Samstag, 16. Juli 2016
Abwarten
Noah:
Am Anfang habe ich versucht ihr aus dem Weg zu gehen. Ich wollte einfach nicht mit meiner Mitschuld konfrontiert werden. Doch im Laufe der Zeit konnte ich es nicht mehr. Ich konnte ihr nicht mehr aus dem Weg gehen, weil ich ihre Nähe so sehr brauchte. (…)
Es war Mittag und ich wollte ins Badezimmer laufen, um mich für ein Date fertig zu machen. Zu der Zeit hatte ich viele Dates, unbedeutend und langweilig. Als ich die Türe erreichte, stieß ich gegen Haylie, meine Honey, die ihre Klamotten auf ihren Armen balancierte. Sie trug einen hellblauen Pyjama von Zeynep. Wie ich Zeynep kannte, schlief sie noch. „Ich würde sagen, Ladys First“, sagte Haylie belustigt und deutete auf die Badezimmertüre. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und zog eine Augenbraue hoch. „Ach ja?“ Sie biss sich auf ihre Unterlippe, die sie danach nach vorne schob, um einen Schmollmund zu machen. Ihre brauen Reh-Augen wurden so groß, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte. Wahrscheinlich wusste sie, wie die Männer auf ihr Schmollgesicht reagierten. Vielleicht wusste sie auch, welche Wirkung sie auf mich hatte. Haylie umklammerte ihre Klamotten und wartete, dass ich sie zuerst ins Bad ließ. „Ich habe ein Date und bin echt spät dran“, bemerkte ich. Verwundert rückte sie etwas zurück. „Oh, na dann. Geh du zuerst“, gab sie nach und wollte zurück zu Zeynep. Ich konnte ihr nichts ausschlagen. Missmutig rief ich sie zurück. „Geh du rein. Ich mache mich im Zimmer fertig.“ Sie drehte sich um, lächelte dankbar und ging anschließend ins Bad. Nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, wollte ich kehrt machen und in mein Zimmer gehen. Doch dann hörte ich, wie Haylie anfing zu singen.
Ich kannte das Lied nicht aber es hörte sich beruhigend an. Ihre zarte Stimme drang in mein Ohr. Leise lehnte ich mich gegen die Türe und lauschte ihrem Gesang. Nach einigen Minuten setzte ich mich auf den Boden und schloss die Augen. Mir wurde egal, was aus meinem Date werden würde. Ich wollte einfach dort sitzen und sie singen hören. (…)
Als die Türe aufging, machte ich mir nicht die Mühe aufzuspringen. Haylie trat in den Flur und blieb abrupt stehen, als sie mich dort sitzen sah. „Wolltest du dich nicht im Zimmer fertig machen?“, fragte sie und wurde schlagartig rot. Sie wusste, dass ich sie singen gehört hatte. Jetzt trug sie eine enge, dunkelblaue Jeans und ein Shirt, auf dem der Schauspieler *Will Smith* abgebildet war. Ihre brünetten Haare besaßen noch einen leichten Rot-Stich. Sie waren grade so lang, dass sie sich einen kleinen Zopf binden konnte. „Das war, bevor ich dich singen gehört habe“, gab ich offen zu und lächelte sie an. Dabei sah ich ihr intensiv in die Augen. Ich wusste, dass es sie nervös machte.
