Donnerstag, 10. November 2016
Der Zug
Noah:
Ich weiß nicht mit welchem Fluch mich diese Frau belegt hatte aber ich konnte nicht anders, ich konnte nur sie lieben. Natürlich habe ich in den Monaten, in denen wir keinen Kontakt hatten, wirklich versucht mit anderen Mädchen auszugehen. Ich habe es wirklich versucht. Aber an jeder hatte ich etwas auszusetzen, denn sie waren nicht Haylie. Und dann, nachdem wir fast das ganze Jahr keinen Kontakt mehr gehabt hatten, sah ich sie. Ich erkannte den Rucksack sofort, denn diesen hatten wir zusammen im Internet bestellt. Ich weiß noch ganz genau, wie enttäuscht Haylie war, als sie bemerkt hatte, dass der Rucksack aus Stoff war und nicht aus Kunstleder. Und da sah ich diesen Rucksack wieder. An der linken Schulter drohte er abzurutschen, als sie so an mir vorbei torkelte, um sich einen freien Platz im Zug zu suchen. Sie entschied sich für die freie Reihe, nur wenige Meter von mir entfernt. Natürlich hatte sie mich nicht gesehen, denn sie schenkte den wenigen Menschen im Zug keine Beachtung. Haylie steuerte ihren Platz direkt an und legte sich hin, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Ihren Rucksack schmiss sie auf den Boden, während sie ihren Kopf an die Fensterscheibe lehnte und erschöpft die Augen schloss. Ihr Brustkorb bewegte sich schnell, also musste sie gerannt sein. Das erkannte man auch an ihren geröteten Wangen und ihren bebenden Nasenflügeln. Man erkennt sofort, wenn Haylie gerannt ist.
Ich wollte hingehen und sie endlich wieder reden hören aber was sollte ich sagen? „Und, wie läuft es mit deinem Freund?“ Niemals. Das würde mein Herz nur noch schlimmer herausreißen. Stattdessen musterte ich sie weiter. Sie trug ein grün, kariertes Hemd und enge, graue Jeans. Ihre Haare waren zu einem Zopf gebunden. Ich erkannte ihre Kreuz-Kette, die etwas demolierter aussah, als ich sie in Erinnerung hatte.
Kurz öffnete sie ihre Augen und schaute hinaus aber bald darauf fielen sie wieder zu. Da dachte ich mir, scheiß drauf, ich gehe zu ihr! Zögernd stand ich auf und ging auf ihren Platz zu. Als ich dort ankam, waren ihre Augen noch geschlossen. Ich wollte sie antippen, wollte ihr sagen, dass ich sie brauchte aber ich tat es nicht. War es falsch? Vermutlich. Es würde sie wieder aufwühlen und ihr ein schlechtes Gewissen machen, weil sie mich so verletzt hatte. Sie würde wieder meine Gefühle lesen und mitleiden. Plötzlich fing sie an, an ihrer Unterlippe zu kauen und wie gerne hätte ich sie wach geküsst. Aber ich tat es nicht, sondern ging rückwärts zurück auf meinen Platz.
Als sie den Zug verließ, sah ich ihr durch das Fenster nach. Sie half einer Frau ihren Kinderwagen die Treppe herunter zu schleppen. Und das, obwohl sie rennen musste, um ihren Zug zu bekommen (das wusste ich, denn ich hatte per Handy nachgesehen). Ein tiefer Schmerz breitete sich in meiner Brust aus, als sie in meine Richtung schaute, mich aber nicht zu sehen schien…der Zug fuhr weiter.

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