Freitag, 3. Juni 2016
Der Sturm
„Komm schon!“, jammerte ich aufgeregt und zupfte an Leonies Ärmel. Sie trug eine rote Bluse und schwarze, eng anliegende Jeans. Ihre hellen Haare fielen ihr glatt auf den Rücken. Sie sah irgendwie aus, wie ein Engel. „Wie oft soll ich das noch sagen? Nein!“, sagte sie genervt und zog ihren Arm weg. Sie ging durch das Wohnzimmer der WG und setzte sich auf die große Eck-Couch. „Wir sollen hier auf meinen Bruder und eure Freunde warten. Ich hab nicht so oft Ausgang und will mir das nicht verscherzen.“ Ich würde sie schon noch überreden. Immerhin war sie keine Schwerverbrecherin! Ok, sie lebte in einer Psychiatrie aber eigentlich machte sie einen ordentlichen Eindruck. Manchmal war sie mir sogar ähnlicher, als mir lieb war. Ich ging zur Balkontüre und deutete nach draußen. Draußen wurde der Himmel immer dunkler, obwohl wir erst Nachmittag hatten. Es blitzte und donnerte anschließend laut. Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben und der Wind war so stark, dass man ihn schon hören konnte. „Bei diesem Wetter wird es sowieso dauern, bis die vom Einkauf zurück sind. Außerdem habe ich nicht so oft die Chance raus zu gehen und solche Bilder zu machen“, stellte ich entschieden fest. Ich musste da einfach raus! Seit Kindertagen an faszinierte mich jedes Unwetter. Ich studierte die Wetterlage schon seit Jahren. Mein Ziel wurde es, einmal im Leben einen Tornado zu sehen. Keine Ahnung woher meine Passion kam aber so war es. Jedes Gewitter gab mir die Möglichkeit meinem Traum näher zu kommen. Die Natur ist eben stärker, als der Mensch. Wir müssen uns damit abfinden und das Beste daraus machen. Dank des Klimawandels wurden diese Gewitter leider häufiger. Leider, weil es Auswirkungen auf die ganze Menschheit haben würde. Und das war mein Traum definitiv nicht wert.
„Du versprichst dir nicht wirklich einen Tornado zu sehen“, sagte Leonie skeptisch und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ich zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Aber immerhin kann ich vielleicht einige Blitze fotografieren.“ Ich war realistisch. Die Wahrscheinlichkeit hier einen Tornado zu entdecken war geringer, als zum Beispiel in den USA. Leonie atmete hörbar aus. „Du wirst nicht locker lassen, oder?“, fragte sie hoffnungslos. „Ich darf dich hier nicht alleine lassen“, warf ich ein. Leonie durfte nur an dem Tag zu ihrer Familie. Und ihre Familie war nun mal Nick, der Freund meiner Freundin Dana. Meiner Meinung nach übertrieben die Leute aus der Klinik maßlos. Plötzlich erhellte ein Blitz den gesamten Raum und kurz darauf donnerte es so laut, dass die Fensterscheiben klapperten. Wir zuckten beide zusammen und starrten nach draußen. „Das Unwetter ist direkt über uns“, stellte ich aufgeregt fest. „Und du willst da echt raus?“, wollte Leonie skeptisch wissen und stand auf einmal neben mir. Ich konnte sie nicht zwingen dort raus zu gehen. Mir wurde klar, dass es gefährlich werden könnte. Und so verrückt war ich auch nicht. „Du kannst hier bleiben.“
Ich ging in den Flur und zog mir meine dunkelgrüne Jacke an und braune Stiefel. Anschließend rannte ich in Noahs Zimmer und holte seine Kamera vom Schreibtisch. Als ich wiederkam, stand Leonie ebenfalls in Jacke und Schuhe im Flur. „Bist du sicher?“ Sie nickte.

