Samstag, 26. März 2016
Chaos
Die Tage verflogen nur so und jeder Tag war aufregend und neu. Ich verbrachte viel Zeit mit Marvin, sowohl im Traum, als auch im realen Leben. Die Sache mit dem Traum ließ sich immer noch nicht erklären. Mir war nicht bewusst, ob ich von ihm träumte oder mit ihm. Es war alles viel zu real, um bloß ein einfacher Traum zu sein. Wenn Marvin und ich uns trafen, verflog die Zeit umso mehr. Doch mir war klar, dass unsere Beziehung, was immer da auch zwischen uns stattfand, auf einem sandigen Fundament basierte. Diese Träume machten mich neugierig auf mehr. Er wusste nicht, worauf er sich da einließ. Es gab Momente, in denen er merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte.
Wir liefen einen Waldweg entlang, es dämmerte leicht. Der Wald war stark bewachsen und der Weg führte bergauf. Ein kalter Wind wehte mir ins Gesicht und plötzlich flogen schwarze Raben über unsere Köpfe. Sie krächzten lautstark und verschwanden irgendwann in den Baumkronen. Ein Mann kam auf uns zu. Er hatte eine dunkelblaue Jacke an und die Kapuze trug er so, dass man sein Gesicht kaum sehen konnte. Mein Magen zog sich kurz zusammen, als ich den Mann musterte. „Der Mann hat etwas Böses an sich“, flüsterte ich Marvin zu und stellte mich enger an seine Schulter. Marvin schaute fragend zu dem Mann, der jetzt an uns vorbei ging. Der Mann sah kurz auf und grinste mich ekelhaft an. „Er wird was sagen“, hauchte ich kaum hörbar. Nach einigen Sekunden war es dann soweit. „Deine Freundin hat einen süßen Hintern“, rief der Mann von hinten. Marvin sah erst überrascht zu mir und dann finster zu dem Mann. „Mach das nicht, der hat ein Messer dabei“, warnte ich Marvin schnell, bevor er auf den Typen losging. Keine Ahnung woher ich das mit dem Messer wusste aber mir kam es einfach in den Sinn. Der Typ schien kurz auf eine Reaktion zu warten, dann lachte er und ging weiter in die andere Richtung.
Ich wollte direkt weitergehen aber Marvin hielt mich zurück. „Woher wusstest du so viel über den Mistkerl?“, fragte er mich neugierig. „Ach, ich bin gut im Raten“, log ich belustigt und zog ihn am Arm weiter. „Das glaube ich nicht. Du bist definitiv was Besonderes“, bemerkte er nachdenklich und suchte meinen Blick. Ja, was Besonderes. Wenn ich mich gut genug konzentrierte, konnte ich die Gefühle von jedem Menschen spüren. Es war ein komisches Stechen in meiner Magengegend, welches mich darauf aufmerksam machte, dass jemand etwas extremes fühlte. Manchmal war es auch nur ein seltsamer Geschmack im Mund oder es waren Schwindelanfälle. Jedes Mal war es anders.
Natürlich bemerkte ich deshalb auch, dass Marvin dabei war sich in mich zu verlieben. Die Sache mit der Liebe…konnte ich das? Konnte ich jemanden bedingungslos Lieben und eine echte Beziehung führen? Ich war mir nicht sicher. Dann war da noch Noah. Ich liebte ihn. Aber war es genug? Er hatte Abstand von mir genommen, was ich auch unterstützte. Immerhin brauchte ich etwas Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. Noah und ich waren so gut wie zusammen gewesen, als Marvin auftauchte. Normalerweise wäre es mir egal gewesen aber die Träume veränderten alles. Vielleicht war das ein Zeichen…vielleicht aber auch pure Willkür. Wer wusste das schon? Ab und zu telefonierten Noah und ich und manchmal konnten wir auch zusammen lachen. Doch man merkte, wie schwer es ihm fiel nicht bei mir zu sein. Ja, ich vermisste ihn auch.
