Freitag, 22. Juli 2016
Bedrohung
Die Wahrheit möchte keiner hören, weil sie entweder zu unwirklich oder zu verletzend ist. Manchmal auch beides. Wie viele Nächte lag ich wach und habe mir den Kopf zerbrochen, über die Wahrheit meines Lebens. Mittlerweile kannte ich sie selbst nicht mehr. So viele Dinge sind geschehen, so viele Dinge sind schief gelaufen. Irgendwann hörte sich alles an, wie eine billige Lüge. Aber auch ich habe gelogen…und einen hohen Preis dafür bezahlt. (…)
Nachdem ich mich von Kürsad getrennt hatte, dachte ich, es könnte weiter gehen. Ich könnte normal weiter leben und alles hinter mir lassen. Das war meine erste Lüge, die ich mir selbst immer und immer wieder erzählt habe. Es wurde mir bewusst, als ich mit meinem kleinen Bruder einen Spaziergang durch den Park gemacht habe. Die meisten meiner Wunden waren verheilt, allerdings konnte man sie noch erahnen. Mein kleiner Bruder war gerademal knapp ein Jahr alt. Ich schob ihm im Kinderwagen vor mir her. Bald darauf schlief er tief und fest. Die Sonne schien, es war aber nicht sonderlich warm. Manchmal blies mir ein kühler Wind ins Gesicht, was typisch war, für den Herbst. Ein altes Ehepaar kam mir entgegen. Entsetzt schauten sie erst auf mich und dann auf meinen Bruder. Vermutlich dachten sie, er wäre mein Sohn. Ich lächelte sie amüsiert an und ging einfach weiter. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Mein Lächeln verging mir allerdings, als ich ihn sah. Sozialstunden. Mehr hatte er nicht dafür bekommen, dass er mein Leben zerstört hatte. Eigentlich durfte er mir nicht mehr zu nahe kommen aber er tat es trotzdem. Er wusste, wie ich mich vor ihm fürchtete. Kürsad trug eine schmutzige Jeans und ein schwarzes, langweiliges Shirt. Seine gebräunte Haut wirkte noch dunkler, als zuvor. War er im Urlaub gewesen? Nein, das durfte er nicht. Wahrscheinlich war er auf einer Sonnenbank gewesen. Das musste es sein. Die dunklen Haare schön nach hinten geschoben, kam er auf mich zu. Am liebsten hätte ich den Kinderwagen in einem Busch versteckt, damit er meinen Bruder nicht sah. Allein der Gedanke, er würde meinen Bruder neugierig beäugen, ließ mir die Magensäure hochkommen. „Geh, oder ich rufe die Polizei. Ich zögere nicht mehr!“, warnte ich ihn und stellte mich zwischen ihn und dem Kinderwagen. Er blieb stehen, sah über meine Schulter hinweg zu meinem Bruder und grinste. Wie konnte er immer noch grinsen? Diese Fähigkeit hatte er nicht verdient. „Oh man, du kennst mich doch. Sowas lasse ich mir doch nicht gefallen, oder? Hör zu, meine Leute sind überall und wir alle sind richtig angepisst. Immerhin hast du uns die Bullen auf den Hals gehetzt“, bemerkte Kürsad seelenruhig, als würden wir über das Wetter sprechen. „Das ist deine Schuld, nicht meine“, stellte ich fest. Dabei wollte ich nicht, dass er das Zittern in meiner Stimme hörte. Er kam mir bedrohlich nahe. „Du wirst es bereuen, dass du dich mir widersetzt hast. Keiner in deiner Nähe wird noch sicher sein. Das verspreche ich dir. Egal, wie jung und zerbrechlich deine geliebten Menschen auch sind. Keiner wird verschont. Das nennt sich Rache“, sagte er mit einer gespielt, freundlichen Stimme und zwinkerte mir zu. Dann sah er wieder vielsagend zu meinem Bruder, der immer noch im Kinderwagen schlief. Meine Atmung wurde immer unkontrollierter, während mein Herz fast aus meinem Brustkorb sprang. „Hey!“, hörte ich eine männliche Stimme rufen. Jonah, der Cousin von Noah, kam grade auf uns zu und schubste Kürsad leicht nach hinten. Danach stellte er sich schützend vor mich, als wäre er mir das schuldig. Verwundert starrte ich auf seinen Rücken. Er trug einen grauen Pullover und eine dazu passende Mütze, die seine braunen Haare versteckte. „Bist du ihr Bodyguard oder was?“, lachte Kürsad los und sah Jonah skeptisch an. Mich wunderte die ganze Szene aber auch. Verwirrt ging ich näher an den Kinderwagen, um einen Blick auf meinen Bruder zu werfen. Zum Glück schlief er und bekam das Drama nicht mit. „Du hast echt genug angerichtet, Mann. Hau ab“, sagte Jonah locker. Er war nicht auf eine Schlägerei aus. Generell wirkte er eher, wie ein ruhiger, bedachter Typ. „Ich habe schon alles gesagt, was ich sagen wollte.“ Kürsad hob die Hände, als wollte er zeigen, dass er unbewaffnet war. Es wunderte mich, dass er so ruhig blieb. „Pass auf deine Familie auf, Kleine“, wandte Kürsad sich an mich und trat den Rückzug an. Jonah seufzte, als man Kürsad nicht mehr sehen konnte, und drehte sich dann zu mir. Eine Sorgenfalte bildete sich auf seiner Stirn. Obwohl sie keine Brüder waren, sahen sich Noah und Jonah verdammt ähnlich. Noah hatte jedoch ein markanteres Gesicht und mehr Muskeln, als sein Cousin. „Ich war grade hier einkaufen und habe euch gesehen. Geht’s dir gut?“, fragte er. „Ja, danke für deine Hilfe. Ich muss jetzt zurück zu meiner Mutter“, meinte ich flüchtig, lächelte kurz und schob den Kinderwagen Richtung Wohnblock. Als ich mich umdrehte sah ich, wie Jonah nachdenklich auf den Boden schaute und seine Einkaufstüten wieder aufhob, die er vermutlich fallen gelassen hatte, als er Kürsad und mich gesehen hatte. Ich kannte ihn kaum. Das Einzige was ich wusste war, das sein Cousin damals zu Kürsad gehört hatte. Das machte es schwerer für mich, nett zu diesen Menschen zu sein. Zugegeben war ich wohl etwas voreingenommen. (…)