Wir saßen im Auto und ich versuchte mir einen Weg durch die Straßen der Stadt zu bahnen. Keine Menschenseele war zu sehen. Anscheinend waren wir die einzigen Verrückten hier draußen. Immerhin sah es dort aus, wie beim Weltuntergang. Die Straße war eine einzige, große Pfütze. Die Abwasserkanäle liefen über und sorgten für noch mehr Überschwemmung. Der starke Regen knallte gegen das Autodach und machte es mir noch schwerer, irgendetwas zu sehen. Aber am schlimmsten war der Wind, der den Regen aufwirbelte und mein Auto hin und her schaukelte. Es war unmöglich so weiter zu fahren, also parkte ich am Straßenrand und schaltete den Motor ab. Zeitungen flogen durch die Luft, während man immer wieder etwas krachen oder donnern hörte. „Sowas habe ich hier noch nie gesehen“, bemerkte ich erstaunt. Erneut erhellte ein Blitz die Gegend und ein Donner ließ mein Auto vibrieren. Dann kam der Hagel. Dicke, weiße Golfbälle, die auf meine Windschutzscheibe knallten. „Vielleicht war es doch keine gute Idee mitzukommen“, dachte Leonie unsicher nach. Sie hatte Angst, das war verständlich. Aber ich war viel zu fasziniert, als das ich jetzt nach Hause rennen würde. „Zu Fuß dauert es zehn Minuten nach Hause. Du kannst rennen, wenn du willst. Mit dem Auto kommen wir nicht mehr weit“, erklärte ich laut, weil der Hagel mich fast übertönte. „Was ist mit dir?!“ Leonie sah mich plötzlich panisch an. „Ich renne in die andere Richtung. Fünf Minuten von hier ist ein Feld. Dort sehe ich vielleicht etwas“, rief ich über den Hagel hinweg. „Bist du irre?!“, schrie Leonie entsetzt. „Mach doch einfach von hier aus Bilder und komm mit mir!“ Ironie des Schicksals, dass grade sie mich „irre“ nannte. „Hier sieht man kaum etwas“, entgegnete ich. „Ich lasse dich nicht alleine.“ Damit war es wieder beschlossene Sache. Wir knüpften unsere Jacken zu, warfen unsere Kapuzen über, atmeten durch und öffneten die Autotüren.

Noch nie hatte ich etwas Derartiges an diesem Ort gesehen. Die Wolken waren nicht mehr grau, sie wurden schwarz. Vor uns musste das Feld liegen aber man sah und hörte nichts mehr, außer den Sturm. Der Regen schmerzte, als er auf die Haut prallte aber wenigstens hatte der Hagel nachgelassen. Immer wieder konnte man riesige Blitze am Horizont sehen. Leonie und ich waren durchnässt, bis auf die Unterwäsche. Sie stand hinter mir, während ich einige Bilder vom Himmel schoss. Soweit man überhaupt etwas sehen konnte. Plötzlich pfiff der Wind seltsam und die Wolken über dem Feld begannen sich im Kreis zu drehen. Ich bekam eine unglaubliche Gänsehaut. „Ehm…“, hörte ich Leonie rufen. Sie packte mich an meinem Arm und wollte mich weg ziehen. Doch meine Beine bewegten sich kein Stück. Die Wolken schienen immer näher an den Boden zu kommen, während sie sich immer schneller drehten. Wenn sie Bodenkontakt bekamen, war es offiziell: ein Tornado. Der Wind wurde währenddessen immer stärker und drohte mich zum Feld zu ziehen. Ich hielt meine Kamera bereit, bis ich wieder zu mir kam. Hinter mir stand Leonie, völlig panisch und versuchte meine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Hallo?! Wir stehen hier ungeschützt! Was soll der Mist?!“, kreischte sie beinahe. Sie hatte recht. Wir standen fast auf dem Feld und wenn es wirklich Bodenkontakt bekommen würde, wären wir geliefert gewesen. Ich sah zu ihr. Leonies Mascara war komplett verschmiert und ihre Haare klebten Nass auf ihren Wangen. Ich sah wahrscheinlich genauso aus. „Wir hauen hier ab!“, rief ich schließlich und nahm ihre Hand. Diese Bilder waren mir keine Menschenleben wert. Ich schaute nicht mehr zurück, sondern konzentrierte mich darauf Leonie in Sicherheit zu bringen. Wir liefen in Richtung Spielplatz, denn dort befand sich ein kleiner Tunnel in einem Hügel. Es war eine Art Höhle, in der sich die Kinder verstecken konnten. Beispielsweise um Fuchs-Familie zu spielen, so wie ich das damals gemacht hätte. Der Wind wurde immer lauter und stärker aber wir retteten uns und kletterten in diese Höhle.

