Donnerstag, 23. Juni 2016
Benziner
Noah:
Ich parkte mein Auto an der Seite und stieg aus. Honeys roter Flitzer stand direkt auf dem verlassenen Industriegebiet. Sie hatte mich verzweifelt angerufen und meinte, sie könne ihr Auto nicht fahren. Das Auto hatte sie vor kurzem geschenkt bekommen. Ich weiß noch ganz genau, wie glücklich sie gewesen war, als sie das Auto das erste Mal gesehen hatte. Ich öffnete die Beifahrertür und setzte mich in das Auto. Honey saß am Steuer und sah mich sofort total verzweifelt an. Sie trug eine zerrissene Jeans und ein schwarzes Top. Ihre Haare hatte sie unordentlich nach oben gesteckt. „Was ist das Problem?“, fragte ich amüsiert, als ich ihren süßen Hundeblick wahrnahm. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte. Ich muss heute noch lachen, wenn ich daran denke. „Ich kann mein Auto nicht fahren“, jammerte sie. Ich musste sofort anfangen zu grinsen. „Wieso? Hast du verlernt, wie man Auto fährt? Du hast doch deinen Führerschein schon seit einem Jahr“, stellte ich kichernd fest. Sie schlug mit der Faust spielerisch gegen meine Rippen. „Konzentriere dich! Das ist ernst…“, ermahnte sie mich hoffnungslos verzweifelt. „Ok“, gab ich nach und beruhigte mich. „Dann erklär mal dein Problem.“ Ich lehnte mich im Sitz zurück und beobachtete sie. Anstatt zu reden, startete sie den Motor, der sofort ansprang. Also war das Auto nicht kaputt. Sie ließ die Kupplung langsam kommen. Das Auto rappelte kurz nach vorne und ging sofort wieder aus. Genervt ließ Honey ihren Kopf gegen das Lenkrad fallen. „Wie langsam soll ich die Kupplung denn noch kommen lassen, damit der Motor nicht ausgeht? Ich kann es doch eigentlich“, fragte sie mich leise. Ich musste wieder anfangen zu grinsen, denn ich erkannte das Problem sofort. „Steig aus. Seitenwechsel“, wies ich sie freundlich an. Wir öffneten wortlos die Türen und wechselten die Sitzplätze. Danach saß ich auf der Fahrerseite und sie auf dem Beifahrersitz. Neugierig beäugte sie mich, während ich den Motor erneut startete. „Du bist nicht das Problem. Also nicht grundsätzlich. In der Fahrschule lernen wir das Anfahren meistens mit einem Diesel-Auto. Da muss man einfach nur die Kupplung kommen lassen und das Auto rollt schon. Dein kleiner Flitzer hier ist aber ein Benziner“, erklärte ich locker und zwinkerte ihr zu. Sie schien immer noch nicht zu verstehen, wo das Problem lag. „Ja und? Ich muss doch dann einfach nur anders tanken“, warf sie verwirrt ein. Ich schnipste ihr kurz gegen die Stirn. „Du sollst den Lehrer nicht unterbrechen“, scherzte ich und lachte. Endlich lachte sie mit mir. Sie fasste sich an die Stirn. „Aua“, übertrieb sie und grinste. „Also zurück zum Thema“, fuhr ich fort. „Klar, musst du auch anders tanken aber darum geht’s nicht. Bei einem Benziner musst du auch mit dem Gas anfahren. Also du lässt die Kupplung kommen und gibst gleichzeitig etwas Gas. Du musst den perfekten Schleifpunkt finden und natürlich darfst du nicht zu viel Gas geben, sonst drehen die Reifen durch. Besonders bei Nässe ist das Scheiße.“ Ich rückte so zur Seite, dass sie meine Füße beobachten konnte. Anschließend ließ ich die Kupplung kommen und drückte gleichzeitig sanft auf das Gaspedal. Das Auto fuhr an und ging nicht aus. Erstaunt sah Honey erst mich und dann wieder die Pedale an. Wir rollten einige Meter, dann bremste ich. „Warum hat mir das vorher keiner erzählt?“, beschwerte sie sich. Achselzuckend schaltete ich den Motor ab. „Keine Ahnung. Aber wir müssen die Scheiben der Kupplung sowieso auswechseln. Die sind total zerkratzt und machen dir das Anfahren noch schwerer. Du sollst die Tage mal in die Werkstatt kommen“, bemerkte ich. „So, jetzt bist du dran.“ Wir wechselten wieder die Sitze.

Nach zwei Stunden würgte Honey wenigstens nicht mehr permanent ab. Das Anfahren funktionierte zwar aber es war ziemlich wackelig. Allerdings wunderte es mich nicht, denn viele Menschen hatten anfangs Probleme mit einem Benziner zu fahren. Wir saßen immer noch im Auto. Mittlerweile hatte es sogar angefangen zu regnen. „Willst du auf die Straße fahren?“, fragte ich Honey belustigt. Mir machte die Zeit mit ihr richtig Spaß, auch wenn sie ziemlich genervt war. Entgeistert starrte sie mich an. „Ist klar! So, wie ich anfahre, werde ich nicht auf die Straße fahren! Da sind auch andere Autos“, stellte sie entschlossen fest.
Kurz darauf befanden wir uns an einer roten Ampel. Hinter uns eine Reihe von wartenden Autos. Honey klammerte sich nervös am Lenkrad fest. Ausgerechnet sie führte die Schlange an. Wie hypnotisiert, starrte sie auf die rote Ampel. „Es wird gleich grün und ich werde gezwungen sein anzufahren, Mann!“, rief Honey aus. Ich musste so lachen, wirklich so laut lachen. „Beruhig dich! Du schaffst das schon. Du musst dich einfach nur auf das Gefühl und die Geräusche konzentrieren“, sagte ich zuversichtlich. Mir war klar, dass sie das Auto abwürgen würde. Das konnte ich ihr aber nicht sagen! Kaum schaltete die Ampel auf Grün, rappelte das Auto nach vorne und der Motor ging aus. Sofort setzte hinter uns ein Konzert der Hupen ein. Fassungslos schlug Honey auf das Lenkrad ein. „Jap, ich bin sowas von eine Frau!“, lachte sie plötzlich. Ich schaltete die Warnblinker ein, damit die anderen Autos uns überholten und so war es auch. So dachten sie, dass wir eine Panne hätten. „Gute Idee“, kommentierte Honey die Aktion und startete den Motor. „Auf ein Neues!“, sagte ich und das Auto rollte los.
Und heute? Heute kann sie besser fahren, als ich.

... link