Freitag, 1. April 2016
Das wahre Gesicht
Mein Rucksack war schneller gepackt, als jemals zuvor. Ich wollte nur noch weg. Meine Familie wurde immer beleidigender und immer aggressiver. Es war unmöglich dort zu schlafen oder zu lernen. Also stieg ich abends in mein Auto und fuhr zu Marvin, der nicht weit weg wohnte. Da es spät war, beschloss ich ihn anzurufen, weil ich Angst hatte durch mein klingeln seine Mutter zu wecken. Verheult und völlig aufgelöst ging ich auf sein Haus zu, während ich mein Handy am Ohr hielt. Es war dunkel und kalt. Kein Mensch war mehr auf den Straßen. Nach einigen Sekunden ging Marvin ran. „Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll aber ich kann nicht zu Hause schlafen“, fing ich an meine Situation zu erklären. „Ich penn heute auch woanders“, unterbrach er mich locker. Ich blieb stehen und betete, ich wäre ihm wichtiger, als seine Partys. „Wo denn? Mir geht’s nicht so gut“, versuchte ich ihm klar zu machen. „Bei einem Freund. Ich bin ja noch hier auf der Party und hab keine Zeit“, sagte er gut gelaunt. Hörte er nicht, dass ich weinte? Mir war bewusst, dass er wieder kiffte und dass sein Freund nur zwei Straßen weiter wohnte. „Ja aber es ist wirklich wichtig. Ich kann dich auch abholen“, bot ich verzweifelt an. Mit geschlossenen Augen hoffte ich, ich wäre ihm wichtig. Bitte. „Ich kann hier nicht weg, Engel“, stellte er fest und damit war die Diskussion beendet. „Nenn mich nicht so“, sagte ich schroff und beendete das Telefonat. Ein dicker Kloß brannte in meiner Kehle. Ich hatte Marvin für etwas Besonderes gehalten. Doch mit seinen Freunden Drogen zu nehmen war ihm wichtiger, als für mich da zu sein. Also drehte ich um und rannte zu meinem Auto. Mir blieb nur noch eine Adresse.

Noah hatte mir seine neue Adresse vor einigen Tagen geschickt. Er wohnte jetzt mit Jonah in einer neuen Wohnung, nicht weit entfernt von der alten. Während ich fuhr, wurde mir immer schwindeliger. Ich schaffte es noch am Straßenrand zu parken und zu klingeln, bevor ich endgültig das Bewusstsein verlor.

