Montag, 29. Februar 2016
Ein Traum wird wahr
Wenigstens im Traum war ich gesund. Während ich in der realen Welt schon seit zwei Wochen furchtbare Schmerzen durch litt, ging es meinem Traum-Ich zumindest körperlich wesentlich besser. Anastasia und ich standen in einem Vorgarten, der mir durchaus bekannt war. Meine Mutter wohnte in dem Landhaus direkt vor uns. Es war ein sehr altes Haus, mit einer langjährigen Geschichte. Jedes Mal wenn ich dieses Haus sah, lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Doch das hier war mein Traum, ich brauchte also keine Angst haben. „Wer wohnt denn hier?“, fragte Anastasia neugierig und ging auf die Türe zu. Es war dunkel und leichter Nebel umspielte unsere Knie. „Meine Familie“, antwortete ich und schauderte, denn ich fühlte mich wie in einem Horrorfilm. „Mama wohnt hier?“ Anastasia öffnete die Türe und ging hinein. Zuerst wollte ich umdrehen und einfach davonrennen aber ich folgte ihr. Im echten Leben hatte sich meine Mutter schon seit knapp einem Monat nicht mehr bei mir gemeldet. Unsere Beziehung war steht’s sehr kühl, aber ich liebte sie, wie ein Mensch nur fähig war jemanden zu lieben. Und ich wünschte mir, sie würde es genauso tun. Im Haus war es stockdunkel. Anastasia ging langsam die schmalen Treppen hinauf und sah kurz zu mir herunter. „Komm, wir gucken ob deine Mama zu Hause ist“, sagte sie aufgeregt. Nachdem ich durchgeatmet hatte, ging ich ebenfalls die Treppen hinauf. Wir schlichen durch den engen Flur und standen bald schon im großen Schlafzimmer. Meine Mutter lag tatsächlich in ihrem Bett und neben ihr, mein kleiner Bruder. Es war ein Bild für die Götter. Mit nassen Augen und einem Lächeln im Gesicht beobachtete ich die beiden, wie sie ruhig schliefen. „Das ist Liebe“, stellte Anastasia neben mir fest, die mich aufmerksam ansah. „Siehst du deine Familie nicht oft?“
„Nein, wir haben so gut wie keinen Kontakt mehr, seitdem wir uns gestritten haben“, flüsterte ich mit einem großen Kloß im Hals. Auf einmal öffnete meine Mutter ihre Augen und knipste eine kleine Nachttischlampe an, die sich neben ihrem Bett befand. Sie sah irritiert und auch etwas ängstlich aus. Dabei schaute sie immer wieder an die Wand, an der wir standen. Das war anders, als die anderen Träume die ich bereits geträumt hatte. Konnte meine Mutter uns nicht sehen? Sie schien durch uns durch zu gucken aber trotzdem zu wissen, dass etwas nicht stimmte. „Was hat sie?“, wandte ich mich an Anastasia, die meine Mutter neugierig beäugte. „Geh zu ihr hin und sag ihr, was du dir von ihr wünscht“, wies sie mich an. Was würde es bringen? Allerdings konnte es nicht schaden, sich die Seele vom Leib zu reden. Also ging ich auf meine Mutter zu, die nervös auf der Bettkante saß. Ich setzte mich neben sie und sie zuckte erschrocken zusammen. Trotzdem sah sie mir nicht in die Augen. „Ich wollte niemals, dass es soweit kommt. Du warst immer schon die wichtigste Person in meinem Leben. Aber Mama? Ich bin krank…und ich würde gerne deine Hand halten können, um neue Kraft zu tanken. Wieso hast du mich rausgeschmissen? Aus deinem Haus und aus deinem Leben…ich verstehe es nicht. Alles was ich in den letzten Wochen wollte, war einfach nur ein Anruf von dir. Ein Anruf, mehr nicht“, sagte ich, während mir Tränen über die Wange liefen. Es ließ sich nicht länger aufhalten. Meine Mutter starrte in die Leere und schien mir zuzuhören. Dabei verlor sie jegliche Gesichtsfarbe und sah sich erneut im Raum um. Weinend legte ich mein Gesicht in meine Hände. „Ich möchte aufstehen…bitte!“, flehte ich Anastasia an, die gerührt an der Wand lehnte. „Mach die Augen zu und konzentrier dich, dann wirst du wach.“

