Freitag, 16. September 2016
Die Seele lebt ewig
Es war der beste, verdammte Tag meines Lebens! Die Betonung liegt auf war…
Endlich hatte ich eine gute Aussicht auf einen Nebenjob. Den ganzen Vormittag verbrachte ich bei der Probearbeit im Supermarkt. Die Arbeit war anstrengend und man musste sich konzentrieren aber es machte Spaß, gebraucht zu werden.
Nachdem ich fertig war, sprudelte ich nur so vor positiver Energie. Sofort ging ich zu Marvin und berichtete ihm von meinem Tag. Wir aßen zusammen und ich konnte einfach nicht aufhören zu reden. Doch irgendetwas tief in mir drin, wollte nach Hause gehen. Also blieb ich nicht lange, stieg in mein Auto und fuhr los. (…)
An dem Tag war mir jedes negative Ereignis egal gewesen. Selbst, als ich wieder einmal schief parkte, brachte mich das nicht aus dem Konzept. Ich ließ das Auto so stehen und stolzierte in Richtung Hof, wo ich meinen Opa sprechen hörte. Seine Stimme wurde so laut, als wenn er neben mir gestanden hätte. „Wir müssen gucken, ob wir in die Heimat fahren“, hörte ich meinen Opa sagen. Er hörte sich anders an. Abrupt blieb ich stehen und versteckte mich hinter der Hauswand. „Ich würde auf jeden Fall fahren…noch einmal Abschied nehmen“, erwiderte unsere Nachbarin mitfühlend. Geschockt hielt ich die Luft an und fixierte mich nur auf das Gespräch. „Ich kann nicht glauben, dass er Tod ist“, sprach mein Opa erschüttert und riss mich mit, in eine Art Trance. Die Welt um mich herum drehte sich langsamer. Der leichte Wind, wehte in Zeitlupe durch meine zusammengebundenen Haare, die dadurch strähnig auf meine Stirn fielen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich um die Ecke ging und meinen Opa erblickte. Er sah blass aus und mitgenommen. So, hatte ich ihn sehr selten erlebt. „Wer ist Tod?“, fragte ich mit trockener Kehle. „Dein Onkel…hat den Kampf gegen den Krebs verloren“, berichtete mein Opa, als würde er vom Wetter erzählen. Das war typisch mein Opa. Etwas schlimmes passierte und er tat so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Aber ich konnte seine Gefühle lesen. Es überkam mich, wie eine Lawine. Schlagartig wurde mir übel und ich dachte an meinen witzigen Onkel, den ich meistens lachend in Erinnerung hatte. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, gibt es sogenannte Phasen der Trauer. Jedoch muss bedacht werden, dass jeder Mensch anders trauert und dementsprechend andere Phasen hat. Meine erste Phase war: Verleumdung.
Für einen kurzen Moment blieb ich stehen, mitten auf dem Hof, während die pralle Sonne auf meinen Kopf schien. Mein Opa räumte die Garage auf und wollte anscheinend nicht darüber sprechen. Also atmete ich durch und ging das Treppenhaus hinauf, bis zu unserer Wohnung. Zögernd öffnete ich die Tür und sah meine Oma, die stumm in der Küche stand und das Telefon in der Hand hielt. Sie starrte verwirrt auf den Hörer. „Dein Onkel ist Tod“, begrüßte sie mich monoton. „Ich weiß“, unterbrach ich sie, damit sie nicht weiter sprechen musste. Ich konnte es fühlen. Meine Trauer, die immer größer wurde und auch die Trauer meiner Großeltern. Es drückte auf meinem Brustkorb und versuchte mich zu töten. Wortlos ging ich in mein Zimmer, setzte mich auf mein Bett und starrte die Wand an. Bis ich zur zweiten Phase kam: die Wahrheit.
