Sonntag, 28. Februar 2016
Das Zimmer voller Erinnerungen
Immer wenn ich mein Zimmer sah, musste ich an meinen Umzug in diese kleine Wohnung denken. Damals wohnten wir noch in einem großen Haus, indem ich aufgewachsen bin. Dort hatte ich den kompletten Dachgeschoss und ein Extrazimmer nur für mich. Natürlich war es ein Kulturschock, als ich daraufhin mein neues Zimmer sah. Es war so klein, dass ich mich sofort fragte, ob allein meine Sammlung von Büchern dort reinpasste. Während meine Großeltern, die sehr an unserem Haus hangen, noch dort blieben um die Kartons fertig zu packen, beschloss ich früher als sie in die Wohnung zu ziehen. Ich wollte die Möbel meines neuen Zimmers bauen, der Wand einen neuen Anstrich verpassen und diesen „Käfig“ wenigstens schön schmücken. Meine Devise war: „Mach das beste aus der Situation!“

So stand ich da, alleine in der neuen, fast leeren Wohnung. Es roch nach frischer Farbe, weil mein Großvater bereits das Wohnzimmer gestrichen hatte. Nichts erinnerte an ein zu Hause. Das Einzige, was in meinem Zimmer stand war das Bett, welches an pink-violetten Wand aufgebaut war. Die anderen Möbel befanden sich noch in ihren Kartons und versperrten den Weg zum Bett. Gemütlich war hier gar nichts. In der ersten Nacht saß ich lange auf dem Bett und starrte durch meine großen Fenster in den Nachthimmel. Es waren viele Sterne zu sehen, die mich hoffnungsvoll anfunkelten. Die neue Wohnung sollte ein neuer Lebensabschnitt sein, den ich gemeinsam mit Eric meistern wollte. Ja, zu dem Zeitpunkt waren wir noch zusammen und eigentlich auch glücklich. Mein Handy vibrierte auf dem Laminat-Boden und ich streckte meinen Arm aus, um es aufzuheben. Noahs Name blitzte auf, was nicht verwunderlich war. Auch damals war er schon ein dramatischer aber auch charmanter Stalker. „Kaum in der neuen Wohnung schon versuchst du mich auswindig zu machen?“, scherzte ich in den Hörer und spielte mit meinen Haaren. „Wie gefällt dir dein neues Zimmer?“, wollte er sarkastisch wissen. Dabei wusste er bereits, welch ein Graus es mir war, hier zu schlafen. In dieser für mich fremden Wohnung, in der eine Menge leer stand. „Kein Kommentar“, sagte ich genervt. „Im Ernst, was willst du?“ Ich hörte ihn durch den Hörer durchatmen. „Hast du vielleicht Lust mit mir einen Film anzusehen? Ich kann vorbei kommen.“ Das kam nicht in Frage, allein schon wegen meinem Freund. Er mochte Noah nicht, was ich verstehen konnte. Jedes Mal startete er neue Flirtversuche, die meine glückliche Beziehung belasteten. „Du weißt, dass es nicht geht. Es tut mir leid…ich leg jetzt auf“, verabschiedete ich mich schnell. Nachdem wir aufgelegt hatten, fühlte ich mich seltsam. Noah machte mich neugierig, soviel musste ich zugeben. Aber ich liebte meinen Freund vom ganzen Herzen! Also lag es an mir, Prioritäten zu setzen.

