenbrauen. Er trug ein rot-weißes Shirt, schwarze Shorts und Turnschuhe, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Seine Gesichtsform ähnelte der von seinem Cousin Noah. Sehr maskulin. Nur seine braunen Haare waren heller und kürzer, als die seines Cousins. Nein, er sah nicht so aus. „Es geht“, scherzte ich. „Aber vielleicht wollte die Dame nur deine Adresse wissen, damit sie dich in Zukunft stalken kann.“ Jonah fing an zu grinsen und boxte mich spielerisch gegen die Schulter. „Gut gerettet.“
Ich nahm seinen Rucksack auf meinen Rücken und setzte mich auf den Gepäckträger seines Fahrrads. Mit Jonah am „Steuer“ fühlte ich mich zwar nicht wirklich sicher aber was hatte ich schon zu verlieren? (…)
„Vertraust du mir?“, fragte Jonah mich lachend. Zögernd warf ich einen Blick über seine Schulter. Das Fahrrad musste also einen steilen Hügel runter…kein Problem. Wir befanden uns in einem großen Park, nicht weit von hier warteten unsere Freunde auf uns. Die Sonne verabschiedete sich und warf orangenes Licht auf uns. „Hab ich eine Wahl?“, stellte ich eine Gegenfrage. „Nicht wirklich“, antwortete er. Man konnte sein Grinsen förmlich hören. Da begannen wir zu rollen. Ich schloss meine Augen und betete gen Himmel Jonah würde nicht irgendwelche Stunts versuchen.
Doch es dauerte nicht lange und wir wurden langsamer und der Fahrtwind ließ spürbar nach.
„Da seid ihr ja endlich!“, hörte ich Zeynep rufen. Ich öffnete meine Augen und sah den Platz, den sich meine Freunde für das Lagerfeuer ausgesucht hatten. Es war direkt am See, auf einer schönen Wiese und die Bäume sahen traumhaft aus. Wie ein Sommergemälde, nur viel schöner, weil es echt war. Zeynep, Dana und Noah waren grade dabei alles aufzubauen. Der Steinkreis für das Lagerfeuer war schon fertig und auch Holz lag schon bereit.
Jonah und ich stiegen vom Fahrrad und brachten den Rucksack mit den Lebensmitteln zu den Sachen, die die anderen mitgebracht hatten. (…)
Die Sonne war bereits untergegangen, als das Lagerfeuer knisterte und wir im Kreis auf der Wiese saßen. Wir unterhielten uns über alles Mögliche, tranken und aßen frisch geröstete Marshmallows. Der Nachthimmel war klar, weshalb man freie Sicht auf die Sterne hatte und auf den Mond, der aussah, wie ein abgeschnittener Fingernagel. „Oh wartet!“, rief Zeynep plötzlich aus und sprang auf. Sie ging zu ihrem Rucksack und kramte eine Tüte mit rohem Teig heraus. „Ich habe noch Stockbrot.“ Dana und ich warfen uns skeptische Blicke zu. Die Pampe in dem Beutel sah nicht wirklich vielversprechend aus. Zeynep warf ihr pechschwarzes Haar zurück und drückte einen Klumpen ihres Teigs auf ihren Stock. Anschließend hielt sie es über die Flamme. Jonah und Noah hatten sich die ganze Zeit über irgendeinen Onkel aus Amerika unterhalten aber wurden nun still, als sie sahen was Zeynep veranstaltete. Der Teigklumpen war grade dabei nach unten zu tropfen. „Da stimmt irgendwas nicht“, murmelte Zeynep konzentriert. „Da stimmt eine Menge nicht“, pflichtete ich ihr bei und grinste. „Dein Brot tropft.“ Dana fing an zu lachen und die Jungs stimmten mit ein. „So, ich hole mir noch ein Bier“, meinte Jonah und stand auf. Als er bei den Rucksäcken kniete, schien er etwas zu suchen. „Wo ist denn der Flaschenöffner?“ In dem Moment fuhr Noahs Kopf direkt zu mir und ich wusste sofort, was er sagen wollte. „Na los, sag schon!“, kam ich ihm zuvor. „Hau deinen Spruch raus!“ Noahs Grinsen wurde breiter. „Du brauchst keinen Flaschenöffner. Frag einfach Haylie, ob sie die Flaschen mit ihrem Drahtgesicht öffnet“, prustete er los. Und obwohl das überhaupt nicht lustig war und er sich seine Sprüche über meine Zahnspange echt hätte sparen können, musste ich mit lachen.
„Damit hast du den Preis gewonnen! Du bist der größte Arsch des Abends!“, gab ich bekannt und zeigte ihm meinen Mittelfinger. Alle fingen an zu lachen.
Nur Dana schaute mich jetzt mit ihren besorgten, grünen Augen an. „Haylie? Haylie…du bist dran!“, sagte sie mit einer fremden Stimme. (…)
Ich war wieder im Wartezimmer und der Tagtraum war vorbei. Die Sprechstundenhilfe schaute aus ihrem kleinen Fenster und rief erneut meinen Namen. Überrumpelt von meinen Gedanken stand ich auf und ging auf das Arztzimmer zu.
Dort setzte ich mich auf den freien Lederstuhl und wartete einige Sekunden, bis mein Arzt den Raum betrat. Er würde bald in Rente gehen und dann würde meine Krankheitsgeschichte nur eine trübe Erinnerung werden. Es würde keine Lebensaufgabe mehr sein mir zu helfen. Ein schönes Leben wartete auf meinen Arzt.
Er begrüßte mich ernst und setzte sich an seinen Computer, an dem er wahrscheinlich meine Blutergebnisse ablas. Mit besorgter Miene fing er an mich zu mustern. „…Wie lange?“, wollte ich direkt wissen. „Wie lange was?“, hakte er überrascht nach. „Werde ich einen Krankenschein bekommen? Ich sehe es an ihrer Miene und ich kann mir denken, dass meine Blutergebnisse schlecht sind. Ich fühle mich auch schlecht“, stellte ich trocken fest. Der Arzt faltete seine Finger ineinander und suchte meinen Blick. „Ich habe dir gesagt, dass dein Körper mit diesem Beruf überfordert sein wird. Du kannst sogar eine normale Erkältung kaum verarbeiten und ich sagte dir bereits, dass ich es mir nicht erklären kann. Du hättest in Kur fahren sollen oder einen anderen Weg wählen sollen. Dieser Weg wird dich direkt ins Krankenhaus befördern, wenn du nicht aufpasst“, ermahnte mich mein Arzt mit ernster Stimme. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und lehnte mich nach hinten. „Ich kann das schaffen, wenn ich mich zusammenreiße“, sagte ich, mehr zu mir selbst, als zu ihm.
„Hast du denn noch diese Depressionsanfälle? Wie wird es dir gehen, wenn du jetzt zu Hause bleiben musst?“, fragte er weiter. Plötzlich merkte ich wie meine Augen nass wurden. Doch ich unterdrückte den Kloß, der sich in meiner Kehle bildete. „Ganz ehrlich? Es gibt für mich nichts schlimmeres, als mit mir allein zu sein. Aber ich möchte wenigstens die Chance kriegen, das in den Griff zu bekommen.“
Der Arzt nickte verständnisvoll und wir sprachen noch etwas. Innerlich wusste ich aber, dass die nächsten Wochen die Hölle auf Erden sein würden.