Freitag, 6. Mai 2016
Brücke
Da ich öfter in der WG war, als zu Hause, beschloss ich mit Dana die Lebensmittel einkaufen zu gehen. Es war schon spät und die Läden würden bald schließen. Also mussten wir uns beeilen. Zu meiner Überraschung kam Danas neuer Freund Nick mit uns. Normalerweise lernte ich die meisten Freunde von Dana gar nicht erst kennen. Sie ließ die Beziehungen nie tiefer gehen, als wirklich nötig. Nick passte optisch zumindest gut zu Dana. Er hatte schwarze, lockige Haare und dunkle Augen. Seine Arme waren übersät mit Tatoos und er trug ein Piercing an seiner Lippe. Dana mochte Jungs, die so aussahen.
Nachdem wir alles eingekauft hatten, trugen wir die Tüten nach Hause. Es war nicht weit, deshalb liefen wir und fuhren nicht mit dem Auto. Es war schon dunkel aber noch recht warm. Der Himmel war wolkenlos und unzählige Sterne wurden sichtbar. Wir kamen an einer Brücke vorbei aber Dana und ich liefen automatisch weiter, Richtung Waldstück. Nick blieb an der Brücke stehen und sah uns fragend hinterher. „Wieso gehen wir nicht einfach hier lang?“, er deutete auf die Brücke. „Das ist doch viel kürzer.“ Dana und ich sahen uns vielsagend an. Nick wusste noch nichts von meiner extremen Höhenangst. Ja, diese Brücke würde uns mindestens 5 Minuten Fußweg ersparen. Doch die war verdammt hoch und erstreckte sich über eine große Hauptstraße. Niemals würde ich freiwillig diesen Weg einschlagen und das wusste Dana. „Schatz, ich möchte durch den Wald gehen“, log Dana mit einer zuckersüßen Stimme, der man nicht widerstehen konnte. Nick schüttelte leicht mit dem Kopf und steuerte die Brücke an. „Wir können ohne diese Tüten einen Waldspaziergang machen“, bemerkte er locker und ging einfach weiter. Ich sah ängstlich zu Dana, die ihre Tüten an dem Brückengeländer abstellte und zu ihrem Freund ging, um ihn aufzuhalten. Ich blieb am Rand der Brücke stehen und klammerte mich an meine Tüte. Klar benahm ich mich lächerlich aber ich konnte nichts dafür. Dana versperrte Nick den Weg und deutete auf mich. „Sie hat echt Höhenangst. Sie kann nicht über eine Brücke gehen“, ließ Dana die Bombe platzen. Nick drehte sich zu mir und sah erst verwirrt und dann nachdenklich aus. „Sag das doch gleich. Das ist doch kein Problem!“, sagte er schließlich und stellte seine Tüten auch am Rand ab. „Ich helfe dir.“ Meine Augen weiteten sich. Er würde mich doch nicht etwa über diese Brücke ziehen, oder? Ich wich einige Schritte zurück und begann zu zittern. „Lass sie in Ruhe, Schatz. Diese Angst ist echt extrem“, warnte Dana ihren Freund und hielt ihn am Arm fest. „Sie ist nur einmal in ihrem Leben freiwillig auf eine Brücke gegangen. Und das war, weil sie mir helfen wollte.“ Dana sah mir tief in die Augen. Wir mussten an das gleiche Szenario denken. Das war der Tag, an dem sich Dana umbringen wollte. Ich war notgedrungen auf die Brücke gegangen, um sie davon abzuhalten. Nick löste sich langsam aus Danas Griff und lächelte mich an. „Darf ich wenigstens versuchen dir zu helfen?“, wollte er von mir wissen. Irgendwas in seiner Stimme ließ mich kurz innehalten. Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes. Also nickte ich vorsichtig. „Gut, leg die Tüten an die Seite“, befahl er mir freundlich. „Was hast du vor?“, fragte Dana neugierig. Nick lächelte sie an und deutete, sie solle sich hinsetzen und zuschauen. Sie setzte sich auf den Boden und sprach kein Wort mehr. Ich stellte meine Tüten ab und schaute Nick unsicher an. Meine Beine fühlten sich bereits taub an und mir wurde übel. „Wovor genau hast du denn Angst? Hast du Angst, dass die Brücke einstürzt und das du runterfällst?“ Ehrlich gesagt, wusste ich selbst nicht wovor ich genau Angst hatte. Ich hatte einfach Panik, wenn ich Brücken sah. „Sobald ich keinen festen Boden unter den Füßen habe, bekomme ich Angst. Ich weiß nicht, was genau das auslöst oder vor was genau ich so Angst habe. Es ist übertrieben aber ich kann es nicht steuern“, stellte ich mit zitternder Stimme fest. Allein der Anblick der Brücke machte mich nervös. Plötzlich zog Nick seine Sneakers und seine Socken aus und stellte diese an den Rand. „Jetzt dreht er völlig durch“, kommentierte Dana die Situation und musste lachen. Nick warf ihr einen belustigten Blick zu und schaute dann auf meine Schuhe. „Zieh deine Schuhe aus.