Am nächsten Tag kam Dana zu mir, weil sie mir beim Aufbau meines Zimmers helfen wollte. Die Küche stand bereits in der Wohnung. Zum Glück, denn so konnte ich wenigstens meinen morgendlichen Kaffee genießen. Dana trug eine graue Jogginghose und ein bauchfreies Sportoberteil, was ihr echt schmeichelte. Ihre naturroten Haare hingen ihr in Engelslocken über ihre Schultern. Ich dagegen sah nicht so sexy aus, wenn man sich die schwarze Jogginghose ansah und das viel zu große T-Shirt, welches einen Seriencharakter von „The Walking Dead“ zeigte. Mein Zopf fiel auch schon auseinander aber das musste man mir verzeihen, denn gut geschlafen hatte ich überhaupt nicht. Wir gingen beide in mein Zimmer und kletterten über die Kartons. „Wow, du hast ganz Ikea geplündert!“, rief Dana gespielt dramatisch aus, als sie die Kartons sah. Ich stemmte meine Hände in die Hüften. „Die Möbel sind alle total schön! Ich weiß nur nicht, wo wir anfangen sollen.“ Irgendwann beschlossen wir, mit dem Kleiderschrank anzufangen. So verbrachten wir unseren Tag. Es war viel Arbeit und kostete enorme Kraft aber gegen Abend standen alle Möbel fertiggebaut in meinem neuen Zimmer. Die Einrichtung war hauptsächlich weiß, weil ich es mit der Dekoration und der Wandfarbe knallen lassen wollte. Als ich mich umsah, war ich echt zufrieden. Dana und ich saßen auf dem Boden und atmeten durch. „Das war echt ne schwere Geburt!“, stellte Dana erschöpft fest und rieb sich mit der Hand über ihre Stirn. „Danke! Ohne dich hätte das noch viel länger gedauert“, bemerkte ich erleichtert. Vielleicht würde es mir in diesem Zimmer doch gefallen, obwohl es so klein war.
Wir bestellten uns zwei Pizzen und während wir warteten, schloss ich meinen Fernseher an. Zuerst dachte ich, es würde nicht funktionieren aber als ich dann die Nachrichten vor mir aufblitzen sah, wandte ich mich stolz an Dana. „Wir können doch noch einen Film ansehen!“, sagte ich. Der Fernseher funktionierte einwandfrei. Unsere Pizzen wurden geliefert und wir machten es uns auf meinem Bett bequem, während wir „Hancock“ schauten. Irgendwann im Film fragte Dana mich: „Und? Bist du eigentlich glücklich in deiner Beziehung?“ Ich sah kurz zu ihr und dann wieder auf den Bildschirm. „Ja, ich denke das wird sehr lange halten. Ich liebe ihn.“

Und jetzt? Jetzt lag Noah neben mir und meine damalige Beziehung war in weiter Ferne. Das Zimmer würde mich immer wieder an diese Zeit erinnern. Noah aß Chips, während er sich auf den Film konzentrierte. Wie damals, als Dana bei mir war, lief „Hancock“. Es schien mir fast schon symbolisch. Ich starrte ebenfalls auf den Fernseher, weil mich diese Geschichte nach wie vor mitnahm. Eigentlich weinte ich bei jedem Film, weil ich mich zu sehr in die Charaktere rein steigerte. Es war, als würde ich mit ihnen leiden. Das gehörte wohl zu meiner sensiblen Persönlichkeit. Spätestens, als „Hancock“ im Film seine Geschichte erzählte, brachen bei mir sämtliche Dämme. Noah sah mich amüsiert an und warf mit einem Chip nach mir. „Wie kann man bei diesem Film weinen?“ Man kann bei jedem Film weinen, wenn man sich auf die Story einlässt. „Findest du das nicht traurig? Seine ganze Geschichte…ich meine, er ist der Einzige seiner Art. Jeder hasst ihn, weil er Schwierigkeiten hat sich anzupassen. Dann findet er heraus, dass die Frau auch ist wie er. Aber sobald sie miteinander zu tun haben, sterben beide“, erzählte ich niedergeschlagen, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. „Für was würdest du dich denn entscheiden? Für Unsterblichkeit oder für die Liebe?“, fragte er mich plötzlich ganz ernst. Damit hatte ich nicht gerechnet, sondern damit, dass er sich über mich lustig machen würde. „Schwer zu sagen“, gab ich zu und zuckte mit meinen Schultern. „Das wäre echt krass. Man hätte Superkräfte und würde niemals sterben aber ich denke, irgendwann wird so ein Leben auch langweilig. So ganz ohne Liebe meine ich. Man würde niemals Kinder kriegen können und zusammen alt werden. Ich kann verstehen, warum die Superfrau im Film ein normales Leben führen will.“ Noah suchte meinen Blick, dann grinste er. „Du hast immer gesagt, du willst keine Kinder kriegen“, bemerkte er. „In meinem Leben habe ich viele komische Sachen gesagt“, gab ich zurück und musste lachen. Warum unterhielten wir uns jetzt übers Kinder kriegen? Ich legte mich neben Noah und kuschelte meinen Kopf an seine Brust. Dabei dachte ich wieder an die Zeit zurück, in der ich dieses Zimmer eingerichtet hatte. Niemals hätte ich gedacht, dass sich die Dinge so entwickeln würden. Noah legte die Chips-Tüte auf meinen Nachttisch und kuschelte sich ebenfalls an mich. „Ich liebe dich“, flüsterte er. Dies war mein Part, aber ich schwieg. Diese drei Worte machten mir Angst.

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