Montag, 14. November 2016
Die Liebe einer Mutter
Flashback.
Die „kleine Haylie“ stürmt fröhlich in die Wohnung ihrer Mutter, das Abschlusszeugnis fest umklammert, als wäre es die goldene Eintrittskarte für die Schokoladenfabrik von Willy Wonka. Endlich konnte sie ihr Abitur machen, sie würde Lehramt studieren und ihre Familie glücklich und stolz machen. Das dachte sie. Das dachte ich.
Meine Haare waren nicht mehr so radikal kurz und ich hatte sie braun gefärbt. Das Feuerrot hatte sich aus meinem Leben verabschiedet. Wie lange hatte ich auf diesen einen Moment gewartet. Nun würde meine Mutter endlich sehen, wie schlau ihre Tochter ist.
Mit großen Schritten näherte ich mich der Küche, in der ich meine Mutter schon reden hörte. Sie schien sich lautstark mit meiner Oma zu unterhalten, was nichts Neues war. Dabei ging es, wie üblich, um Mamas Auswanderungspläne.
Ich versuchte das zu ignorieren und behielt mein Ziel vor Augen: Gleich würde meine Mutter stolz auf mich sein. Als ich im Türrahmen stehen blieb, sah ich als erstes Mamas gerötetes, zorniges Gesicht. Omas Augen waren geweitet, was hieß, dass sie überfordert war. „Ich werde auswandern und Punkt! Du kümmerst dich doch um Haylie!“, keifte meine Mutter Oma an. Die Beiden schienen mich nicht sonderlich wahrzunehmen.
„Aber du hast deine Familie hier! Du kannst nicht einfach abhauen“, erwiderte meine Oma trotzig. Wo sie recht hatte, hatte sie eben recht.
„Familie?! Ich muss mich erst einmal um meine Kinder kümmern“, raunte Mama sauer und begann hektisch die kleine Spülmaschine auszuräumen. Meine Kinder? Gehörte ich nicht dazu?
Wie üblich, bildete sich ein Kloß in meinem schmalen Hals. Doch ich wollte mir nichts anmerken lassen. „Haylie ist auch dein Kind“, meinte Oma schließlich und entfachte das Feuer endgültig. Mama fuhr hoch, sah erst kurz zu mir und dann zu meiner Oma. „Hier geht es um mich und meine Mädchen. Das ist meine Familie und mein Herz. Haylie hat dich hier in diesem Land!“, sagte meine Mutter, als wäre ich nie in ihrem Bauch gewesen.
„Ich war dir noch nie wichtig, oder?“, flüsterte ich benommen in ihre Richtung. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich mal wieder weinte. Meine Mutter wandte sich zu mir, dabei waren ihre Augen eiskalt. „Stell mich nicht hin, wie eine schlechte Mutter. Du hast immer alle gehabt. Aber seien wir mal ehrlich, wir beide haben nie ein gutes Verhältnis gehabt.“
Das Abschlusszeugnis in meinen Händen verlor bei jedem Wort mehr an Bedeutung. Am liebsten hätte ich es verbrannt. Ich ging rückwärts aus der Küche, rannte ins Bad und schloss mich ein. Danach kniete ich mich auf den Boden, hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu und schloss meine Augen. Ich stellte mir die Zukunft vor:
Ich, mit meinem späteren Freund und seiner Familie. Er würde hoffentlich eine Familie haben, die mich so nehmen würde, wie ich bin. Ich hätte bestimmt mein Abitur und würde Lehrerin werden. Ja, das sollte meine Zukunft sein. (…)
Die „große Haylie“ saß nun da, ja, ich saß da. Auf diesem unbequemen Holzstuhl in meinem kleinen Zimmer, während die Worte immer wieder in meinem Kopf hallten. „Das einzige was zählt ist meine Familie, meine Jungs. Haylie, deine Freundin, werde ich niemals ins Herz schließen.“ Marvin saß auf meiner Couch und er wusste auch nicht mehr, wie es weiter gehen sollte. Seine Mutter verteufelte mich und das, obwohl ich alles getan hatte, um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Tja, die Liebe einer Mutter war mir wohl nie vergönnt gewesen. Ich stand kurz vor dem Abbruch meines Lehramtstudiums, weil dieses mich zu sehr belastete. Das große Nichts wartete mal wieder hinter der nächsten dunklen Ecke. Ich wünschte echt, ich könnte euch erzählen dass mein Leben sich endlich mal in gute Bahnen gelenkt hätte aber dem war nicht so. Mein Leben drehte sich im Kreis.
Verzweifelt lehnte ich mich mit meinen Ellbogen gegen meinen Schreibtisch, während die Tränen kamen und mich an längst vergangene Zeiten erinnerten. Vor meinem inneren Auge tauchten plötzlich zwei Mütter auf, die mich zu hassen schienen. Das alles wirkte, wie ein sehr schlechter Witz und ich konnte es nicht verstehen. Alle Menschen kamen super mit mir klar, nur die Liebe einer Mutter würde ich nie bekommen.
Hatte ich das verdient? Ich weiß es nicht. Aber was ich wusste war, dass ich mir in dem Moment wünschte, ich könnte zurück in die Vergangenheit reisen, die „kleine Haylie“ in den Arm nehmen und mein Abschlusszeugnis verbrennen.
Denn diese ganzen Abschlüsse und Auszeichnungen haben keinen Sinn mehr, wenn ein schwaches, warmes Herz versucht, in der Kälte zu schlagen. Entweder es geht direkt kaputt oder es friert erst mal ein, um schließlich in tausend Teile zu zerspringen.

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