“ Vielleicht hatte er ja gekifft, bevor wir losgegangen sind. Gut möglich, denn ich wusste nicht, was das bringen sollte. Verwirrt sah ich zu Dana. „Mach einfach, dann gibt er Ruhe“, lachte sie. Gut, also zog ich meine Schuhe und Socken auch aus. Da standen wir nun, barfuß. Ich setzte einen Schritt auf die Brücke, und fühlte den kühlen Steinboden unter meinen Zehen. „Fühlst du das? Das ist fester Boden. Du kannst gar nicht abrutschen“, stellte Nick fest und wackelte mit seinen Zehen. Er hatte Recht aber die Angst kroch hoch, als ich weiter auf die Brücke starrte. Nick streckte mir seine Hände entgegen. Gezwungenermaßen legte ich meine Hände in seine, während er langsam rückwärts ging und mich mit auf die Brücke zog. Meine Atmung wurde schneller, mir wurde immer schlechter und auch schwindelig. Abrupt blieb ich stehen und rührte mich nicht mehr. Wir befanden uns jetzt mitten auf der Brücke. Unter uns rasten die Autos hindurch. Es war schrecklich! Tränen der Panik brannten in meinen Augen, denn ich fühlte mich, als würde mir jemand eine Pistole an den Kopf halten. „Das ist schlimmer, als ich gedacht habe“, gab Nick erschrocken zu. Ich krallte mich tiefer in das Fleisch seiner Hände. Wahrscheinlich tat ich ihm dabei weh aber er sagte nichts. Dana tauchte neben mir auf. Sie legte eine Hand auf meine Schulter. „Du weißt, dass die Angst nicht real ist. Dir kann nichts passieren“, sagte sie dicht an meinem Ohr. „Ich kann das nicht“, flüsterte ich und bekam Schnappatmungen.
„Was macht ihr da?“, hörte ich eine männliche Stimme vom Brückenende aus rufen. „Nick dachte, er könnte ihr helfen“, erklärte Dana. Ich hörte Schritte auf uns zukommen, konnte mich jedoch nicht bewegen. „Ihr solltet doch nur einkaufen gehen, Mann“, fluchte Noah genervt und tauchte vor mir auf. Er sah zu meinen Händen die sich krampfhaft an Nick festhielten. „Diese Angst ist echt krass“, sagte Nick und starrte mich nachdenklich an. „Wenn wir trainieren kann ich ihr diese Angst vielleicht nehmen. Ein Versuch ist es wert.“ Noah löste meine Hände und hielt mich stattdessen fest. „Das könnte dir so passen“, knurrte er Nick an und wandte sich dann an Dana. „Nehmt die Tüten und geht nach Hause.“ Dana passte Noahs Tonfall augenscheinlich gar nicht aber sie sagte nichts dazu. Sie sah mich seltsam an, nahm Nicks Hand und verschwand. Irgendwas stimmte nicht zwischen Nick und Noah. Nur was? Als die beiden verschwunden waren, versuchte ich normal zu sprechen. „War das wirklich nötig? Wieso sprichst du so mit Nick?“, fragte ich Noah. „Kannst du deine Beine bewegen?“, wechselte er das Thema. Ich schüttelte leicht mit dem Kopf. „Dann schau mir in die Augen und versuch an was anderes zu denken“, wies er mich an. Ich sah in seine blauen Augen und fing an zu lächeln. „Bist du uns suchen gekommen, weil du erfahren hast, dass Nick mit uns gegangen ist?“, bohrte ich weiter nach. Meine Beine bewegten sich langsam rückwärts, während Noah mich vorsichtig schob. „Kannst du das Thema mal lassen? Ich hab mir Sorgen gemacht.“ Ich wusste, dass er log. Oder mir zumindest nicht die ganze Wahrheit sagte.
Wir kamen am Ende der Brücke an und ich legte meine Arme um ihn. Erleichtert, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, vergrub ich mein Gesicht in Noahs Shirt. Da bemerkte ich die Erde an meinen Füßen. Ich war immer noch barfuß. Noah bemerkte meine Schuhe am Rand und sah mich fragend an. „Es war Nicks Idee“, sagte ich grinsend. „Der Typ ist komisch. Halt dich besser von ihm fern.“ Noah reichte mir meine Sachen und ich zog sie mir wieder an. „Er ist aber mit Dana zusammen“, warf ich ein, als ich fertig war und wieder normal stehen konnte. „Das hat Jungs noch nie davon abgehalten eine Dummheit zu begehen“, bemerkte Noah ernst. Aha, gut zu wissen. Er schien sich gut mit Dummheiten auszukennen. Als Noah meinen verbitterten Blick sah, wurden seine Gesichtszüge weicher. Er nahm mein Gesicht in seine Hände. „Ich will dich nicht nochmal verlieren. Verstanden? Du bist manchmal weg. Nicht körperlich aber seelisch. Ich hasse, wenn das passiert.“ Ich spürte die Liebe, die er bereit war mir zu geben. Doch wie viel konnte ich ihm geben? „Ich versuche mich zu bessern…wirklich. Das ist alles nicht so leicht“, gab ich leise zu. „Aber machbar“, beendete er meinen Satz. Er beugte sich zu mir, um mich zu küssen. Wie oft hatte er mich geküsst? Sehr oft. Doch dieser Kuss war anders. Es war eine letzte Chance. Eine letzte Chance zu zeigen, dass ich zu tiefen Gefühlen fähig bin.

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