„Jetzt hast du Kopfschmerzen?“, fragte sie kichernd. Als Antwort, schüttelte ich leicht mit meinem Kopf. Sie setzte sich langsam in Bewegung und wollte in Zeyneps Zimmer. Plötzlich bekam ich ein komisches Gefühl, denn ich wollte nicht, dass sie ging. Schnell versuchte ich einen Vorwand zu finden, damit wir den Tag zusammen verbringen konnten. Mir fiel ein, wie gerne Haylie Bücher las. Und ich musste sowieso Bücher holen, weil ich endlich was für mein Studium machen wollte. „Kommst du mit in die Bücherei?“, fragte ich und stand auf. Sie hielt inne und sah mich skeptisch an. „Mit dir?“, hakte sie nach. „Ja, wieso nicht? Ich muss dahin und du stehst doch total auf Bücher“, stellte ich fest. „Ist das eine Falle?“, wollte sie misstrauisch wissen. Man, Kürsad hatte echt ein falsches Licht auf mich geworfen. „Finde es heraus.“ (…)
Im Auto rutschte Haylie zunächst unsicher auf dem Beifahrersitz herum. Zum einen, weil ich ihr wahrscheinlich zu schnell fuhr und zum anderen, weil ich ihr nicht geheuer war. An einer roten Ampel kramte ich eine Zigarette heraus und steckte sie in meinen Mund. Grade, als ich ein Feuerzeug suchte, bemerkte ich ihren kritischen Blick. „Was denn?“, nuschelte ich. „Das ist ungesund. Außerdem hast du schon genug Mist genommen. Ein Wunder, dass wir alle noch gesund sind…lass es einfach sein“, wies sie mich warnend an. Grinsend nahm ich die Zigarette aus dem Mund und warf sie nach hinten. „Machst du dir Sorgen um mich?“, wollte ich lachend wissen. Haylie schaute aus dem Fenster. „Ich versuche dir nur zu helfen. Menschen brauchen keine Drogen, egal welche“, sagte sie entschieden. Automatisch dachte ich an ihre „Drogen-Zeit“. Sie wusste, wovon sie sprach. Mich wunderte nur, dass sie so schnell aus diesem Sumpf heraus gekommen war. „Sagt die Richtige“, gab ich nachdenklich zurück. Die Straßen waren voll, weshalb ich immer wieder stehen bleiben musste. Ich bemerkte die bohrenden Blicke von Haylie sofort, sah sie aber nicht an. „Ich weiß, dass ich Leichen im Keller habe. Aber ich möchte es wieder gut machen. Es ist nicht leicht, heutzutage ein guter Mensch zu sein und zu bleiben“, meinte sie schroff. Oh man, eigentlich wollte ich mich nicht mit ihr streiten. Also blieb ich leise und fuhr uns auf einen Parkplatz. In der Bücherei würde sich ihre Laune bestimmt wieder bessern. (…)
Die Bücher für mein Studium erwiesen sich als echt langweilig und leider auch dick. Eine halbe Stunde stand ich schon zwischen den Regalen und tat so, als würde ich mich wirklich für den Mist interessieren. Haylie war in eine andere Abteilung gegangen. Langsam fragte ich mich, wo sie war. Also ging ich durch die verschiedenen Abteilungen, bis ich sie an einem Tisch sitzen sah, mit einem Buch vor sich. Natürlich konnte sie nicht abwarten und musste sofort lesen. Typisch.
Als ich näher heran kam, sah ich, welches Buch da vor ihr lag. Eine Bibel? Verwundert lehnte ich mich gegen den Tisch. „Kürsad hat gesagt, dass du an nichts glaubst“, meldete ich mich zu Wort. Sie schaute weiter auf das Buch, als sie sprach. „Kürsad hat auch gesagt, dass ich eine Schlampe wäre“, sagte sie trocken. Kürsad war eben ein Arschloch. Mittlerweile bereue ich es, dass ich solange mit ihm befreundet war. „Du bist christlich?“ Ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber von ihr und suchte ihren Blick. Seufzend hörte sie auf zu lesen und sah mich genervt an. „Wolltest du nicht was für die Uni suchen?“ Es ärgerte mich, wie sehr sie mich loswerden wollte. „Meine ganze Familie ist jüdisch“, sprach ich weiter. Auf einmal wirkte sie interessiert und schaute mich neugierig an. „Echt? Du bist aber nicht richtig gläubig, oder?“
„Ich glaube an Gott aber wenn ich ehrlich bin, habe ich mich nie mit meiner Religion beschäftigt“, gestand ich etwas betrübt. Wenn es so gewesen wäre, hätten wir jetzt ein tolles Gespräch führen können. Enttäuscht schloss sie die Bibel. „Schade. Ich bin römisch-katholisch. Egal, was dir Kürsad erzählt hat.“ Mein Handy klingelte. Auf dem Display war „Julia“ zu sehen. Das war das Mädchen, mit welcher ich ursprünglich ein Date gehabt hatte. Ich drückte sie weg, denn sie bedeutete mir nichts. (…)
Haylie war wie ein Buch. Ein Buch, welches ich wirklich zu Ende lesen wollte. Doch sie entfernte sich immer wieder von mir, was mich verrückt machte. Ich gab nicht auf und gab ihr zu verstehen, dass ich auf sie warten würde, bis sie endlich erkannte, wer gut für sie war und wer sie zurück in die Dunkelheit zog.

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