Die Wahrheit? Die Wahrheit war, dass mein Onkel wirklich von uns gegangen war. Ich würde nie wieder mit ihm Fisch essen oder gemeinsam lachen können. Das alles waren nur noch Erinnerungen und keine Erwartungen mehr. (…)
Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus. Die Trauer, die durch die Wände zu kommen schien, umhüllte mich, wie ein Mantel. Benommen nahm ich meine Handtasche, zog mir ein frisches Shirt an und verließ die Wohnung. Vielleicht würde Marvin mich ablenken können. (…)
Zu meiner Ernüchterung musste ich feststellen, dass auch er mich nicht mehr ablenken konnte. Alles in meinem Kopf drehte sich um meinen Onkel. Wie in Trance fuhr ich nachts nach Hause. Über mir dunkle Wolken, die in unregelmäßigen Abständen aufblitzten. Ein Gewitter näherte sich unserer Stadt, weshalb ich etwas schneller fuhr. Auf starken Regen hatte ich nun wirklich keine Lust. Unkonzentriert parkte ich mein Auto neben der Straße und ging auf unseren Hof zu. In der Ferne hörte man das Grollen des Gewitters. Die Dunkelheit verschlang mich. Das nutzte ich, um einen Heulkrampf zu kriegen. Ich wollte nämlich nicht, dass meine Großeltern mitbekamen, wie sehr mich der Tod mitnahm. Ihnen ging es schon dreckig genug. Nachdem die erste Welle des Heulkrampfes überstanden war, ging ich die Treppen hinauf und öffnete leise die Eingangstüre. Meine Oma war bereits am schlafen, was es mir leichter machte. Doch mein Opa saß auf dem Balkon und schaute sich den Himmel an, der sich immer stärker zuzog. Zuerst wollte ich mich neben ihn setzten und ihn irgendwie ablenken. Mit ihm sprechen damit er wusste, dass er nicht alleine war. Aber da verließen mich meine Kräfte. Mühsam stand ich im dunklen Wohnzimmer, starrte hinaus auf den Balkon und mein Magen zog sich zusammen. Seine tiefe Trauer sickerte durch meine Hautschichten und bahnte sich einen Weg zu meinem Herzen. Mir wurde schwindelig, deshalb ging ich rückwärts aus dem Wohnzimmer und verschwand in meinem Zimmer.
Ich öffnete das Gitter von Lunas Käfig und legte mich auf den Boden. Der Boden war kalt aber das war ideal. Die Hitze der letzten Tage hatte mein Zimmer in eine kleine Sauna verwandelt. Mein Körper glühte, vielleicht hatte ich auch Fieber. Luna hoppelte aus ihrem Käfig und legte sich neben mich. Anscheinend spürte sie, dass etwas nicht stimmte.
Irgendwann, nachdem ich stundenlang heulend auf dem Boden gelegen hatte, schlief ich ein. (…)
In meiner Traumwelt trug ich immer die Klamotten, in denen ich auch eingeschlafen war. In dem Fall eine kurze Jeans und ein graues Top mit Fransen. Ich befand mich in meinem alten Familienhaus aber das passte mir gar nicht. Ständig wurde ich an Verluste erinnert. Langsam wurde es nervig. Ich schloss meine Augen und stellte mir das Meer vor. Nach wenigen Sekunden spürte ich Sand unter meinen nackten Füßen. Als ich die Augen öffnete, staunte ich nicht schlecht, denn vor mir war das Meer. Leichte Wellen ließen das Wasser auf meine Füße plätschern. Der Himmel war blau, nur leichte Wolkenschleier waren zu sehen. Am Strand lagen unterschiedliche Muscheln, manche waren sogar bunt. Beruhigt setzte ich mich auf den Boden und schaute auf das Meer hinaus. Endlich mal ein Traum, in dem ich nur entspannen konnte. Jemand setzte sich neben mich. Zuerst schloss ich die Augen, denn ich wollte einfach nicht gestört werden. Dann hörte ich aber seine Stimme. „Das Meer ist wunderschön“, sprach Onkel Adam friedlich. Erschüttert öffnete ich die Augen und sah neben mich. Mein Onkel, der in der realen Welt Tod war, saß neben mir im Sand und lächelte. Alles an ihm wirkte real. Seine dünnen, dunkelblonden Haare, sein Schnurrbart und das müde Gesicht, welches jedoch immer lächelte. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen oder wegzusehen. Schon wieder brannten die Tränen in meinen Augen. Wieso spielte mir mein Unterbewusstsein immer solche Streiche? „Weinen bringt nichts. Mir geht’s dort besser, wo ich jetzt bin. Der Krebs war schmerzhaft und ich wusste bereits, dass es so kommen wird“, sagte mein Onkel mit einer sanften Stimme und schaute mir nun in die Augen. Seine grünen Augen strahlten zufrieden. „Das sagst du leider nur, weil mein Unterbewusstsein das so will“, hauchte ich betrübt und wandte meinen Blick ab. Meine Fingerspitzen gruben sich in den nassen Sand. „Ich sage die Wahrheit, kleine Schönheit“, erwiderte er amüsiert. Wie konnte er gute Laune haben, wenn er doch gestorben ist? Mein Blick verschleierte sich immer mehr, denn dicke Tränen bildeten sich in meinen Augen. „Gut, wenn du wirklich mein Onkel bist…dann tut es mir leid. Es tut mir leid, dass wir dieses Jahr nicht in die Heimat gekommen sind, um dich zu besuchen! Das nagt schon die ganze Zeit an mir. Eigentlich hatten wir Zeit aber ich habe nur an mich gedacht und nicht an meine Familie…es tut mir so leid!“, weinte ich bitterlich. „Und jetzt werde ich dich nie wieder sehen.“ Ich stand auf und ging auf das Wasser zu, bis es mir bis zu den Knien ragte. Etwas von meiner Jeans wurde nass aber das war egal. Mein Onkel folgte mir und legte mir seine Hand auf die Schulter. Es fühlte sich verdammt echt an. „Ich bin euch nicht böse. Bitte, rede nicht mehr davon. Es musste alles so kommen.“ Langsam drehte ich mich zu ihm und hörte auf zu weinen. „Oma und Opa wissen nicht, ob sie es zu deiner Beerdigung schaffen…sie sind so traurig“, bemerkte ich leise. „Ich weiß das…aber hey, Beerdigungen sind was für die Lebenden. Damit sie Abschied nehmen können. Tote interessieren sich nicht so sehr dafür, weil sie merken, wer auch entfernt an sie denkt. Es ist also nicht schlimm, wenn sie es nicht schaffen. Glaube mir, die Reise geht weiter. Auch nach dem Tod“, versicherte mein Onkel mir und grinse. Schmollend umarmte ich ihn, um wenigstens im Traum Abschied zu nehmen. „Es war schön, dich gekannt zu haben“, flüsterte ich dankbar. „Vielleicht sehen wir uns in einem späteren Leben wieder. Wer weiß das schon?“, meinte mein Onkel. Wir lösten uns von der Umarmung. Er leuchtete auf, wie ein Engel und wurde durchsichtig. Das Letzte, was ich hörte war: „Die Seele lebt ewig.“ (…)
Als ich wach wurde, schmerzte mein gesamter Rücken, denn ich hatte die Nacht auf dem Boden verbracht. Der einzige Trost war der Anblick von Luna, die immer noch neben mir lag und zu schlafen schien.
Erschöpft rappelte ich mich auf und streckte mich. Nun würde vermutlich die dritte Phase kommen: die Akzeptanz. Wahrscheinlich blieb die tiefe Trauer aber da müssen wir Menschen durch.
Den ganzen Tag verbrachte ich in meinem Zimmer. Ich kümmerte mich um Luna, las einen Roman und trank Kaffee. Zwischendurch setzte ich mich auf den Balkon und machte einfach nichts. Die Trance, die ich seit dem Vortag hatte, ging nicht weg. Jedes Mal, wenn ich meine Großeltern sah, nahm es mich mit. Die Beiden konnten übrigens nicht zu der Beerdigung fahren, denn diese wurde vor verschoben, weshalb sie es nicht rechtzeitig geschafft hätten. Das verschlimmerte die Trauer irgendwie noch mehr. Wenigstens hatte sich das Wetter geändert und es war etwas kühler geworden. So konnten wir immerhin durchatmen. Auch, wenn das nur ein kleiner Trost war.

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