Meine Augen ließen sich nur schwer öffnen aber mir war direkt klar, wo ich mich befand. Das mir bekannte piepen des EKG-Geräts verriet es mir sofort. Ich sah mich in meinem Krankenzimmer um. Diesmal hatte ich eins für mich alleine. Alle möglichen Schläuche waren an mir befestigt. Durch die Fenster kam ein leicht rötliches Licht. Die Sonne ging grade erst auf. Noah und Dana saßen auf zwei Stühlen neben meinem Bett. Beide trugen noch ihre Schlafsachen und sahen aus, wie ich mich fühlte. Schrecklich. „Wie lange war ich diesmal weg?“, fragte ich schmerzerfüllt. Jedes Wort brannte in meiner Kehle. Meine Knochen taten mir weh, wenigstens spürte ich sie noch. „Nicht so lange, wie sonst immer“, antwortete Dana müde. Meine Freunde taten mir furchtbar leid. Es war egoistisch von mir gewesen zu ihnen zu fahren. Noah stand auf und tat das, was er immer tat, wenn ich im Krankenhaus wach wurde. Er drückte einen roten Knopf neben meinem Bett, damit der Arzt kam. Keiner Sprach ein Wort, bis der Arzt in das Zimmer kam. Der Arzt sah mich an, wie er mich immer ansah, nach so einer Nacht. Mitleidig aber auch tadelnd. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich ebenfalls neben mein Bett. „Was ist diesmal passiert?“, fragte er mich. Ich wusste, dass ich ehrlich zu ihm sein musste. „Ich war verletzt, weil ein Freund von mir lieber Drogen nimmt, als für mich da zu sein. Ich dachte aus uns könnte mehr werden…aber ich denke es hat sich erledigt.“ Der Arzt sah erst zu meinen Freunden, dann wieder zu mir. „Wir wissen so gut wie nichts über deine Krankheit. Das einzige was wir wissen ist, dass die Symptome meistens nach psychischem Stress auftreten. Ich weiß, dass sich psychischer Stress im Alltag nicht vermeiden lässt. Doch du musst jeder einzelnen Person in deinem Umfeld sagen, was auf dem Spiel steht. Es ist verdammt wichtig. Du musst mit offenen Karten spielen“, stellte der Arzt entschlossen fest. „Ich möchte das aber nicht. Sie haben selbst gesagt, dass meine Organe gesund sind. Also bin ich gesund. Und ich will auch so behandelt werden. Wenn ich Leute kennenlerne möchte ich, dass sie normal mit mir umgehen. Können sie das nicht verstehen?“ Tränen brannten in meinen Augen aber selbst um zu heulen, war ich zu schwach. „Ich verstehe das aber die Lage ist ernst. Entweder die Leute akzeptieren und respektieren deine besondere Lage oder du musst den Kontakt abbrechen. Es geht um dein Leben und das ist wichtiger, als die Meinung von Menschen, die ihren Körper mit Drogen verunstalten. Außerdem muss ich dir sagen, dass du dich auf Dauer nicht immer selbst entlassen kannst. Du bist zwar Volljährig aber die Krankenkasse und auch wir, machen das nicht mehr lange mit. Wenn es noch einmal zu so einem Vorfall wie heute Nacht kommt, wirst du stationär behandelt.“ Ich mochte den Arzt, wir verstanden uns gut und sonst war er immer freundlich. Daher wusste ich anhand seines Tonfalls, wie ernst es jetzt um meine Zukunft stand. „Ich möchte nicht hier bleiben“, flüsterte ich, mehr zu mir selbst. „Das weiß ich. Heute darfst du auch noch gehen aber das nächste Mal wird es ernst. Abgesehen davon sehe ich immer nur diesen jungen Mann neben deinem Bett. Was ist mit deiner Familie? Wissen die nichts davon?“ Der Arzt warf einen flüchtigen Blick zu Noah. „Nein und ich möchte das auch nicht. Glauben sie mir, es ist besser so“, versicherte ich ihm und starrte auf meine Hände. „Na gut“, sagte er verständnisvoll. „Jetzt zum weiteren Vorgehen. Wir werden die Medikamente absetzen. Deinen Organen geht es gut und wir wollen keine Schäden hervorrufen. Außerdem bringen die Tabletten anscheinend sowieso nichts. Du wirst nach wie vor jede Woche zur Kontrolle kommen müssen.“ Mir war klar, dass sowas kommen würde, also nickte ich. „Ich gehe davon aus, dass du nach Hause möchtest?“, fragte er und erhob sich von seinem Stuhl. Er reichte mir Unterlagen, die er vorher die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte. Ich wusste, dass ich nur unterschreiben musste. Das hatte ich sehr oft getan, weil ich jedes Mal „auf eigene Gefahr“ nach Hause ging. Der Arzt verabschiedete sich und ging Richtung Türe. Kurz bevor er im Flur verschwand, drehte er sich nochmal um. „Noch was: Wenn ich die Wahl zwischen einem Junkie und einem Mann hätte, der jedes Mal für mich im Krankenhaus übernachtet, würde ich letzteren wählen.“ Er zwinkerte erst mir, dann Noah zu. „Hat er sie dafür bezahlt, sowas zu sagen?“, fragte ich den Arzt und musste sogar etwas lächeln. „Ich bin nur ehrlich.“ Damit verschwand er lachend.

