Donnerstag, 3. März 2016
Das Leben ist kein Buch
Das Leben ist kein Buch. Die Autoren versuchen uns weis zu machen, dass es immer ein Happy-End gibt und das wir unseren Traumprinzen bekommen, der uns so liebt, wie wir sind. Das entspricht nicht der Realität. Klar, durch Bücher kann man in eine andere Welt eintauchen und sein eigenes Leben vergessen. Aber zum Wendepunkt im eigenen Leben wird es nie kommen. Immer wieder musste ich zu dieser schmerzhaften Erkenntnis gelangen. Noch vor einigen Tagen starb ein wichtiger Teil von mir und heute werde ich Zeugin einer wunderbaren Geburt. Menschen leben, Menschen sterben. Als wäre das gesamte Leben ein ewiges Pendel, welches sich hin und her wiegt und dabei alles mit sich reißt.
Wenn man etwas so traumatisches erlebt, dann bleiben viele Möglichkeiten damit umzugehen. Viel zu viele um es aufzuzählen. Aus Gründen, die mir bis jetzt unerklärt geblieben sind, begann ich anderen zu helfen. Es waren nur Kleinigkeiten, die anderen jedoch eine große Freude bereiteten. Ich wollte nichts sinnloses mehr tun, denn meine Zeit hier war begrenzt. Mein Leben würde nie mehr so sein, wie noch vor einigen Tagen.
Bis jetzt schlug ich mich ganz gut, bis es dunkel wurde. Ich musste alleine schlafen und alleine damit fertig werden. Noah hatte mich verlassen. Seit dem grausamen Ereignis vor einigen Tagen hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich wusste nicht mal, ob er noch im Land war. Vielleicht befand er sich bei seinen Eltern in Amerika. Für mich gab es keine Flucht. Egal wohin ich fliehen würde, ich würde das Blut immer sehen. Die rote Farbe des Blutes brannte sich in meine Haut.
Meine Probleme vermehrten sich und ich hatte die Kontrolle längst verloren. Hierbei handelte es sich nicht mehr um Kinderkram, dies war eine andere Liga.
Eine Liga, der ich mich alleine stellen musste. Wie ich sagte, das Leben ist nicht wie im Buch. Man kann sich in mehrere Menschen verlieben. Ob sich daraus schließlich Liebe entwickelt, ist ungewiss. In Büchern ist das der Teil, indem sich die Jungs um einen prügeln und beweisen wollen, wie sehr sie dich lieben. Im echten Leben geben sie schnell auf. Genauso, wie man sich mehrfach verlieben kann, kann man auch von der Liebe verschont werden. Wer sagt mir denn, ob meine Gefühle echt sind? Wer sagt mir, dass es Liebe ist?
Plötzlich fragte ich mich, wieso wir Menschen hier auf der Erde sind. Was für einen Zweck sollte es haben, sich jeden Tag gegenseitig zu zerstören? Wir führen Kriege, wir vergiften unser Essen, wir verachten einander. Menschen wurden mir immer unsympathischer.

Doch dann gab es Momente, wie diese. Ich war im Krankenhaus, mal nicht als Patient, sondern als Besucher. Meine Tante hielt ihr frisch geborenes Kind in den Armen und strahlte das kleine Mädchen an. Da sah ich es, das seltene Bild der wahren Liebe. Dafür lohnte es sich zu kämpfen.
Ich hatte in den letzten Tagen viel zu viel verloren. Die Liste der Menschen denen ich vertrauen konnte, wurde immer kürzer. Wie es weiter gehen sollte? Keine Ahnung. Wie sehr wünschte ich, ich könnte die Zeit zurück drehen. Dann hätte ich damals nicht gegen die Erziehungsmaßnahmen meiner Familie protestiert, sondern wäre zu Hause geblieben. Dadurch hätte ich zwar weniger Freunde gehabt, jedoch einen besseren Abschluss. Mein Herz wäre stärker und vielleicht wäre ich gesünder. Die Fehler meiner Vergangenheit tauchten immer wieder in der Gegenwart auf. Diesmal nahmen sie sogar ein Leben. Ein junges, wunderbares Leben.
„Geht’s dir gut?“, hörte ich meine Tante fragen. Sie schaute von ihrem Baby auf und bedachte mich mit einer besorgten Miene. „Ja, süßes Kind“, sagte ich müde. Ich lächelte schwach und stand auf, um zu gehen. „Gehst du nach Hause?“, fragte meine Tante neugierig, als ich mich verabschieden wollte. „Ja, ich gehe nach Hause.“ Ich hätte schon die ganze Zeit über zu Hause sein sollen. Die WG würde ich wohl nie wieder betreten und Noah womöglich auch nie wiedersehen. Langsam schloss ich die Zimmertüre und trat in den Gang.