Es war erst zwei Uhr morgens, als ich meine Augen öffnete. Noah lag auf dem Bauch und schlief tief und fest. Diesmal wurde ich nicht wach, weil ich Schmerzen hatte oder einen schrecklichen Albtraum. Ich wollte schlichtweg nicht mehr träumen, nicht über meine Mutter. Dieses Thema nahm mich zu sehr mit, als dass ich mich die ganze Nacht damit befassen konnte. Vorsichtig kletterte ich über Noah und verließ mein kleines Zimmer. Meine Lunge tat immer noch weh, mein Körper war immer noch schwach. So sah mein Leben schon seit zwei Wochen aus, nichts änderte sich. Ich ging durch das dunkle Wohnzimmer und kniete mich vor die Fensterbank, damit ich mir den Nachthimmel ansehen konnte. In dieser Nacht waren viele Sterne sichtbar, einer heller als der andere. Der Mond wurde von Wolkenschleiern versteckt, weshalb man ihn nur ab und zu entdeckte. Als ich am Fenster kniete und die leere Straße sah, vermisste ich es, mit meinem Auto zu fahren und die Musik im Radio aufzudrehen. Als ich den Wald anstarrte, wollte ich am liebsten dadurch laufen und mich frei fühlen. Doch ich war hier eingesperrt und das solange, bis sich mein Körper dafür entschied, sich endlich wieder zu regenerieren. „Mich würde es auch nerven, nicht rauszukommen“, hörte ich Noah hinter mir flüstern. Er kniete sich neben mich und nahm meine Hand. Wir lehnten uns gegen die Heizung unter der Fensterbank. „Ich verstehe nicht, wieso ich diesmal nicht schneller gesund werde.“
„Wahrscheinlich haben sich Viren mit deiner ursprünglichen Krankheit gemischt und es ist deshalb so schlimm“, bemerkte Noah. „Ich kann nicht mal sagen, dass die Krankheit das schlimmste ist. Schlimmer ist es, Menschen zu vermissen und ich habe so viele verloren“, sagte ich verbittert. Noah zwang mich, ihn anzusehen. „Sie leben aber noch. Weißt du, manchmal verlieren sich Menschen aus den Augen…meistens sogar. Aber sie leben noch auf dieser Welt und können glücklich werden. Das Spiel ist lange nicht vorbei.“ Da merkte ich, dass man mit Noah ernsthafte Gespräche führen konnte, was mich beeindruckte. „Kann ich dir was zeigen? Bitte versuch wenigstens, dabei ernst zu bleiben“, bat ich ihn. „Es beschäftigt mich schon eine ganze Weile.“ Damit verschwand ich kurz in meinem Zimmer, um danach mit meinem Handy wieder aufzutauchen. Ich kniete mich wieder neben Noah und öffnete meine Bildergalerie. „Guck dir die Bilder an und sag mir, was du neben mir siehst.“ Er nahm das Handy und sah sich einige Bilder von mir an. Eins zeigte mich in meinem Zimmer, neben meinem Gesicht tauchte schwach eine Fratze auf. Dann scrollte er weiter und sah mich, wie ich neben einem alten Haus posierte. Auch dort sah man eine Gestalt neben mir stehen. „Man braucht nicht mal viel Fantasie, um etwas zu erkennen. Sicher, dass dir keiner einen Streich spielen will?“, fragte er mich besorgt. „Du bist der Einzige, der ständig an mein Handy geht“, stellte ich genervt fest. „Es macht mir eine Heidenangst und ich weiß, dass mehr dahinter steckt, als nur ein dämlicher Streich.“ Noah gab mir das Handy zurück. „Gut, nehmen wir an, da ist wirklich etwas. Wann hat das angefangen? Und was kann das bedeuten? Ich meine, wir sind hier nicht in einem Horrorfilm.“
„Es hört sich vielleicht lächerlich an, aber es hat mit dem Ouija-Brett angefangen. Damals, als wir zu diesem alten Gebäude gelaufen sind. Die Schmerzen haben dort auch angefangen“, bemerkte ich. Er sah mich prüfend an und dachte ernsthaft darüber nach. Zunächst dachte ich, er würde mich auslachen aber er nahm es ernst. „Gut, du brauchst sowieso frische Luft. Lass uns einen Ausflug dahin machen“, schlug er vor. „Ich wüsste zwar nicht was genau das bringen soll aber es ist besser, als nichts zu tun. Lass uns aber bitte warten, bis es hell ist.“ Er schloss mich in seine Arme und küsste mich auf die Stirn. „Ich glaube, es gibt eine logische Erklärung. Aber spannend ist das schon“, gab er zu. Spannend, ja das war es.

