Freitag, 9. September 2016
Die Chance
Der Kaffee sickerte langsam in die Kanne. Selbst das Geräusch machte mich verrückt. Konzentriert wartete ich darauf, dass die Kaffeemaschine endlich zum Ende kam. Nachdem die Kanne endgültig aufgefüllt war, nahm ich diese und zwei Tassen und ging auf meinen Balkon. Dana wartete dort auf mich. Sie streckte sich in dem Gartenstuhl und zog noch einmal an ihrer Zigarette. Neuerdings hatte sie sich zu einer Kettenraucherin entwickelt. Müde reichte ich ihr eine Tasse und füllte sie mit Kaffee auf. Milch und Zucker standen schon auf dem Tisch. Zum Glück, denn noch einmal wollte ich wirklich nicht in die Küche. Mit jedem Schritt wurde das Dröhnen in meinem Schädel extremer. Seufzend setzte ich mich auf einen Stuhl und starrte die braune Flüssigkeit in der Kanne an. „Wow, du siehst echt zerstört aus. Weißt du was dabei hilft? Urlaub! Fahr einfach in die Berge...Nein, warte…deine Höhenangst. Fahr ans Meer…nein warte, du kannst nicht schwimmen. Hast du schon mal etwas von einem Kurzentrum für Senioren gehört? Das wäre was für dich!“, scherzte Dana los und grinste, wie ein Honigkuchenpferd. Zugegeben musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Stattdessen verzog ich das Gesicht und schüttelte mit dem Kopf. „Du bist sehr…aufbauend…“, bemerkte ich sarkastisch und füllte auch meine Tasse mit Kaffee auf. Dana warf ihre roten Locken nach hinten und lächelte mich an. „Hast du schon wieder Stress mit Marv- Marv?“, fragte sie schließlich. Hoffnungslos nippte ich an meinem Kaffee und ignorierte den seltsamen Spitznamen, den Dana plötzlich für Marvin hatte. „Meine Mom hat ihn eingeladen…für morgen“, sagte ich trocken und schaute in den Wald, der gegenüber von meiner Wohnung ragte. „Lass mich raten und er ist nicht so begeistert mitzugehen?“, traf sie genau ins Schwarze. Überrascht schaute ich doch in ihr blasses, Porzellangesicht und fragte mich, woher sie solche Sachen immer genau wusste. Vielleicht hatte sie ja auch eine Gabe, ein drittes Auge. Oder, sie kannte mich einfach nur zu gut. „Sie ist meine Mutter…du weißt, ich werde sie nie richtig aus meinem Leben löschen können“, stellte ich ernst fest und nahm noch einen großen Schluck Kaffee. Als könnte der Kaffee meine Probleme lösen. Dana zündete sich währenddessen noch eine Zigarette an und bedachte mich mit einem wissenden Blick. „Du hast bestimmt keine gute Werbung für deine Mutter gemacht“, warf sie ein. „Hab nur die Wahrheit gesagt“, ich zuckte mit den Achseln. Nachdem sie eine große Nikotinwolke ausgepustet hatte, lehnte sie sich über den kleinen Tisch und suchte meinen Blick. „Das ist doch so, die Wahrheit wollen die Menschen nicht wirklich hören. Stell dir mal vor, ich sage dir, dass meine Mutter mich seelisch echt misshandelt hat. Sie ist eine Furie und kümmert sich einen Scheißdreck um mich und meine Probleme…ach ja aber sie möchte, dass du morgen zum Essen kommst. Würdest du diese Einladung gerne annehmen? Natürlich zögert man. Nicht jeder versucht direkt an den christlichen Weg zu denken und man bildet sich automatisch ein Urteil.“
Nachdenklich verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Meinst du, ich hätte ihm das nicht erzählen sollen?“, hakte ich nach. Dana trank einen Schluck und dachte kurz nach. „Normalerweise hätte ich gesagt, lass jedem eine Chance sich selbst ein Bild zu machen. Allerdings wimmelt es von guten Schauspielern in deiner Familie, also ist eine Vorwarnung immer gut. Nicht, dass er sich blenden lässt. Naja, sei auf jeden Fall nicht allzu sauer. Ich wäre da am Anfang auch nicht scharf drauf“, meinte Dana verständnisvoll. Erschöpft stützte ich meine Ellbogen auf den Tisch, damit meine Hände meinen Kopf halten konnten, der immer schwerer wurde. Die Kopfschmerzen ließen einfach nicht nach. „Dir geht’s echt dreckig, oder?