Die Begegnungen mit Kürsad häuften sich, die Drohungen wurden schlimmer und verfolgten mich, bis in meine Träume. Irgendwie musste ich meine Familie doch beschützen können. Der Tag kam, an dem ich eine Entscheidung traf, die mich verändern sollte. (…)
Nach der zehnten Klasse gab es eine Art Abschlussfeier. Eltern, Familie, Freunde…jeder war eingeladen. Doch ich lud meine Familie nicht ein. Bewusst. So kam es, dass ich alleine im Forum der Schule stand, während die anderen alle bei ihren Familien standen und sich freuten. Meine Mutter wäre sowieso nicht gekommen aber dass ich es tatsächlich gewagt hatte, sie nicht einzuladen, verletzte sie offenbar sehr. Was ich danach tat, setzte dem ganzen noch eine Krone auf. (…)
Ich saß bei meiner Mutter im Wohnzimmer. Sie hatte damals noch eine Wohnung in der Nähe von Kürsads Wohnblock, was mich zusätzlich aus der Ruhe brachte. Notgedrungen stellte ich einen Plan zusammen, sie los zu werden. Meine Familie los zu werden, um sie letztendlich zu schützen. Ich wusste, dass sie darüber nachdachten, auszuwandern. Heimlich hatte ich ihre Gespräche belauscht, als ich, was selten vorkam, bei ihnen übernachtete. Meine Mutter lief wütend auf und ab, während ich nur still dasaß und auf eine Möglichkeit wartete, die Bombe platzen zu lassen, die Kürsad gezündet hatte. „Ich kann nicht fassen, dass du uns nicht einmal eingeladen hast! Was bin ich für dich?! Ich bin immer noch deine Mutter!“, schrie sie mich an. Es wunderte mich, dass sie das noch wusste. Mütter verhielten sich nicht so…wie sie es eben tat. „Ich wollte euch nicht dabei haben“, log ich monoton und starrte auf die Balkontüre. Ein Sturz vom Balkon würde mich leider nicht umbringen, denn wir befanden uns im ersten Stockwerk. Wenn ich meine Mutter zur Weißglut treiben würde, würde sie überstürzt umziehen. Das tat sie immer, wenn etwas nicht so lief, wie sie es wollte. Negative Gefühle beeinflussten meine Mutter enorm. „Wie bitte?!“, kreischte sie entsetzt. „Denkst du etwa ich wäre eine schlechte Mutter?!“ Ja, das dachte ich. Aber gesagt hatte ich es nicht. Meine Geschwister waren mittlerweile im Kinderzimmer und versteckten sich vor dem Familien-Krieg. „Das habe ich nicht gesagt“, meinte ich tonlos. „Ich fühle mich einfach nicht…geliebt.“ Obwohl das Gespräch mit einer Lüge angefangen hatte, reichte die Wahrheit aus, um meine Mutter durchdrehen zu lassen. Und das war die Wahrheit. Ihr blasses Gesicht wurde rot. Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre schwarzen Haare, die daraufhin noch zerzauster waren. „Ganz ehrlich?! Es stimmt. Ich liebe dich nicht so, wie deine Geschwister! Du warst nie bei mir und frech bist du auch!“, brüllte sie. Damit hatte selbst ich nicht gerechnet. Meine Augen weiteten sich, mein Herz blieb stehen. Das von meiner Mutter zu hören, war zu viel für mich. Ich wollte sie doch nur beschützen und sie…sie liebte mich nicht richtig? Aufrichtig? Mein Mund wurde trocken. Die ganze Flüssigkeit sammelte sich wohl grade in meinen Augen. Nein, ich durfte nicht weinen…nicht jetzt. „Du hast mich im Stich gelassen und wirfst mir das auch noch vor?“, flüsterte ich angestrengt. Ich musste mich dermaßen zusammenreißen, dass meine Stimme einen seltsamen Klang annahm. „Verschwinde…“, zischte meine Mutter fassungslos. „Verschwinde einfach und komm nie wieder hier hin! Wir werden sowieso umziehen! So wie es aussieht, früher als geplant. Ich ertrage dich nämlich nicht!“ Mein Plan war aufgegangen, denn ich hatte sowas schon geahnt. Trotzdem tat es dadurch nicht weniger weh.
Als ich die Wohnung verließ, stieß ich draußen gegen einen breiten Oberkörper. Zuerst dachte ich an Kürsad aber dann sah ich in die blauen Augen von Noah. „Richte Kürsad aus, dass es keine Familie mehr gibt, die er bedrohen kann. UND LASST MICH ENDLICH IN RUHE!“, fuhr ich ihn bitterböse an. Die Wahrheit? Während ich alles für meine Familie getan hätte, verließ diese mich sogar gerne. Immer und immer wieder. Ich war allein. (…)

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