Als ich das Krankenhaus verließ fielen mir sofort die naturroten Locken auf, die neben meinem Auto zu sehen waren. Dana lehnte an der Fahrertüre und schien auf mich zu warten. Dabei wollte ich keinen mehr sehen. „Was machst du hier?“, fragte ich, nachdem ich bei ihr angekommen war. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Obwohl es kühl war, trug sie ein kurzes, schwarzes Kleid und eine dünne Strickjacke. Ich fror schon in meiner dicken Winterjacke. „Du hast mir geschrieben, dass du deine Tante hier besuchen wirst. Als ich hier vorbeikam, hab ich dein Auto direkt gesehen. Du gehst mir aus dem Weg“, stellte Dana trocken fest. „Ich gehe jedem aus dem Weg“, korrigierte ich schroff und kramte in meinem Rucksack nach dem Autoschlüssel. „Komischerweise gehst du zur Schule, als wäre nichts gewesen“, konterte sie bissig. Ich griff nach meinem Schlüssel, drängte mich an Dana vorbei und schloss mein Auto auf. Nachdem ich meinen Rucksack auf den Rücksitz geworfen hatte, wandte ich mich wieder zu ihr. „Wenn ich nichts tue, dann drehe ich durch! Also lass mir bitte die Normalität. Bald schreibe ich meine Abschlussprüfungen und es wird Zeit, dass ich meine Familie stolz mache.“ Dana schnaubte verächtlich. „Du stürzt dich jetzt auf Arbeit, damit du die Sache vergisst?“ Eigentlich wollte ich einsteigen, hielt aber inne. „Auf was soll ich mich denn sonst stürzen? Auf Noah? Der hat sich verpisst!“ Es würde auch nichts bringen, wenn er an meiner Seite wäre. Mein normales Leben war endgültig vorbei. Keiner konnte mich da wieder rausholen, denn das hier war kein Buch. Es wird kein Held auftauchen, der dich rettet. Du musst dich selbst über Wasser halten. „Du musst sie verstehen…alle. Sie sind alle zusammen aufgewachsen“, bemerkte Dana plötzlich niedergeschlagen. Solche Gespräche konnte ich nicht gebrauchen, sonst würde die Fassade bröckeln und der Damm würde platzen. „Soll ich dich zu Hause absetzen?“, fragte ich Dana mit dünner Stimme. Enttäuscht sah sie mir in die Augen, wahrscheinlich wollte sie Zeit mit mir verbringen. Doch das konnte ich ihr momentan nicht bieten. „Schon gut, ich fahre mit dem Bus“, sagte sie leise. Dana machte den Eindruck, als brannten noch Worte auf ihrer Zunge, aber sie schloss ihren Mund und verließ mich stumm.
Wenn ein Autor sich verschreibt, kann er Zeile für Zeile löschen. Jeder Fehler kann behoben werden, ganz einfach. Doch ich konnte nichts mehr löschen und kein Fehler konnte behoben werden. Die Kapitel, die zu dieser kranken Symphonie des Schicksals geführten hatten, waren unwiderruflich geschrieben. Fehler blieben Fehler. Und diese fehlerhaften Kapitel standen direkt hinter mir und bedrohten mich, jede einzelne Sekunde meines Lebens.

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