Donnerstag, 25. August 2016
Der Preis einer Chance
„Und? Wie findest du dieses Oberteil für meine Mutter?“, fragte ich ratlos, an Nicole gewandt. Sie ließ die Hosen los, die sie zuvor noch in ihrer Hand gehalten hatte und drehte sich zu mir. Kritisch musterte ich die dunkelblaue Bluse, die mit kleinen, weißen Blumen verziert war. Eigentlich fand ich die Bluse sehr schön, allerdings war ich immer unsicher, wenn es um ein Geburtstagsgeschenk für meine Mutter ging. Nicole schien den feinen Stoff in meinen Händen auch zu mögen, denn sie lächelte zufrieden. „Das würde ich kaufen. Ich kann mir deine Mama darin vorstellen“, bemerkte sie entschieden und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hosen-Stand neben sich zu.
Die letzten Tage waren echt eine Zerreißprobe für mich gewesen. Monatelang wusste ich nicht, wohin meine Zukunft führen würde und plötzlich musste ich eine wichtige Entscheidung, nach der nächsten treffen. Und ich spreche hier nicht von dieser Bluse…
Zunächst raffte ich mich am Montag zuvor auf, um schöne Bewerbungsfotos machen zu lassen. Dabei fühlte ich mich überhaupt nicht in der Verfassung. Weder körperlich, noch seelisch. Dazu kam noch, dass ich einen Pickel hatte, mitten auf der Stirn, wo indische Mädchen einen Punkt gemalt bekamen. Mit Mühe versuchte ich verschiedene Cremes anzuwenden aber nichts half. Trotzdem ignorierte ich dieses Ärgernis, zog mir eine schlichte, grüne Bluse an und machte einige Fotos. Der Pickel, der mich schon seit Tagen zu mobben schien, stach auf den Bildern gar nicht so sehr heraus.
Mit der letzten Motivation, die ich noch besaß, setzte ich mich am nächsten Tag an Marvins Schreibtisch und schrieb eine Bewerbung. Es ging nicht, um eine Ausbildung oder einen anspruchsvollen Beruf. Ich wollte lediglich einen Aushilfsjob haben, damit wenigstens etwas Geld in die Kasse kam. Mit Mühe stellte ich diese Bewerbung fertig und gab sie noch am gleichen Tag ab. Ich gab nicht nur eine Bewerbung ab, sondern schlug mir selbst ins Gesicht. Denn jetzt sollte ich endlich aufwachen und anfangen zu Leben. Am Abend war ich extrem müde, wollte nur noch schlafen aber gleichzeitig auch über alles nachdenken. Meine Gefühle schwankten von hoffnungsvoll, zu hoffnungslos. Das gewöhnliche Pendel meines Lebens.
Dann, am nächsten Tag, geschah es. Die Universität nahm mich an! Vollkommen überwältigt saß ich dort, im Büro der Uni, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Würde ich das schaffen? Wollte ich das schaffen? Und viele andere Fragen, bohrten sich in meinen Schädel. Vor einigen Jahren noch, war es mein Traum gewesen, Theologie und Geschichte zu studieren. Jetzt war meine Zeit gekommen! (…)
Nun stand ich im Einkaufszentrum und hielt diese Bluse in der Hand, in welcher ich mir Mama auch gut vorstellen konnte. Ich beschloss, keine große Sache daraus zu machen und lief schnell zur Kasse. (…)
Nach dem Einkauf fuhren Nicole und ich zum Hafen, um dort in einem Restaurant eine Kleinigkeit zu essen. Wir suchten uns draußen einen Platz im Schatten, weil es so verdammt heiß an diesem Tag war. Das Restaurant war gut besucht und wir wurden zügig und freundlich bedient. Alles wirkte für einen halben Tag lang perfekt. Mein Leben würde vielleicht Form annehmen. Bis ich Nicole beim Sprechen zuhörte…also, wirklich zuhörte. „Also, ich habe ja momentan keine Lust auf einen Job. Vor allem auch kellnern oder sowas…total anstrengend. Naja, ich kriege schon irgendwie Geld von zu Hause. Außerdem hat man ja auch keine Zeit zu arbeiten, wenn man so studieren muss, wie ich bald. Da kann ich wohl erwarten, dass man mich unterstützt“, sie spießte eine Pommes mit der Gabel auf und führte sie zum Mund. Als die Pommes ihren Weg in den Magen gefunden hatte, sprach Nicole weiter. „Und da ist dieses coole Festival am Wochenende. Ok, das kostet auch so um die 100 Euro aber das gibt mir meine Mutter schon.“ Während sie so redete, wurde mir bewusst, wie verschieden wir beide waren. Wie verzogen und selbstsüchtig Nicole doch war und das ich nie im Leben so sein wollte. Mein Blick fiel auf den Holztisch vor uns. Zwei riesige Schnitzel türmten sich auf unseren Tellern. Die Pommes unter ihnen bildeten einen perfekten Berg. Der Salat daneben durfte natürlich auch nicht fehlen. Das war viel zu viel Essen für zwei Mädchen, wie wir es waren. Klein und zierlich. Kopfschüttelnd stopfte ich mir das Essen in den Mund aber es fühlte sich mit jedem Bissen schlechter an. (…)
