Mittwoch, 18. Mai 2016
Der Ort, an dem alles begann
So aufgeregt war ich das letzte Mal, als Noah mit mir essen gegangen ist. Damals in dem schicken, chinesischen Restaurant. Ja, wenn es um typische Beziehungs-Aktionen ging, war ich eine komplette Niete. Doch wir waren jetzt seit zwei Monaten offiziell zusammen. Er hatte sich bestimmt etwas total Romantisches ausgedacht, wie üblich. Ich wollte wenigstens so tun, als wäre ich eine normale Freundin. Immerhin war er der Einzige, der es so lange mit mir aushielt. Das musste ein Zeichen sein! Also deckte ich den Küchentisch in der WG und zog mir etwas Schönes an. Meine Lasagne war bereits im Ofen und backte vor sich hin. Nervös lief ich von Noahs Zimmer zum Bad, um mich zu schminken. Eigentlich trug ich nie viel Make-up auf. Hauptsächlich schminkte ich mich an den Augen, damit diese etwas größer erschienen. Das passte irgendwie zu meinem Wesen. Nachdem ich mit meinen Augen fertig war, glättete ich meine brünetten Haare und schlüpfte in mein Lieblingskleid. Dabei handelte es sich um ein rosa Sommerkleid, mit Blumenmuster. Der Wecker in der Küche klingelte. Ich ging zum Ofen und holte die Lasagne heraus. Diese duftete schon einmal sehr gut. Die Wohnungstüre öffnete sich und kurz darauf stand ein erstaunter Noah im Türrahmen der Küche. Er trug eine dunkle Jeans und ein hellgraues T-Shirt, welches sich um seine Muskeln spannte. Er brauchte sich nicht einmal Mühe geben, denn er sah immer gut aus. Seine ozeanblauen Augen musterten mich, während er mit einer Hand durch seine dunkelbraunen Haare fuhr. „Wow“, sagte er. „Du hast für mich gekocht und siehst auch noch Hammer aus! Alles in Ordnung?“ Noah kannte mich gut genug um zu wissen, dass ich solche romantischen Aktionen hasste. Sie waren mir einfach unangenehm. Keine Ahnung, weshalb. Normalerweise reichte es mir, wenn wir uns auf die Couch setzten und Fußball guckten oder zockten. Als Gott die romantischen Gene an die Frauen verteilt hat, war ich wohl nicht da gewesen. „Hast du denn hunger?“, fragte ich und legte eine zuckersüße Stimme auf. Noah ließ seine Sporttasche fallen und kam auf mich zu. Er küsste mich innig und nickte. Seine Pupillen waren geweitet, sodass man das Blau in seinen Augen kaum noch sah. Wunderschöne Augen.

