Sonntag, 15. Mai 2016
Ablenkung
Ich sollte nicht hier sein aber ich war es. Während ich an dem Küchentisch lehnte und meine Arme verschränkte, öffnete Marvin den Kühlschrank und suchte etwas. Kurze Zeit später stellte er eine laktosefreie Milch auf den Tisch. Anschließend kramte er einen Mixer und eine Packung Kekse hervor. Mir war sofort klar, was er machen wollte. „Du hast mir mal erzählt, wie sehr du Oreo-Shakes magst. Ich hoffe die Milch ist gut, weil du ja diese Allergie hast…“, erzählte er vor sich hin. Ja, die Milch war gut aber diese Situation nicht. Damals hatten wir mehrere Chancen gehabt, eine Beziehung zu führen. Aber die Drogen waren ihm wichtiger gewesen und jetzt ist es zu spät. Als er mich anrief, wollte ich erst nicht dran gehen…aber diese verdammte Neugier. Sie brachte mich dazu Dinge zu tun, die eigentlich dumm waren. Wie er vor mir stand, in seiner kleinen Küche. Er trug das schwarz-rote Oberteil, welches wir zusammen gekauft hatten. Ich konnte immer noch nicht sagen, ob seine Haare jetzt dunkelblond oder hellbraun waren. Doch ich tippte eher auf das Blond. Seine Augen besaßen eine faszinierende Mischung aus grün, blau und grau. Ohne weiter auf eine Antwort von mir zu warten, schmiss er alle Zutaten in den Mixer. Während er dies tat, fummelte ich nervös an den Ärmeln meiner schwarzen Strickjacke herum. Wie immer tat ich etwas, wovon ich keine Ahnung hatte, welche Auswirkungen es auf mich haben könnte. Nachdem der Mixer fertig war, goss Marvin die Flüssigkeit in zwei Gläser und reichte mir eins. „Ich muss dir was erklären“, fing er an. In dem Moment kam seine Mutter in die Küche. Na super…
„Wow, da hat der Marvin sich ja echt Mühe gegeben“, staunte sie über ihren Sohn, als sie die Shakes sah. „Also sowas macht er nicht für alle Mädchen. Das muss Liebe sein.“ Die Mutter sah mich mit ihren großen, blauen Augen an, als erwartete sie eine Zustimmung von mir. Liebe? Diese Aktion war doch noch lange kein Liebesbeweis. Es war klar, dass die Mutter ihrem Sohn nur helfen wollte aber es brachte das Gegenteil. Augenblicklich fühlte ich mich in die Enge getrieben. „Mama…“, jammerte Marvin genervt und deutete ihr, aus der Küche zu gehen. Die Mutter beäugte mich seltsam und verschwand aus dem Raum. Ich wollte nicht unhöflich sein aber was sollte man zu so einer Aussage sagen? „Wieso sollte ich hier hin kommen?“, fragte ich, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte. Der Shake war gar nicht so schlecht. Dennoch rührte Marvin seinen gar nicht erst an. „Meine Mutter hat Recht…ich liebe dich. Hör zu, ich bin sehr schlecht mit dir umgegangen. Die Drogen…haben mich vollkommen verändert. Wirklich, so war ich vorher nicht!“, beteuerte er und holte Luft. „Ich werde damit aufhören und mich bessern. Ich verspreche es dir. Du machst, dass ich mich ändern möchte. Du machst mich zu einem besseren Menschen.“ Jetzt war es an mir Luft zu holen. Ich kannte diesen Satz aus einen meiner Lieblingsromane. Entweder hatte er denselben Roman gelesen und versuchte mich mit diesem Satz zu ködern oder es war purer Zufall. Ein Spiel des Schicksals. Ich stellte das Glas auf den Tisch und warf ihm einen ernsten Blick zu. „Das mit den Drogen ist deine Entscheidung. Wenn du weiter machen möchtest, mach es. Wenn nicht, lass es bleiben. Aber wegen mir musst du dir keine Gedanken machen“, bemerkte ich entschlossen. „Du musst wegen mir auch kein besserer Mensch werden. Wenn du einer werden willst, dann wegen dir! Ich bin selbst kein guter Mensch.“ Keiner sollte sich an mir orientieren. Dabei fühlte ich mich nicht gut. Es bedeutete zu viel Verantwortung für mich. „Du verstehst das nicht…“, unterbrach er mich. Er wollte meine Hand nehmen aber ich zog sie weg. „Die anderen Mädchen hätten nie das geschafft, was du geschafft hast! Du hast mich dazu gebracht nachzudenken. Ich möchte es für mich tun…mich ändern. Aber du hast mich dazu gebracht. Wie ein Engel.“ Plötzlich fand ich mich selbst in einem Roman wieder. Nur leider war ich das Arschloch in dieser Geschichte. Verwirrt und versunken in einem Gefühlschaos. Die Schmerzen, die mich wiedermal seit Tagen quälten, tauchten auf. Es waren starke Schmerzen im Unterleibbereich, die für mich nicht gewöhnlich waren. Deshalb hatte ich in einer Stunde einen Termin beim Arzt gemacht. Nicht nur deshalb wollte ich das Haus schnell verlassen…die Sache spitzte sich zu. „Du kannst von einem Menschen nicht verlangen dein emotionaler Spielball zu sein. Du hast mich echt verletzt“, gestand ich. Das sagte grade die Richtige, benutzte doch ich die meisten Menschen in meiner Umgebung. Ich war die Meisterin in diesem Spiel.

