Mittwoch, 8. Juni 2016
Die Flut
Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in einer kleinen Boutique, um ein schönes Kleid für meinen Abschlussball zu finden. Doch es hatte auch etwas Gutes, schwitzend in der Umkleidekabine zu stehen, während eine aufgedrehte Verkäuferin an mir herum zupfte. Meine Mutter war dort, saß mit meinen beiden Geschwistern auf dem Wartesofa und lächelte mir zu. Das war das erste Mal seit einer sehr langen Zeit, dass wir etwas gemeinsam machten. Nach gefühlt einer halben Stunde hatte die Verkäuferin fertig gezupft und ich kam aus der Umkleidekabine. Vor mir stand ein großer Spiegel, indem ich das wunderschöne Kleid begutachten konnte. Es war ein Traum! Wie ein hell-rosa Wasserfall fiel der Stoff über meinen Körper. Ich drehte mich stolz um die eigene Achse und lächelte. Das war so gut, wie gekauft! Es erinnerte mich sofort an das Kleid von *Jennifer Lopez* in dem Film *Manhattan Love Story*. Einfach bezaubernd. Mein vierjähriger Bruder Dejan klatschte begeistert in die Hände, was schon mal ein gutes Zeichen war. Auch meine zehnjährige Schwester Mira strahlte zufrieden. Meine Mutter stand auf und musterte mich. „Es ist teurer, als eingeplant. Aber egal! Es steht dir super! Das nehmen wir“, stellte sie entschlossen fest. Ich nickte und strich über den schönen Stoff, bevor ich in der Umkleidekabine verschwand und mich heraus kämpfte. Egal, wie toll lange Kleider sind…es ist immer richtig kompliziert, sich unbeschadet zu entkleiden.

Mit dem Kleid im Kofferraum fuhren wir durch die Stadt, um zum Haus meiner Mutter zu gelangen. Mira und Dejan saßen hinten im Auto, während ich neben meiner Mutter auf dem Beifahrersitz saß. Das Radio spielte einen alten Klassiker, der mir nach kurzer Zeit schon auf die Nerven ging. Kurz bevor ich umschalten konnte, raschelte das Radio extrem und wir schalteten es direkt ganz aus. Die Wolken wechselten schlagartig von grau, zu beinahe schwarz. „Was ist denn jetzt los?“, fragte meine Mutter und schaute in den Himmel. Kaum hatte sie gefragt, prasselte der Regen auf das Autodach. Wir mussten noch mindestens eine halbe Stunde fahren. Doch aufgrund des starken Regens, konnte man kaum etwas sehen. Man erkannte nur noch die Bremslichter des Autos vor uns. Die Autos fuhren nur noch Schrittgeschwindigkeit, währenddessen entwickelte sich der Regen zu einem heftigen Sturm. Große Wassermassen sammelten sich auf der Straße. Das Auto wackelte enorm und ein heftiger Donner schreckte uns auf. So fuhren wir einige Minuten, bis der Verkehr vollkommen zum Stillstand gekommen war. Man hörte nur noch laute Sirenen und den Sturm. Blaues Licht blinkte vor dem Auto vor uns. Die Feuerwehr blockierte die Straße, die beinahe einem Fluss glich. Dejan, der wahnsinnige Angst vor Unwettern hatte, fing bereits an zu jammern. Meine Mutter schnallte sich ab und beugte sich nach vorne, um besser sehen zu können. „Wir kommen hier nicht weiter“, bemerkte sie nachdenklich. Sie strich sich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht. Eine Sorgenfalte bildete sich auf ihrer Stirn. „Was machen wir jetzt?“, wollte ich wissen und beobachtete die vielen Lichter der Feuerwehr. Der Wind drückte unser Auto gegen den Bordstein neben uns. Mama zog die Handbremse und schaltete den Motor ab. „Vielleicht wurde die Straße gesperrt. Ich gehe fragen. Ihr bleibt hier“, befahl Mama und öffnete die Auto-Türe. „Pass auf die Kinder auf!“ Sie knallte die Türe zu und bald darauf verschwand sie im Regen und ich konnte sie nicht mehr sehen.