Zugegeben war ich froh, alleine in meinem Zimmer zu sitzen, ganz ohne Nicole. Dieses oberflächliche Gerede konnte ich an manchen Tagen nicht ertragen. Müde streckte ich mich aus und kuschelte mich in meine Bettdecke. Vielleicht würde ich auf dieser Welt eines Tages etwas verändern können. Meine Zimmertür war einen Spaltbreit offen, weshalb ich meine Großeltern hören konnte, die in der Küche saßen und sich unterhielten. Doch ich hörte erst mit, als mein Name fiel. Neugierig spitzte ich die Ohren. „Ich möchte das sie studiert aber das sind 500 Euro pro halbes Jahr…und das wird mindestens 5 Jahre so gehen“, stellte mein Opa nachdenklich fest. „Wissen wir, dass sie es schafft? Wie wollen wir das machen?“ Meine Kinnlade fiel runter und ich setzte mich auf. 500 Euro? Jedes halbe Jahr?! So Kosten hatte ich ehrlich gesagt nicht erwartet. Geschockt setzte ich mich auf den Bettrand, bis sogar eine Träne an meiner Wange runter kullerte. Die Freude über das Studium war wie weggeblasen. Ab jetzt sah ich nur noch die Rechnungen vor meinem inneren Auge. Und meine verzweifelte Oma, wie sie versuchte, alles selbst zu bezahlen. War diese Summe das wert? Nur, um eine Chance auf einen Abschluss zu kriegen? Es bestand immer noch die gute Möglichkeit, dass ich komplett versagen würde. Das war gar nicht mal so unwahrscheinlich. Dieses Geld würden wir nie wieder sehen. Erschüttert fing ich an zu weinen. Es musste doch eine Lösung geben…meine Oma kam in mein Zimmer, wie immer, ohne zu klopfen. „Warum weinst du?“, fragte sie überrascht. Empört stand ich auf und lief in meinem Zimmer auf und ab. „Ihr habt mir nicht erzählt, dass es so teuer ist. Das könnt ihr nicht alleine bezahlen…ich meine, wir haben ja so schon kaum Geld für Freizeit oder ähnliches. Also, wir können mein Auto verkaufen oder ich mache eine einfache Ausbildung. Das reicht“, sagte ich aufgebracht. „Wir verkaufen das Auto nicht. Du brauchst das“, widersprach mir meine Oma. In materiellen Dingen unterstützte mich meine Oma wirklich intensiv. „Wir können morgen darüber reden…aber wir bezahlen dir das schon.“ Ich stemmte meine Hände in die Hüften und blieb stehen. „Und was ist, wenn ich durchfalle? Wenn all das Geld umsonst weg ist?“, wollte ich ernsthaft wissen. Sie würden mir den Verlust des Geldes ewig vorhalten. Vermutlich wäre ich die Enttäuschung der Familie. „Daran solltest du jetzt nicht denken“, ermahnte sie mich zuversichtlich. „Aber wir müssen alle Möglichkeiten bedenken. Das ist wichtig“, bemerkte ich sofort. „Wir reden morgen darüber…ich gehe jetzt schlafen“, verabschiedete sie sich. „Und weine nicht.“ (…)
Der Abend verlief dann nicht mehr so gut. Einfach nur im Bett liegend, hörte mein Kopf nicht auf nachzudenken. Das war viel Geld und meine Großeltern lebten von einer kleinen Rente. Meine Eltern kümmerten sich einen Dreck um meine Zukunft. Die konnte ich vergessen…eventuell würde meine Mutter etwas dazu geben aber das war´s schon. Das meiste der Kosten würde an meinen Großeltern hängen bleiben. >>Was machst du?“ <<, schrieb ich Marvin, mit tränenüberströmten Gesicht. >> Ich bin bei meinem Kumpel… <<, antwortete er. Wir schrieben hin und her. Er wollte mich aufbauen aber durch Nachrichten, fühlt man sich meistens nie besser, als vorher. Irgendwann antwortete er gar nicht mehr. Sein Handy war vermutlich aus. Und er…er war noch bei seinem Kumpel, kurz vor Mitternacht, obwohl er am nächsten Tag früh raus musste. Klar, war ich nicht seine Mutter aber direkt schossen mir Bilder von einem kiffenden Marvin in den Kopf. Seine Augen gerötet, sein Gesicht aschfahl. Erschöpft blinzelte ich die Bilder weg und drückte meinen Körper tiefer in meine Matratze. Schade, dass ich nicht ganz in ihr verschwinden konnte. Ich musste aufhören, mich so um Marvin zu sorgen. Er musste auch mal einige Tage ohne mich zurechtkommen. Diese ständige Sorge, er würde in sein altes Muster zurück fallen, machte mich kaputt. Liebe hat auch seine Schattenseiten. Ich musste mich jedoch zusammenreißen, schließlich ging mein Leben bald los. Eins wusste ich…ich wollte nicht, die Enttäuschung meiner Familie sein. Doch welchen Preis bezahlen Menschen, um nur eine Chance zu haben?

... link