Samstag, 13. Februar 2016
Aus Prinzip
Mein Herz pochte bis zum Hals, als ich die große Eisenbahnbrücke sah. Es war hoch, zu hoch und unter der Brücke erstreckte sich ein tiefer Fluss.
Ich wusste nicht, wie spät es ist. Vielleicht zwei Uhr Morgens...und ich wusste auch nicht, wie lange ich schon gelaufen war aber das Adrenalin spornte mich an.
Ich ging auf die Brücke zu, der Wind stieß mich nach hinten und ich merkte, wie hoch ich schon war. Diese verdammte Höhenangst! Meine Beine funktionierten schlagartig nicht mehr und mir wurde kotzübel.
Da sah ich Dana, wie sie sich nach vorne lehnte. Sie stand am Rand der Brücke und war schon über das Geländer geklettert. Scheiße! Ich musste versuchen weiter zu gehen. Meine Ängste waren jetzt nicht mehr wichtig. Ich hielt mich am Geländer fest und zog mich Stück für Stück zu ihr.
Ich hatte das Gefühl, gleich an einem Herzinfarkt zu sterben, als ich einen Blick auf den Fluss unter uns warf. Höhenangst war ja schon suboptimal und ich konnte nicht mal schwimmen! Ich war definitiv fehl am Platz.
Ich atmete auf, als ich Dana endlich erreicht hatte.
Es schien noch kälter zu sein, als vorher schon.
Dana drehte den Kopf zu mir und sah mich mit großen Augen an. "Du frierst gleich ein", bemerkte sie, während sie mich musterte. Ich folgte ihrem Blick. Mit Boxershorts und einem dünnen Top war man wirklich nicht perfekt gekleidet aber als ich hörte, was Dana vor hatte, blieb keine Zeit mehr sich umzuziehen.
"Es ist so scheiße alleine zu sein! Einsamkeit bringt einen um, bevor man es schließlich selber tut", flüsterte Dana schmerzerfüllt und mein Magen zog sich zusammen. Ich wusste, wovon sie sprach. Doch nicht, was ich dazu sagen sollte. "Du bist ja nicht alleine, weil du echt gute Freunde hast und eine davon kriegt gleich einen Herzinfarkt", sagte ich halb im Scherz und halb weil ich es wirklich befürchtete.
"Was machst du überhaupt hier oben? Du hast doch krasse Höhenangst. Geh, bevor du was siehst, was du echt nicht verkraftest." Dana wollte mich los werden aber nicht mit mir! "Ich hänge jetzt in der Scheiße mit drin, also kann ich nicht einfach verschwinden. Das weißt du", stellte ich ernst fest.

Es schien, als würden Stunden vergehen während wir schwiegen. Dana schaukelte hin und her. Mein Herz setzte jedes Mal einen Schlag aus, wenn sie sich nach vorne lehnte. Ich musste etwas sagen, irgendetwas. Also griff ich nach dem letzten Strohhalm. "Kennst du Hiob?", fragte ich nervös und wusste selbst nicht, wieso ich jetzt dieses Thema wählte. Sie hörte auf sich zu bewegen und starrte mich verwundert an. Dann begann sie zu lachen. "Fängst du jetzt an, von der Bibel zu erzählen?", fragte Dana und musste weiter kichern.
Ich beachtete es nicht und erzählte weiter: "Hiob hat alles verloren. Seine Familie wurde krank und dann starben sie...auch Hiob wurde krank. Doch er gab nicht auf und hielt an seinem Glauben fest. Gott belohnte ihn dafür mit Glück. Es wurde alles gut."
Dana hörte auf zu lachen und sah mich plötzlich ernst an. "Du glaubst doch nicht an diesen Mist", sagte sie nachdenklich. "Ich denke, es kann nicht schaden an etwas zu glauben. Gott möchte ganz sicher nicht, dass du springst. Eine Freundin sagte einmal zu mir, das Leben wäre wie ein Trailer. Nenne es wie du willst...Vorbereitung, Test. Gott gibt uns keinen Test, der zu schwer für uns ist...und ich weiß nicht, wieso ich das alles hier sage...es fühlt sich richtig an. Manchmal wünschte ich, unsere Tests wären leichter aber vielleicht sollte man einfach mal lernen, anstatt direkt aufzugeben." Ich holte verzweifelt Luft und sah Dana tief in ihre Augen. Irgendetwas an ihrem Blick hatte sich verändert. "Das sagt das Mädchen, dass vor wenigen Wochen noch auf der Intensivstation im Krankenhaus lag und wiederbelebt werden musste", meinte Dana leise und schaute auf ihre Schuhe. Autsch. Ja, ich wollte mich umbringen aber irgendwie habe ich doch die Kurve gekriegt. Ehrlich gesagt, wollte ich auch nicht darüber nachdenken.
"Und jetzt stehe ich hier und lebe. Vielleicht sind wir deshalb befreundet, um uns gegenseitig am Leben zu erhalten. Solange dein Herz schlägt, schlägt meins", stellte ich entschlossen fest und ich wusste, damit hatte ich gewonnen. Dana kletterte wieder über das Geländer und schloss mich in ihre Arme.

Ich nahm sie mit zu mir nach Hause und machte uns heiße Schokolade. Wir kuschelten uns unter die Decke und sahen uns die zweite Staffel von "The walking Dead" an. Dabei diskutierten wir darüber, welcher Seriencharakter am besten war. "Ich kann nicht fassen, dass du Shane besser findest, als Rick!", rief Dana lachend aus und schüttelte den Kopf. "Ich habe nie gesagt, das ich ihn besser finde! Aber Shane trifft immer gute Entscheidungen, die die Gruppe am Leben erhalten. Außerdem steh ich auf das Auto...ich will das auch haben", erklärte ich und deutete lachend auf den Hyundai, an dem Shane grade lehnte. "Du hast bald Geburtstag. Wünsch dir das doch...vielleicht hast du ja Glück", schlug Dana grinsend vor. Jetzt musste ich lachen. "Ja, vielleicht habe ich Glück. Dann nenne ich mein Auto Shane und nicht Rick. Aus Prinzip!", sagte ich und hob meine Tasse mit der heißen Schokolade. Dana tat es mir gleich und wiederholte: "Aus Prinzip!"

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