Nachdem ich meine Papiere unterschrieben hatte, halfen mir Noah und Dana aufzustehen. Sie standen rechts und links von mir, während ich meine Arme um ihre Schultern legte. Ich war noch zu schwach, um alleine zu laufen. Mir wurde zwar ein Rollstuhl angeboten aber das war mir dann doch zu viel des Guten.
Auf dem Krankenhausparkplatz war nur mein Auto zu sehen. Noah hatte mich wohl mit dem Auto hergebracht. Gut, kein Krankenwagen. Die Sonne schien schadenfroh und kaum eine Wolke war zu sehen. Vom Wetter her würde es ein schöner Tag werden. Dana stieg hinten ein und ich auf der Beifahrerseite. Noah startete den Wagen und fuhr los. Zuerst sprach keiner, bis Noah mein Handy aus der Hosentasche seiner Jogginghose zog und mir auf den Schoß warf. „Glaub mir, ich war kurz davor den Mistkerl umzubringen“, knurrte er und hielt das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. „Hast du mit ihm geschrieben?“ wollte ich geschockt wissen. Dabei kam nämlich nie etwas Gutes raus. „Nein, ich lerne dazu. Aber ich hab seine Nachrichten gelesen. Der Junge nimmt sich ganz schön viel raus. Du stirbst fast und der feiert weiter!“, bemerkte Noah fassungslos. „Und für sowas lässt du mich zappeln.“ Mein Magen zog sich zusammen. Ich hatte ja auch mehr von Marvin erwartet. Zumindest, das er wenigstens versuchte mich zu verstehen. „Lass gut sein. Ihr geht’s schlecht“, mischte sich Dana ein. Noah hielt inne und man merkte, wie er sich bemühte ruhig zu bleiben. „Ich gebe jedem Menschen eine Chance mich zu verstehen“, sagte ich leise. „Es tut mir leid.“
Ich hatte Gefühle für Marvin aufgebaut, umso mehr enttäuschte mich seine Reaktion. Er hatte mir ziemlich gefühlskalte Nachrichten geschrieben. Als ich diese las, wurde mir gleich wieder schlecht. Mittlerweile verstand ich Noahs Verhalten.

Noah brachte mich in sein neues Zimmer, welches etwas kleiner war, als sein altes. Er sorgte dafür, dass ich mich ins Bett legte. „Ich lege mich auf die Couch. Ich bin auch müde“, sagte er und wollte das Zimmer verlassen, um ins Wohnzimmer zu gehen. „Kann ich deinen Laptop benutzen? Ich muss lernen“, stellte ich fest. Er ging zu seinem Schreibtisch und reichte mir sein Laptop. „Mach aber nicht zu viel. Ruh dich lieber aus.“ Er wollte grade die Türe hinter sich schließen, da hielt er inne und sah mich an. „Du wolltest doch den Unterschied zwischen dem Hiob in der Bibel und Mendel Singer im Roman wissen, oder?“ Verdutzt über den Themenwechsel nickte ich und schaute ihn fragend an. Ich hatte ihn vor Tagen mal gefragt, weil ich das für meine Deutsch-Prüfungen brauchte. „Naja, ein Unterschied ist, dass Hiob seinen Glauben nie verloren hat. Seine Familie ist gestorben und er wurde krank. Doch er kam niemals auf die Idee an Gott zu zweifeln. Mendel hingegen verlor seinen Glauben, fand ihn aber am Ende wieder, als er wieder Glück hatte“, erklärte Noah nachdenklich. „Mendel denkt also, wie die meisten Menschen. Passiert Unglück gibt es keinen Gott und wenn sie Glück haben muss es einen geben“, bemerkte ich ebenfalls nachdenklich. „Weißt du, was ich glaube?“, fragte er mich und suchte meinen Blick. „Du bist mehr wie der Hiob aus der Bibel.“ Jetzt musste ich wirklich lachen. „Wie kommst du denn darauf? Wie oft habe ich schon meinen Glauben verloren…“, gestand ich. „Niemals. Das ist es ja. Du sagst es zwar immer aber du meinst es nie ernst. Du bist nicht die gläubigste Person auf der Welt aber den Glauben den du hast, behältst du. Guck wie viel Scheiße schon in deinem Leben passiert ist. Trotzdem bleibst du immer du, auch wenn du manchmal so tust, als würde es dich nicht mehr geben. Also ich sehe dich noch.“ Er ging und schloss die Türe hinter sich. Langsam fing ich echt an zu wissen, dass er mich liebt.

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