Es wurde so Still, die Welt schien stehen geblieben zu sein. Leonies Handy begann zu klingeln, also hatten wir wieder Empfang. Wir kletterten aus der Höhle. Sie ging dran und sprach anscheinend mit einem besorgten Nick, dem sie unseren Standort schickte.
Ich sah mich um. Im Wald hinter uns waren zahlreiche Bäume entwurzelt. Überall lag Müll und die Straßen vor uns standen unter Wasser. Leonie kam neben mich und sah sich ebenfalls um. Unsere Haare waren nass und vom Wind zerzaust. Von unseren Klamotten möchte ich gar nicht erst anfangen. „Danke“, sagte Leonie plötzlich und lächelte mich an. Verwundert wandte ich mich zu ihr. „Wofür?“, fragte ich verdutzt. Sie stemmte die Hände in die Hüften uns sah sich nochmal um. „Also ich muss zugeben, ich hatte echt Angst. Aber irgendwie war es schon cool!“, gab sie lachend zu. „Außerdem hast du deinen Traum vielleicht einen Tornado zu sehen platzten lassen, nur um mich dort wegzubringen.“ Ich erwiderte ihr lächeln und starrte auf die Kamera in meiner Hand. „Es sind dennoch coole Bilder geworden. Danke, dass du mitgekommen bist.“ In dem Moment kamen die Jungs auf uns zu. Besorgt und völlig außer sich stampfte Nick durch den nassen Sand, der auf einem Spielplatz üblich ist. Er bedachte erst mich mit einem bösen Blick und schloss Leonie anschließend in seine Arme. Noah kam auf mich zu und nahm mein Gesicht in seine Hände. Er strich mit seinen Fingern über meine Wangen und musterte mich prüfend. Die beiden waren ebenfalls nass und zerzaust. „Wir haben euch überall gesucht! Was sollte der Scheiß?! Ihr solltet doch zu Hause bleiben, verdammt nochmal!“, fuhr Nick uns an, als er sich von Leonie löste. Noah löste sich auch von mir und warf uns einen fragenden Blick zu. Nick sah auf meine Hand, in der sich immer noch die Kamera befand. Seine Augen verengten sich zu schlitzen, als er mir direkt in meine sah. „Also stimmt das, was Dana mir erzählt hat! Was hast du dir dabei gedacht?! Nur weil du so krass auf Stürme stehst, hast du meine Schwester in Lebensgefahr gebracht?! Tickst du noch ganz sauber?!“, brüllte Nick mich vorwurfsvoll an. Er kam auf mich zu aber Noah legte seine Hand bedrohlich auf Nicks Brust. „Komm ihr nicht zu nah, Mann.“ Leonie nahm ihren Bruder an der Hand und zog ihn weg. „Es war meine Entscheidung“, mischte sie sich ruhig ein. „Aber ihre Idee!“, knurrte Nick.
„Es ist nichts passiert. Ich hatte alles unter Kontrolle“, bemerkte ich mit heiserer Stimme. Ich musste schlucken, denn zeitweise stimmte das nicht. Beinahe wären wir weg geflogen. Und bei einem Gewitter auf einem Feld zu stehen war auch nicht die beste Idee des Jahres gewesen. Nick sagte kein Wort mehr. Er nahm seine Schwester und ging fort.
„Ich sag ja, ich kann diesen Typen nicht leiden“, meldete sich Noah zu Wort, als er in die Richtung schaute, in der Nick und Leonie verschwunden waren. Mich wunderte, dass er mich nicht anbrüllte und sauer war. Noah wandte sich wieder mir zu und nahm mir die Kamera aus der Hand. „Du hast gar nicht gefragt, ob du sie dir leihen kannst“, stellte er belustigt fest. Verwundert suchte ich seinen Blick. Sein graues Shirt, war es vorher noch heller gewesen, war jetzt aufgrund der Nässe fast schwarz. Man erkannte die Konturen seiner Muskeln. „Bist du nicht sauer auf mich?“, fragte ich vorsichtig. Er legte eine Hand um meinen Nacken und küsste mich. „Du hast mir eine scheiß Angst eingejagt aber ich kenne dich. Honey, du machst immer verrückte Sachen“, bemerkte er danach.
Das stimmte wohl. Langsam begann ich mich zu fragen, ob sie später Leonie zurück in die Klinik bringen würden oder mich.

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