Donnerstag, 15. September 2016
Ausdauer
Meine Füße baumelten in der Luft, während ich mich im Krankenhaus-Bett ausstreckte und auf den täglichen Arztbesuch wartete. Ich fühlte mich nicht nur krank, sondern auch dreckig. Am liebsten hätte ich zu Hause eine ordentliche Dusche genommen und mich anständig angezogen. Stattdessen saß ich im Krankenhaus fest und trug jeden Tag eine Jogginghose und zu große Shirts, die ich mir in der Eile eingepackt hatte. Inständig betete ich, dass ich heute entlassen werden würde. Schließlich musste ich für die Abiturprüfungen lernen. Das Bett neben mir war ausnahmsweise mal leer. Sonst schlief eine ältere Dame dort, die Nierenprobleme hatte und abends mit mir Kreuzworträtsel löste. Wenigstens war ich nicht alleine. Noah saß am Holztisch, welcher gegenüber von meinem Bett, am Fenster stand. Er aß Weintrauben und warf mir ab und zu eine rüber. Zum Glück besuchte er mich oft, denn die Zeit im Krankenhaus verging langsam und mühsam. Ungeduldig kratzte ich mich am Kopf und brachte damit meinen Zopf vermutlich noch mehr durcheinander, als er sowieso schon war. Die Tür wurde geöffnet und der Arzt kam hinein. Ein sympathischer Mann, mittleren Alters, der wirklich alles versuchte, um meine „Krankheit“ zu heilen. Sein Gesicht, auf dem langsam Bartstoppeln wuchsen, wirkte allerdings nicht sehr optimistisch.
Erwartungsvoll starrten Noah und ich den Arzt an, der nachdenklich auf sein Klemmbrett fixiert war. „Ich muss dir jetzt eine Frage stellen, Haylie“, sagte der Arzt ernst und wandte seinen Blick nun mir zu. „Ja?“, machte ich nervös und spielte an dem Laken der Matratze. „Möchtest du dein Abitur fortsetzen oder erst einmal einen klinischen Aufenthalt in Anspruch nehmen? Denn deine Symptome lassen sich nicht behandeln und wir können deine Krankheit nach wie vor nicht benennen. Wenn du den Alltag fortsetzt, dann riskierst du vermutlich dein Leben“, teilte der Arzt mir mit und schluckte schwer. Entsetzt sah ich zu Noah, der mich mitfühlend musterte und mit den Achseln zuckte. Auch er schien ratlos. Jetzt lag es an mir, diese Entscheidung zu treffen. „Ich habe mein Abitur bereits angefangen und wollte es auch zu Ende bringen…gibt es denn nichts? Keine Tabletten oder sonstiges?“, fragte ich verzweifelt. Für einen kurzen Moment zögerte der Arzt, entschied sich dann aber doch die Wahrheit zu sprechen. „Es gibt Tabletten, die könnten dir helfen, die Schmerzen zu vermindern. Allerdings sind diese sehr stark und haben starke Nebenwirkungen“, stellte der Arzt bedenklich fest. Noah stand auf und stellte sich neben mein Bett. „Welche Nebenwirkungen?“, wollte er besorgt wissen. Der Arzt warf einen kurzen Blick auf Noah, sah mir aber bei der Antwort ins Gesicht. „Dein Immunsystem wird schwach. Du wirst anfällig für Krankheiten. Dein Körper verliert an Kondition. Sprich, deine Knochen werden dir schon nach wenigen Schritten weh tun. Du wirst schwer Luft bekommen, beim Sport. Und in der prallen Sonne wird dir schnell schwindelig werden. Dein gesamter Kreislauf kommt durcheinander und du wirst kämpfen müssen, um das durchzustehen. Das kann Jahre dauern.“ Noahs Augen weiteten sich geschockt, genauso wie meine. „Das sind mehr Nebenwirkungen, als es die Schmerzen wert sind“, warf Noah ein. „Gibt es auch positive Aspekte?“, hakte ich nach. „Du kannst zwar wenig laufen aber dafür kannst du laufen. Du wirst nicht mehr ans Bett gefesselt sein, wenn du diese Anfälle hast. Und es besteht die Chance, dass du bald keine Schmerzen mehr haben wirst. Die Kondition kannst du dir später dann wieder antrainieren. Bist du in einem Sportverein?“