Als Frau waren Unterleibschmerzen nichts Ungewöhnliches aber mit dieser Diagnose hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich saß im Auto und zitterte noch am ganzen Körper. Vielleicht würde ich niemals eine Familie gründen können…
Eigentlich sollte ich Noah anrufen und mit ihm darüber sprechen aber ich konnte es nicht. Deshalb tippte ich eine Nachricht an Enrico: >>Ich hab Lust auf einen Nachtisch…<< Ich saß solange im Auto, bis eine Antwort kam. Es dauerte etwa zehn Minuten. >>Aufgrund deines Freundes gehe ich davon aus, dass du das Essen meinst. Und aufgrund der vielen Punkte denke ich, dass es dir nicht gut geht. Komm vorbei und ich zauber dir etwas! :-D<< Etwas Süßes konnte jetzt nicht schaden. Das Restaurant war zwar eine Stunde Autofahrt entfernt aber ich brauchte die Straße, einfach um einen freien Kopf zu kriegen.

Enrico hielt, was er mir versprochen hatte. Ich bekam warme Brownies mit Vanilleeis serviert. Wir saßen in der hintersten Ecke des Restaurants. Er trug diesmal nicht seine Uniform, sondern ein normales rotes Oberteil und eine Jeans. „Ich hab heute eigentlich frei aber für dich hab ich eine Ausnahme gemacht. Schließlich hab ich doch angeboten, dir einen Nachtisch zu servieren“, stellte Enrico fest, während ich aß. Es schmeckte wahnsinnig lecker. „Willst du mir jetzt erzählen, was los ist?“ Wieso eigentlich nicht? Ich mochte Enrico und brauchte jemanden zum reden. Also erzählte ich eine Kurzversion meiner Lebensgeschichte und von meinem Arztbesuch. Er hörte aufmerksam zu und nickte zwischendurch immer mal wieder. Am Ende herrschte kurze Stille. „Aber das war doch noch keine End-Diagnose. Es ist noch alles möglich. Mach dir da erst einmal keinen Kopf, denn du hast schon genug Sorgen“, kommentierte er meinen Arztbesuch nachdenklich. „Und was die anderen Sachen angeht…ich denke, jeder Satz wäre jetzt bedeutungslos im Vergleich dessen, welche Bedeutung die Ereignisse für dich haben.“ Beinahe hätte ich mich an meinem Brownie verschluckt. Ehrlich gesagt war ich ziemlich überrascht. Jeder Mensch reagierte anders auf meine Lebensgeschichte. Doch diese Reaktion war echt klasse, denn weder verurteilte er mich, noch versuchte er mich mit öden Sätzen zu trösten. „Ich find´s echt cool, dass wir uns kennengelernt haben“, gab ich zu und lächelte. „Ich erst! Du bist interessant. Sehr sogar“, bemerkte er und lächelte ebenfalls. „Aber eine Frage habe ich noch…wieso bist du mit deinen Problemen grade nicht zu deinem Freund gegangen?“ Das war eine gute Frage…aber ich kannte die Antwort. „Soll ich ehrlich sein? Auch wenn die Wahrheit beinhaltet, dass ich vielleicht einen Knall habe?“ Enrico nickte bestimmt, also sprach ich weiter. „Noah kennt meine Probleme. Unsere ganze Beziehung ist das Resultat aus vielen Problemen, die uns zusammengeführt haben. Deshalb hat es auch so lange gedauert, bis wir zusammen gekommen sind. Wenn man jeden Tag Pech hat und eine Person kennen lernt, dann erkennt man das Glück darin entweder gar nicht oder erst spät. Wie du sagtest, es ist keine End-Diagnose. Es kann sein aber es ist noch nicht. Ich will das kleine Stück Glück nicht kaputt machen, welches wir uns aufgebaut haben“, erklärte ich. „Außerdem…ich finde es interessant.“ Enrico sah mich fragend an. „Was findest du interessant?“ Ich legte meinen Kopf schief und schaute ihm tief in die Augen. „Ich finde die Reaktionen interessant, wenn ich einer fremden Person meine Lebensgeschichte erzähle. Jeder Mensch reagiert darauf anders. Und ich liebe es Menschen zu analysieren und sie zu beobachten. Es hört sich krank an aber es ist spannend.“ Da war sie wieder: Die coole Reaktion von Enrico. In seinem Gesicht bildete sich ein breites Grinsen. „Das wird echt ne coole Freundschaft“, sagte er entschlossen.

Nachdem ich aufgegessen hatte, gingen wir raus, um spazieren zu gehen. Die Landluft roch herrlich nach frischen Blumen, während die Sonne unterging und es etwas kälter wurde. Enrico und ich unterhielten uns noch lange über dies und jenes. Es machte mir Spaß mehr Dinge über ihn zu erfahren, so wurde ich wieder gut abgelenkt. Und Ablenkung war eine meiner Konstanten, die mich am Leben erhielten.

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