Es war, als würde jemand einen riesigen Eimer mit Wasser über die Straßen kippen. Es wurde immer mehr. „Wo bleibt Mama?“, fragte Mira von hinten. Ich drehte mich im Beifahrersitz um und sah meine kleinen Geschwister an, die langsam ängstlich wurden. Mira war sehr zierlich und klein. Sie hatte kurze, braune Haare, die sie meistens mit einer Spange zurück steckte. Dejan hatte ebenfalls braune Haare, allerdings waren seine sehr lockig. Beide saßen auf ihren Kindersitzen und spielten nervös mit den Fingern. „Ich weiß es nicht. Aber sie wird gleich wieder kommen“, versuchte ich die beiden zu beruhigen. Allmählich wurde ich auch unsicher, denn das Wasser auf der Straße wurde immer tiefer. Ich kletterte über die Mittelkonsole auf den Fahrersitz und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Ich dachte, vielleicht könnte ich das Auto auf einen Parkplatz fahren. Doch der Motor machte nur ungesunde Geräusche und blieb aus. Toll. Die Donner über unseren Köpfen wurden immer lauter und die Blitze immer heller. Normalerweise würde ich mich über ein Unwetter freuen, wenn nicht meine beiden Geschwister vor Angst zittern würden. Dejan fing an zu weinen. „Ich will nach Hause!“, jammerte er panisch. Ich kletterte wieder über die Mittelkonsole aber diesmal auf die Rücksitze. Anschließend nahm ich eine kleine Hand von Dejan und lächelte. „Dir wird nichts passieren. Mama kommt gleich“, sagte ich ruhig. Mira beugte sich nach vorne, um durch die Windschutzscheibe zu gucken aber diese war komplett beschlagen. Man sah nichts mehr. „Wo ist sie so lange? Was ist, wenn etwas passiert ist?“, fragte Mira nervös. Jetzt verfielen alle in Panik und ich musste die Ruhe bewahren. „Wir müssen ruhig bleiben, ok? Im Auto sind wir sicher“, versicherte ich ihnen. Plötzlich spürte ich, wie meine Socken nass wurden. Ich sah auf den Boden und bemerkte das Wasser, welches durch die Ritzen der Autotüren zu kommen schien. Das Auto lief voll! Schockiert schaute ich aus dem Seitenfenster. Das Wasser hatte die Türen bereits erreicht. Mein Kopf begann zu hämmern und zu dröhnen. Mit beiden Händen hielt ich mich an den Schläfen fest. „Steig aus dem Auto“, flüsterte diese komische Stimme in meinem Kopf. „Das Wasser läuft ins Auto!“, schrie Mira, nachdem sie es ebenfalls bemerkt hatte. Dejan fing wieder an zu weinen. Das Chaos brach aus.
Ok, wir mussten wirklich aus dem Auto. Ich versuchte die Türen zu öffnen aber das Wasser drückte dagegen und ließ uns einfach nicht raus. „Scheiße!“, fluchte ich verzweifelt, als ich dagegen schlug. Mira fing auch an zu weinen. Jemand musste einen kühlen Kopf bewahren. „Hört mir jetzt gut zu! Wir klettern aus dem Fenster raus! Wir müssen hier raus. Das ist gar nicht schlimm…wir verstecken uns einfach wo anders“, redete ich auf die Beiden ein. „Wir können doch nicht da raus!“, widersprach mir Mira. „Nein, ich will nicht!“, kreischte Dejan. Ohne mit der Wimper zu zucken kurbelte ich das Fenster herunter. Ich zog meine Strickjacke aus und wickelte meinen kleinen Bruder darin ein. Mira trug ihre eigene Jacke mit Kapuze. „Ich klettere als Erste raus, damit ich euch raus ziehen kann“, sagte ich und stieg aus dem Auto. Das Wasser ging mir fast bis zum Bauchnabel. Es dauerte keine Sekunde, da war ich komplett nass. Ich trug nur eine schwarze Hotpants und ein dunkelblaues Top, weil es vorher noch warm gewesen war. Meine braunen Haare klebten auf meiner Stirn. Ich zog zuerst Dejan und dann Mira aus dem Auto. Während ich Dejan in meinen Armen hielt, nahm ich Mira an die Hand. Wir bahnten uns einen Weg durch die Wassermassen und flüchteten in ein Einkaufszentrum, eine Straße weiter. Viele Menschen waren dort versammelt und suchten Schutz vor dem Sturm. Kurz bevor wir hinter der großen Glas-Türe waren, passierte es. Ein Blitz schlug in ein Haus ein, direkt vor dem Einkaufszentrum. Zuerst war es unglaublich hell und man spürte die Elektrizität auf der Haut. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall, sodass alle Fenster im Umkreis zitterten, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Ich rannte ohne zu zögern tiefer in die Mall und drehte mich nicht mehr um. Ein brennendes Haus und verzweifelte Menschen mussten die Kinder jetzt nicht sehen.