Wie gesagt, die Tage verflogen nur so. Jeden Morgen fing ich an für meine Abschlussklausuren zu lernen und ich hörte immer nachmittags auf. Nach stundenlangem lernen ging ich meistens zu Marvin oder zu Studentenpartys. Mein Leben bestand nur noch aus lernen, träumen und Partys. Sowohl mein Körper, als auch mein Geist waren ausgelaugt und müde. Trotzdem hörte ich nicht auf.
Eines Abends passierte es, mein Leben nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Marvin und ich lagen auf der Couch und kuschelten uns aneinander. Es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen. So kam es, dass er mich küsste und ich seinen Kuss erwiderte. Während seine Lippen meine berührten merkte ich, was geschah und stieß ihn von mir weg. Niemals durfte es so weit kommen! Ich musste ihn doch aus meinem Leben fern halten. Enttäuscht stand Marvin auf und setzte sich benommen auf die Couchkante. Mit feuchten Augen und wirklicher Sehnsucht im Herzen sah ich ihn an. Ich hatte Sehnsucht. Sehnsucht, nach einer normalen, liebevollen Beziehung und nach Geborgenheit. Jedoch konnte ich nicht so egoistisch sein und ihn in meine Probleme reinziehen. So würde es nämlich kommen, früher oder später. „Es tut mir leid, wir können das nicht tun“, meldete ich mich zu Wort. „Mir tut es leid. Ich hätte dich nicht einfach küssen sollen. Es ist nur, ich hab irgendwie Gefühle für dich. Wir kennen uns nicht lange aber es ist so, als wärst du mein Engel“, er musste lachen. „Ich weiß, das hört sich kitschig an aber es ist so.“ Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte mit ihm zusammen sein. Ich wünschte mir, ich wäre gesund und alles wäre normal. „Wir können uns Morgen sehen. Jetzt muss ich nach Hause“, sagte ich und nahm meine Tasche. Es gab so vieles, was ich ihm sagen musste aber ich wusste nicht, wie.
Als ich nach Hause fuhr, musste ich an Noah und Marvin denken. Konnte ich überhaupt mit jemandem zusammen sein? War ich fähig Gefühle zu zeigen? Bei Noah war ich mir bisher nie sicher gewesen, welche Gefühle ich für ihn hatte. Doch bei Marvin fühlte ich mich sofort geborgen und geliebt. War das Liebe? Kopfschüttelnd öffnete ich die Garage und fuhr mein Auto hinein. Als ich das Garagentor schloss, klatschte hinter mir jemand in die Hände. Ich wusste sofort, wer dort auf der Bank saß, geschützt von der Dunkelheit. Irgendwie hatte sich der Hof vor meiner Garage zu einem Schauplatz für kranke Stalker entwickelt. Mein aggressiver Exfreund Kürsad erhob sich und kam auf mich zu. „Wie ich hörte hast du Noah abserviert“, sagte er begeistert. „Endlich hast du dich richtig entschieden.“ Seine Hände umklammerten meine Wangen und sein Kopf kam meinem gefährlich nahe. „Ich habe ihn nicht abserviert. Das geht dich auch überhaupt nichts an!“, knurrte ich und riss mich los. „Kümmer dich um deinen Dreck oder ich hole die Polizei!“ Es war erstaunlich leicht gewesen sich loszureißen und weiter zu gehen. Kürsad stand gelassen an der Garage und wandte seinen Blick nicht von mir ab, als ich auf die Haustüre zuging. „Ich wollte dir nur nochmal zeigen, dass ich frei bin“, rief er mir hinterher. „Der Gerichtstermin wird bald sein aber meine Augen und Ohren sind überall. Überleg dir gut, was du an dem Tag sagen wirst.“ Kürsad wollte mich also bedrohen. Von mir aus, das würde nichts ändern. Er und seine Clique konnten mir drohen, wie viel sie wollten aber mein Plan war es immer noch, ihr Kartenhaus zum fallen zu bringen.

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