Donnerstag, 19. Mai 2016
Die Panne
„Woher hast du meine Nummer?“, fragte ich und legte meine Hände auf den Tisch vor uns. Der Aufenthaltsraum der Psychiatrie war fast leer. Die Sonne würde bald untergehen und lange würde ich dort nicht mehr sitzen dürfen. Die Besucherzeit war fast vorbei. Leonie musterte mich neugierig und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Ihr schien meine Unsicherheit Spaß zu machen. „Nick war vorhin hier. Er hatte seine Freundin Dana mit…sehr langweiliges Mädchen“, sagte Leonie und musste gähnen. „Sie ist auch meine Freundin“, warnte ich sie insgeheim. Niemand sollte abfällig über meine Freunde sprechen. Leonies Augen funkelten mich an. „Keine Sorge, sie ist ok. Nur sie ist so normal…“ Dana als normal zu bezeichnen war definitiv unpassend. „Da kennst du sie aber nicht richtig“, bemerkte ich entschieden. Fast alle aus meinem Freundeskreis hatten einen an der Waffel. Das war allerdings nichts Schlimmes. Mir gefiel es, weil ich von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch bin. Ich liebe es, zu analysieren. „Es reicht einem Menschen in die Augen zu gucken und ihn einige Minuten lang zu beobachten“, entgegnete Leonie. Immerzu starrte sie mich an. Das machte mich wahnsinnig! „Du hast die Nummer also von Dana bekommen?“, hakte ich weiter nach. „Ja, sagen wir bekommen.“ Leonie musste sich ein Lachen verkneifen, hatte dabei allerdings nicht viel Erfolg. Sie hatte sich die Nummer einfach raus geschrieben, ohne zu fragen. „Die Besucherzeit ist bald vorbei. Sie haben noch 10 Minuten“, rief uns ein Wachmann von der Türe aus zu. Ich nickte in seine Richtung und schaute wieder zu Leonie, die mit ihren Platin-blonden Haaren spielte. Länger würde ich es auch nicht mehr aushalten. „Du bist wie ich“, flüsterte sie plötzlich. Anstatt zu reden, schaute ich sie nur fragend an. „Deine Mutter hasst dich. Genauso, wie meine Mutter mich gehasst hat“, stellte sie mit rauer Stimme fest. „Ich denke, das kann man nicht vergleichen“, unterbrach ich sie nervös. Woher kannte sie die Probleme mit meiner Mutter? Wie viel hatten Nick und Dana ihr erzählt? „Hmmm…das kann sein. Hass zeigt sich nicht nur in körperlichen Aktionen, wie bei mir. Deine Mutter macht dich seelisch fertig“, sprach sie einfach weiter. „Du hörst sie auch. Ich meine, die Stimmen. Du willst es nur nicht zugeben. Und du hast auch diese unerklärlichen Schmerzen. Keiner kann dir sagen, was das ist. Du bist empfindlich, wenn es um Gefühle geht. Deshalb kannst du Menschen nicht leiden, die ihre Gefühle gut verstecken können. Weil du sie so nicht lesen kannst. Du kleiner Kontrollfreak.“ Sie hatte mich vollkommen in ihren Bann gezogen, sodass ich die Außenwelt nicht mehr wahrnahm. Ich bekam es mit einer panischen Angst zu tun. „Du bist hier drin, weil du diese Schmerzen hast?“ Jetzt wollte ich mehr über ihre Geschichte erfahren. Vielleicht brachte mich das ja auch weiter. „Die Schmerzen sind nicht das größte Problem. Es sind die Kräfte, die versuchen dich auf ihre Seite zu ziehen“, erklärte Leonie matt. „Was für Kräfte?“ Die Story hörte sich lächerlich an aber irgendwas an ihr ließ mich zuhören. „Diese Stimmen“, hauchte sie ängstlich. „Ich höre aber keine“, sagte ich wahrheitsgemäß. Ok, das mit den Schmerzen und mit den Gefühlen stimmte überein aber von den Stimmen hatte ich bis dato nie etwas gehört. „Irgendwie kommunizieren sie immer mit einem. Vielleicht bist du noch nicht so tief drin, wie ich. Überleg doch mal…hast du schon mal gedacht, du verlierst den Verstand? Ist irgendwas passiert, was du dir nicht erklären kannst?“ Ich schaute ins Leere und dachte nach. Mir fiel tatsächlich etwas ein. „Manchmal träume ich ziemlich lebhaft. Man nennt es luzides Träumen. Es gibt Träume, in denen Personen auftauchen, die mir zwar real vorkommen, die ich aber nie im echten Leben gesehen habe“, erzählte ich. Leonie nickte wissend. „Sie versuchen so mit dir zu reden. Durch deine Träume.“ Langsam bekam ich das Gefühl, dass ich wirklich verrückt wurde. „Die Zeit ist um“, rief der Wachmann wieder. Ich stand auf und Leonie packte mich schnell am Arm. „Sie können dich nur soweit kontrollieren, wie du es zulässt“, stellte sie eindringlich fest. Dann starrte sie auf meinen Kreuz-Ring. „Dein Glaube rettet dich vielleicht.“ Ich löste mich vorsichtig aus ihrem Griff und schaute sie aufgelöst an. Sie hatte einen Nerv getroffen. „Auf Wiedersehen“, verabschiedete ich mich leise. „Sag keinem etwas von deiner Gabe. Sonst landest du auch hier.“ Damit wandte Leonie sich von mir ab.