Wir setzten uns auf eine Bank, im überdachten Einkaufszentrum. Man konnte den Sturm hören, allerdings nur noch gedämpft. Das Weinen meiner Geschwister war viel lauter. „Es wird alles gut“, hauchte ich immer wieder, als ich beiden über den Rücken strich. „Wo ist Mama?“, fragte Dejan mit erstickter Stimme. „Sie holt nur ein anderes Auto und kommt gleich“, log ich lächelnd. Ich wusste nicht, was mit ihr war aber das konnte ich den Kindern in dem Moment nicht sagen. Mir fiel ein Kiosk gegenüber von uns ins Auge. „Wartet hier“, sagte ich und ging darauf zu. Kurze Zeit später hielt ich ihnen zwei gemischte Tüten mit Süßigkeiten hin. Zögernd nahmen sie es an und knabberten. Langsam beruhigten sie sich. Meine Klamotten klebten nass auf meiner Haut und sorgten dafür, dass ich fror. Doch ich ließ mir nichts anmerken. „Was machen wir jetzt? Ohne Mama…“, Mira war wieder kurz davor zu weinen. Ich hörte den Regen immer noch, deshalb mussten wir noch dort bleiben. Irgendwie musste ich sie ablenken. „Wollt ihr malen?“, fragte ich und setzte ein Grinsen auf. „Ich habe einen Kugelschreiber.“ Ich zog einen kleinen Kugelschreiber aus der Tasche meiner Strickjacke, die mein Bruder trug. „Wir haben keine Blätter“, stellte Mira traurig fest. Ich setzte mich zwischen die Beiden und deutete auf meine Oberschenkel. „Ihr könnt meine Beine bemalen. Ich wollte eh schon immer ein Tattoo haben“, schlug ich vor und reichte zuerst Dejan den Stift. Er sah sofort begeistert aus und setzte an. „Ich will auch gleich!“, meldete sich Mira zu Wort. „Ihr könnt euch ja abwechseln“, bemerkte ich und beobachtete, wie meine Beine vollgekritzelt wurden.

Es dauerte nicht lange, da hörte man den Regen kaum. Ich nahm meine Geschwister an die Hände und wir verließen das Einkaufszentrum. Die Straßen sahen furchtbar aus, so verwüstet. Das Wasser schien etwas zurück zu gehen. Der Regen hatte nachgelassen, es tropfte nur noch etwas. Wir gingen den Fußweg entlang, bis wir unser Auto sahen. Oder das, was von ihm übrig geblieben war. Ein großer Baum, welcher vorher neben dem Auto gestanden hatte, lag jetzt mitten auf dem Dach. Das Dach war komplett verbogen…
„Gott sei Dank! Meine Kinder!“, rief Mama aus, die bei einem Polizisten stand und völlig aufgelöst war. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, als sie auf uns zu rannte und uns in ihre Arme schloss. „Es tut mir so leid! Die Straßen waren vorne komplett überflutet und ich kam nicht mehr zurück!“, stammelte meine Mutter entsetzt und blickte zurück zum Auto, dessen Dach uns vermutlich zerquetscht hätte, wären wir dort geblieben. „Wir haben uns im Einkaufszentrum versteckt. Das war ihre Idee…“, sagte Mira und zeigte auf mich. Der Polizist tauchte erleichtern neben uns auf. „Das war eine sehr schlaue Idee gewesen“, stellte er fest und nickte mir anerkennend zu. Schockiert starrte ich weiterhin auf das Auto…wow. Diese Stimme hatte mich tatsächlich gewarnt. Der Himmel klarte auf, als wäre nichts geschehen. Meine Mutter nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sich. „Das hast du gut gemacht…ich bin so stolz!“ Ich wusste nicht, wem diese Stimme gehörte aber sie hatte mich sozusagen gerettet. Meine Mutter deutete auf den Kofferraum, der soweit unbeschadet geblieben war. Sie ging darauf zu und wie durch ein Wunder, präsentierte sie das unbeschadete Kleid. Wir packten das Kleid in eine Tüte und warteten auf meinen Stiefvater, der uns abholte.
Immer wieder starrte ich auf das kaputte Auto, bis wir im Wagen meines Stiefvater saßen und davonfuhren. Ich lehnte meinen immer noch nassen Kopf gegen die Fensterscheibe. „Danke“, hauchte ich, an wen auch immer.

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