Irgendwann gingen wir wieder ins Bett und schliefen nochmal ein. Die Sonne weckte uns und ich bekam meinen typischen Anfall, bei dem ich vor Husten keine Luft mehr bekam. Als ich mich gefangen hatte, schleppte ich mich in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Meine Großeltern waren wie häufig auf Achse, zum Glück. So konnte Noah wenigstens noch etwas bei mir bleiben. Meine eher konservativen, religiösen Großeltern hassten es, wenn das andere Geschlecht auch nur in meiner Nähe war. Noah verschwand im Bad und ich schlürfte an meinem Tee, während ich die Spülmaschine ausräumte. Nach einigen Minuten hörte ich, wie sich die Badezimmertüre öffnete. Noah kam in die Küche, nur mit einem Handtuch über seinen Hüften und reichte mir etwas. Es war mein Handy, welches grade einen Anruf empfing. „Träume werden wahr, Honey!“, sagte Noah freudig und setzte ein breites Grinsen auf. Verdutzt schaute ich auf mein Display. Meine Mutter? Ich nahm ihm aufgeregt das Handy aus der Hand und atmete durch. Noah warf mir noch einen zufriedenen Blick zu und dann verschwand er aus der Küche. Mit zitternden Händen nahm ich ab. „Ich hab gehört, dass du krank bist. Bist du wenigstens zu Hause und ruhst dich aus?“, wollte meine Mutter mit einem besorgten Unterton wissen. Ich lief in der Küche hin und her. „Ja, ich kann schlecht atmen, weshalb ich so oder so nicht zu meinen Kursen kann. Es würde sich nicht lohnen“, erzählte ich. „Das ist auch nicht so wichtig, wie deine Gesundheit“, stellte meine Mutter fest. „Wie lange musst du denn noch…in diese Kurse? Wann sind deine Prüfungen?“ Erstaunt blieb ich stehen und fragte mich, seit wann meine Mutter sich für mein Leben interessierte. „Also, im Frühling sind meine Prüfungen und dann hab ich es geschafft. Danach habe ich offiziell keine Schule mehr. Einige Wochen nach unseren Prüfungen kriegen wir die Zeugnisse und dann ist der Ball…“, erklärte ich. Es hörte sich so an, als würde meine Mutter etwas zum aufschreiben suchen. Eine Schublade öffnete sich schnell und ich hörte einen Kugelschreiber klicken. „Wann ist das mit den Zeugnissen genau?“
Mir fiel die Kinnlade runter…träumte ich etwa immer noch? „Natürlich werde ich da sein“, fügte meine Mutter wie selbstverständlich hinzu. Geschockt gab ich ihr das genaue Datum und dann sprachen wir noch über dies und jenes. „Ich hatte heute Nacht einen komischen Traum...ich glaube, ich muss wieder in der Bibel lesen“, bemerkte meine Mutter plötzlich. Einen komischen Traum? „Was denn für einen Traum?“, wollte ich schnell wissen. „Ich glaube es ging um dich. Sicher weiß ich das nicht mehr aber irgendwas hat mir Angst gemacht. Das Haus hier ist sowieso komisch“, sagte meine Mutter abfällig. Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr wundern sollte. Darüber, dass meine Mutter sich bereit erklärte, das erste Mal in meinem Leben bei der Zeugnisvergabe teilzunehmen? Darüber, dass sie über mich geträumt hatte, während ich gleichzeitig von ihr träumte? Darüber, dass meine Mutter tatsächlich in einer Bibel las? Oder einfach, dass sie überhaupt angerufen hatte? Nach einer Stunde legten wir beide auf. Noah kam in die Küche, er trug wieder seine Jeans und sein schlichtes T-Shirt. Entgeistert starrte ich auf mein Handy. „Ist das grade wirklich passiert?" Meine Mutter, die Eiskönigin, hatte mit mir gesprochen. Wie eine Mutter eben mit ihrer Tochter sprechen sollte...endlich fühlte ich mich nicht mehr, wie eine Weise.

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