„Nein, nur Schulsport“, antwortete ich knapp. „Selbst das wird dir schwer fallen. Ich kann dir eine Beurlaubung schreiben, dann bist du für die nächsten Stunden freigestellt“, bot der Arzt an und schrieb etwas auf sein Klemmbrett. „Nein, keine Extrawürste. Ich nehme diese Tabletten aber stehe das so durch, denn ich bin nicht krank“, sagte ich entschieden. (…)
Wir liefen erst seit zehn Minuten, dennoch versagten meine Beine. Ich fiel auf den feuchten Waldboden und keuchte schmerzerfüllt. Noah kam zurück gelaufen und kniete sich neben mich. „Hey…das waren nicht einmal fünfzehn Minuten und du siehst schon echt fertig aus“, stellte er ernüchternd fest. Er trug eine graue Jogginghose und ein schwarzes Shirt, auf dem nicht einmal ein Hauch von Schweiß zu sehen war. Ich dagegen war schweißgebadet und fühlte mich schrecklich. Meine Knochen brannten bei jedem Schritt, den ich lief. „Schon vergessen?“, hustete ich krampfhaft. „Die Tabletten nehmen mir meine Kondition.“ Noah reichte mir die Hand und zog mich hoch, damit ich wieder stehen konnte. Es fing an, leicht zu regnen. „Machst du Witze? Die Tabletten nehmen dir alles. Es wird Jahre dauern, bis du wieder normale Wege laufen kannst, ohne Probleme zu bekommen. Und du hast nächste Woche diesen Ausdauer-Test in Sport! Du wirst umkippen“, warnte mich Noah. Ich zwang meine Beine sich zu bewegen, damit ich weiter laufen konnte. Noah hastete hinter mir her. „Spinnst du?“, rief er. „Hör auf zu laufen…und am besten, hör auf mit dem Abitur. Deine Seele ist stark, dein Körper nicht mehr.“ Entschlossen blieb ich stehen, wartete bis meine Kehle nicht mehr brannte und funkelte Noah an. „Ich höre nicht auf mit dem Abitur! Und ich höre auch nicht auf zu laufen! Ich habe eine vier in Sport…wie peinlich ist das denn! Ich muss mindestens eine Note besser werden.“ Danach zwang ich mich, weiter zu laufen. Meine Knochen taten höllisch weh, als wären sie aus Glas. Noah packte mich am Oberarm und wirbelte mich herum. „Wem willst du was beweisen?“, fragte er mich irritiert, so als würde er mich überhaupt nicht verstehen. „Irgendwie allen aber vor allem mir selbst. Sehen wir der Tatsache ins Auge: Zur Bundeswehr werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr gehen aber ich werde diesen Ausdauer-Test bestehen.“ Er ließ mich los und nickte. (…)
Und wie lief der Ausdauer-Test? Ich fiel. Spätestens nach zwanzig Minuten gaben meine Beine nach und ich lag auf der Bahn, unfähig mich zu bewegen. Mein Lehrer, der keinerlei Mitleid oder sonstige Gefühle zeigte, schrie mich an, ich solle aufstehen, sonst bekäme ich eine schlechte Note. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich genau auf dem Boden lag. Irgendwann rappelte ich mich auf, biss die Zähne zusammen und lief weiter. Tränen rollten mir über die Wangen, so sehr schmerzte jeder Schritt. Aber am Ende kann ich sagen, ich bin über die Ziellinie gelaufen und habe nicht aufgegeben.

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