Am Nachmittag wollte Noah unbedingt, dass ich mit ihm spazieren gehe. Es war nicht wirklich warm draußen aber die Sonne schien und es waren kaum Wolken zu sehen. Wir gingen durch viele Seitenstraßen, die ich gar nicht kannte. „Wohin gehen wir?“, wollte ich neugierig wissen. Er drückte meine Hand leicht. „Lass dich überraschen.“ Ok, ich liebe Überraschungen! Am Ende einer engen Seitenstraße befand sich ein kleiner Marktplatz. Ich traute meinen Augen nicht. Ich kannte diesen Ort! Am Ende des Marktplatzes erstreckte sich eine kleine aber atemberaubende Kirche. Die Kirche kam mir bekannt vor. Es war zwar Jahre her aber ich kannte die Bilder, die am Tag meiner Taufe gemacht wurden. Noah kannte diese Bilder auch. Mit offenem Mund starrte ich die helle Fassade der Kirche an. Noah konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Du solltest dein Gesicht mal sehen!“ Wie lange war es her, dass ich dort Mitglied der katholischen Kirche wurde? Vielleicht 17 Jahre. Auf jeden Fall eine Ewigkeit! „Wie hast du sie gefunden?“, fragte ich mit piepsiger Stimme und umarmte ihn. Er strich mit einer Hand über meinen Rücken und legte sein Kinn auf meinen Kopf. „Das war nicht schwer. Es gibt nicht viele kleine Marktplätze, die so ländlich aussehen. Nicht hier in dieser großen Stadt. Und ich dachte mir schon, dass deine Mutter dich hier hat taufen lassen. Immerhin wohnte sie hier in der Nähe“, erklärte Noah. Ich war so glücklich, hier begann meine Geschichte. Noah nahm wieder meine Hand und wir gingen auf den großen Eingang zu. Er öffnete die Türe und wartete, bis ich hindurch ging. Von innen sah die Kirche genauso schön aus, wie von außen. Sie war vielleicht nicht so groß, wie andere aber dafür glänzte sie mit vielen Malereien und Statuen. Ich ging auf den Altar zu und setzte mich auf die vorderste Bank. Demütig bestaunte ich das große Kreuz, welches über dem Altar aus Stein hing. Die Sonne schien durch die bunten Kirchenfenster. Die Stille war magisch. Noah setzte sich neben mich und nahm meine Hand. „Dafür, dass du in einer jüdischen Familie aufgewachsen bist, gehst du ganz schön oft in die Kirche“, bemerkte ich leise und musste grinsen. Noah erwiderte mein grinsen und kam mir einen leichten Stoß gegen die Schulter. „Religion ist Religion“, sagte er entschlossen und sah zu Jesus, der leidend am Kreuz abgebildet war. „Der Arme. Das muss ein grausamer Tod gewesen sein. Manche Menschen sind echt krank“, kommentierte er. „Schön war es ganz sicher nicht aber ehrenhaft“, mischte sich eine fremde Stimme ein. Wir zuckten beide zusammen und schauten zur Seite. Ein Pfarrer stand neben unserer Bank und lächelte uns an. Er sah recht jung aus. Seine Haare waren sehr kurz und hellbraun und soweit ich sehen konnte, waren seine Augen grün. „Der Gottesdienst fängt erst in einer Stunde an. Ich würde mich freuen, wenn ich sie dort sehen würde“, sprach der Pfarrer weiter. „Die jungen Menschen meiden diesen Ort zunehmend.“ Der Pfarrer strich über sein weißes Gewand und lächelte uns dann wieder an. „Ja, die meisten Jugendlichen glauben nicht an Gott“, bestätigte ich nachdenklich. „Tun sie es?“, fragte der Pfarrer neugierig und sah mir tief in die Augen. Ok, ich saß in einer Kirche und ein geistlicher befragte mich. Jetzt zu lügen wäre eine schlechte Idee. „Obwohl mein Verstand mir manchmal sagt, dass ich Zweifel haben sollte, kann mein Herz nicht anders. Also ja, ich glaube an Gott. Manchmal verstehe ich ihn allerdings nicht“, antwortete ich ehrlich. Der Pfarrer nickte verständnisvoll. „Manchmal geht es mir genauso. Es hilft meist genauer hinzusehen. Ich würde mich gerne weiter mit ihnen unterhalten aber ich muss den Gottesdienst vorbereiten. Wie gesagt, ich würde mich freuen, wenn sie daran teilnehmen“, stellte der Pfarrer freundlich fest und verabschiedete sich. Nachdem er verschwunden war, grinste mich Noah freudig an. „Er hat mich nicht raus geworfen!“, freute er sich. „Du hast dich ja auch benommen“, zwinkerte ich ihm zu. Normalerweise hatte Noah immer irgendwelche Sprüche parat. Plötzlich nahm Noah meine Handtasche von der Bank und kramte darin. „Was soll das?“ Er antwortete nicht, sondern holte eine kleine Schachtel heraus. Oh man! Er würde mir doch nicht etwa einen Heiratsantrag machen? Hier in der Kirche! Meine Augen weiteten sich und meine Atmung geriet außer Kontrolle. „Kein Antrag“, flüsterte er sofort. „Auch wenn ich nichts dagegen hätte, dich zu heiraten.“ Gut, denn wir waren wirklich noch zu jung! Langsam beruhigte ich mich wieder. Noah öffnete die schwarze Schachtel und hielt mir einen Ring hin. Der Ring war schwarz und auf dem Ring befand sich ein Kreuz, welches mit vielen Steinchen verziert wurde. Wunderschön! Er nahm meine Hand und zog ihn mir über meinen Ringfinger. „Ich liebe dich“, hauchte Noah und küsste mich. Es war romantisch aber noch so viel mehr. Es zeigte mir, dass er sich Gedanken machte. Er liebte mich, mit all meinen Interessen und Ticks. Er liebte mich, so wie ich wirklich war. „Ich liebe dich“, erwiderte ich, bekam aber im gleichen Moment ein schlechtes Gewissen. Wieso bekam ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich diesen Satz sagte?

Wir bewegten uns nicht weg, bis der Gottesdienst anfing. Der Pfarrer sah zuerst zu uns, bevor er anfing. Er lächelte und nickte in unsere Richtung. Während des ganzen Gottesdienstes hielt Noah meine Hand und zeichnete mit seinen Fingern das Kreuz an dem Ring nach. Er würde alles für mich tun. Doch war ich bereit, alles für ihn zu tun?

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