Es war dunkel, als ich mit meinem Auto nach Hause fuhr. Das Gespräch mit Leonie hatte mich mehr mitgenommen, als zunächst gedacht. Jahrelang quälte ich mich mit unerklärlichen, körperlichen Symptomen und jetzt das! Zuerst soll es eine Gabe sein und jetzt versuchen auch noch irgendwelche Kräfte mit mir Kontakt aufzunehmen? In was für einen Horrorfilm war ich denn gelandet? Das durfte nicht wahr sein! Ich fuhr über eine finstere Landstraße und drehte die Musik lauter. Vielleicht konnte ich so meine Gedanken übertönen. Soweit ich verstanden hatte, waren diese „Kräfte“ nichts Gutes und ich musste das unterbinden. Die luziden Träume wurden weniger, je mehr ich mit der Kirche zu tun hatte. Vielleicht gab es längst kein Problem mehr. Plötzlich knallte etwas unter der Motorhaube und ich konnte kein Gas mehr geben. Ich kannte mich nie besonders gut mit Autos aus aber da wusste ich, es war kein gutes Zeichen. Das Auto rollte aus und ich hielt am Rand der Landstraße, mitten in der Pampa. Genauso fingen diese Horrorfilme auch an. Super! Ich nahm meine Handtasche vom Beifahrersitz und kramte nach meinem Handy. Als wenn sich alle Kräfte des Universums gegen mich verschworen hätten, war mein Akku natürlich leer. Nachdem ich mehrere Male versuchte den Motor wieder zu starten, gab ich auf und ließ mich in den Sitz fallen. Die Motorhaube zu öffnen und nachzusehen würde bei meinen fehlenden Kenntnissen sowieso nichts bringen, also ließ ich es direkt sein. Meine Hoffnung beruhte auf ein vorbeifahrendes Auto. Jedoch war weit und breit keins zu entdecken. Also stieg ich aus und ging zum Kofferraum. Ohne das Licht meines Autos konnte man die eigene Hand nicht sehen. Der Wind, der mir die Haare ins Gesicht pustete, war eiskalt. Im Kofferraum holte ich eine Warnweste und eine Taschenlampe. Ich musste das Auto wohl dort stehen lassen und zu Fuß nach Hilfe suchen. Ich zog die Weste an, nahm meine Tasche, schloss das Auto zu und erleuchtete mir mithilfe der Taschenlampe den Weg.

Es dauerte Stunden, bis ich endlich eine Tankstelle fand. Ich war erleichtert, als ich telefonieren konnte. Auf dem Weg zur Tankstelle hatte ich geweint, deshalb sah ich vollkommen zerstört aus, als ich den Hörer an mein Ohr hielt. Ich war der Angst stundenlang ausgesetzt gewesen und das völlig alleine. Irgendjemand hätte mich töten können oder sowas in der Art. Zuerst wollte ich Noah anrufen aber dann wurde mir klar, dass er gar nichts von der Psychiatrie wusste. Also wählte ich Danas Nummer in der Hoffnung, Nick wäre bei ihr. „Hallo?“ Dana hörte sich verschlafen an. „Hey, kann ich Nick sprechen?“, fragte ich aufgelöst. Dana reichte mich einfach weiter, ohne lange nachzufragen. Das mochte ich so an ihr. Sie vertraute mir und wusste, wann es Zeit war zu sprechen und wann zu handeln. „Was ist los?“, meldete sich Nick zu Wort, der sich wacher anhörte. „Ich war bei deiner Schwester…mein Auto ist liegen geblieben und jetzt bin ich irgendwo in einer Tankstelle“, erklärte ich meine Lage verzweifelt. „Moment…was machst du bei meiner Schwester? Ist ja auch egal, ich hol dich ab!“

Wir riefen den Pannendienst und Nick fuhr mich zurück zur WG. Er trug eine schwarze Jogginghose und ein weißes T-Shirt. Seine dunklen Haare waren zerzaust. Während der Autofahrt musste er immer wieder gähnen. Es wunderte mich, dass Dana nicht mitgekommen war. „Meine Schwester hat dich also kontaktiert“, fasste Nick die Situation noch einmal zusammen. „Ja. Sie findet, ich bin ihr ähnlich“, gab ich offen zu. Wieso ein Geheimnis daraus machen? Nick fuhr langsamer und schaute mich seltsam an. „Das hat sie gesagt?“, fragte er ungläubig. „Ja und noch mehr aber ich bin zu müde, um alles zu wiederholen“, sagte ich und musste auch gähnen. „Mit Dana hat sie gar nicht gesprochen…“, stellte er nachdenklich fest. Ich zuckte bloß mit den Schultern. Wahrscheinlich war es sogar besser so. Später würde Dana Angst bekommen und Schluss machen. Irgendwie gewöhnte ich mich grade an Nick. Ich begann sogar, ihn zu mögen. „Ist das ungewöhnlich?“, fragte ich nach einer langen Redepause. „Ich weiß nicht. Sie mag dich offenbar“, antwortete Nick locker. Ja, mir war nur noch nicht bewusst, ob ich das auch wollte.

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