“, wollte Dana mitfühlend wissen. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie…“, gestand ich leise. Mein Handy klingelte und der Klingelton dröhnte in meinen Ohren, wie tausend Messerstiche. Eine fremde Nummer blitzte auf. Toll, wer zum Teufel nervte mich jetzt? Genervt aber freundlich nahm ich den Anruf entgegen. „Hallo, wir sind von ihrer Telefongesellschaft und wollen ihnen ein super tolles Angebot machen, welches sie eigentlich gar nicht abschlagen können“, begrüßte mich ein seltsamer Typ. Dafür hatte ich keine Nerven. „Das Handy läuft auf dem Namen meiner Großmutter. Bitte, wenden sie sich an sie“, versuchte ich den Typen abzuwimmeln. Dana sah mich mitleidig an, als wüsste sie, wie mir jedes Wort im Ohr schmerzte. „Sie sind volljährig. Das heißt, sie könnten den Tarif einfach annehmen und ihre Oma könnte es später wieder kündigen, wenn sie möchte. Dadurch sparen sie echt Geld!“, wollte mir der Kerl schmackhaft machen. Meine Hand ballte sich zu einer Faust. „Ich spare sowieso kein Geld, weil bei ihnen eh nur Abzocker arbeiten! Wenden sie sich an meine Oma oder an meinen verdammten Anwalt! Leben sie wohl und gehen sie mit Gott!“, zischte ich in den Hörer und legte auf. Dana hielt sich schockiert die Hand vor den Mund. Sie musste sich sehr zusammenreißen, nicht sofort einen Lachanfall zu kriegen. „Also dich würde ich nie wieder anrufen…“, kicherte sie beeindruckt. Ich dagegen war außer mir und fuchtelte verzweifelt mit den Händen. „Alle rufen mich nur an, um Geld zu bekommen aber einen beschissenen Job habe ich immer noch nicht!“, rief ich dramatisch aus. „Ich brauche doch nur ein Zeichen…irgendein Zeichen, dass mich Leute brauchen und es endlich weiter geht! Oh, Gott!“ Wie auf Kommando klingelte mein Handy erneut. Wieder eine fremde Nummer. Geschockt starrte Dana mein Handy an, denn sie glaubte wahrscheinlich, dass ich den Typen endgültig auseinander nehmen würde. Knurrend nahm ich den Anruf entgegen. „Was denn jetzt noch?!“, fauchte ich in den Hörer. „Ehm…Guten Tag. Wir rufen wegen ihrer Bewerbung für unseren Betrieb an. Sind wir richtig bei ihnen?“, meldete sich eine freundliche, etwas irritierte Stimme zu Wort. Entgeistert hielt ich inne und verarbeitete diesen Satz. Dana musterte mich verwirrt. Mit weit aufgerissenen Augen sprang ich auf und strich mir die Sportkleidung glatt, so als könne der Filialleiter mich durch den Hörer sehen. „Eh…ja, ja! Sie sind richtig. Also ich fange bald mit dem Studium an aber könnte in Teilzeit bei ihnen arbeiten, wenn ihnen das recht ist“, sagte ich plötzlich mit meiner süßen Engelsstimme. Die Wut war verflogen und Hoffnung keimte auf. „Ja, mehr brauchen wir auch nicht. Ich würde sagen, sie kommen Montag einfach vorbei und wir reden in Ruhe über alles weitere“, schlug der Mann zuversichtlich vor. „Ja! Total gerne, ich freue mich! Bis Montag dann!“, quiekte ich fast schon in den Hörer und wir beendeten das Gespräch. Urplötzlich verschwanden meine Kopfschmerzen und ich setzte mich auf den Stuhl, als hätte ich grade eine göttliche Erscheinung gehabt. „Deine Stimmungen ändern sich ja rasant“, bemerkte Dana belustigt und sah mich fragend an. „Für andere Leute ist es vielleicht nur eine Chance auf einen mickrigen Nebenjob. Für mich ist es aber endlich etwas, wofür ich aufstehen kann. Zumindest meine Geldsorgen würden sich etwas in Luft auflösen. Das ist doch schon einmal ein Anfang…“, erzählte ich beruhigt und lächelte. Dana hob ihre Tasse. „Auch kleine Erfolge müssen gefeiert werden! Auf eine Chance!“, sagte sie feierlich. „Auf eine Chance!“, pflichtete ich ihr bei und hob auch meine Tasse.

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