Mittwoch, 2. März 2016
Ein altes Kapitel
Erinnerungen aus den Kindertagen sind immer gut, um die Gegenwart für einen Augenblick zu vergessen…
Jeden Tag fuhr ich mit dem Fahrrad zu meinen Urgroßeltern. Sie wohnten nicht weit weg und ich liebte es, alleine durch die Gegend zu fahren. Vor kurzem hatte ich in der Grundschule meine Fahrradprüfung bestanden, also war ich keine Verkehrsgefährdung. Die beiden lebten in einer kleinen Wohnung, vor der eine riesen Wiese mit lauter Gänseblümchen wuchs. Ich wollte nicht mit leeren Händen erscheinen, weshalb ich mein Fahrrad vor der Türe abstellte und auf die Wiese rannte. Danach fing ich an die Blumen zu pflücken, solange bis ich genug zusammen hatte, um zwei Armbänder daraus zu basteln. Uroma hatte mir einmal gezeigt, wie das geht. Nachdem ich damit fertig war, klingelte ich stolz. Meine Urgroßeltern begrüßten mich immer liebevoll und herzlich, denn ich war immer willkommen. Ein Gefühl, welches ich nur von ihnen kannte. Die anderen aus meiner Familie zeigten nie so viel Liebe, wie die beiden. Für sie gehörte ich zur Familie.
Die beiden freuten sich riesig über mein selbstgemachtes Geschenk. Wie immer, wenn ich zu Besuch kam, aßen wir zusammen Sesambrötchen und spielten Brettspiele. Uroma spielte immerzu „Mäusefalle“ mit mir. Das war ein Brettspiel für Kinder aber sie ließ mich immer gewinnen.
Anschließend ging ich auf den Balkon zu Uropa, der mir Geschichten erzählte. Auf einem Regal neben seinem Stuhl befanden sich Sticker vom „Dschungelbuch“. Besonders faszinierte mich „Baghira“, die schwarze Raubkatze. Minutenlang schaute ich auf das Bild, während Uropa mir spannende Geschichten über Baghira erzählte. Irgendwann tauchte eine schwarze Katze vor dem Balkon auf und ich beobachtete diese aufmerksam. „Das ist bestimmt Baghira!“, sagte ich begeistert und zeigte auf die Katze. Mein Uropa lachte. „Nennen wir einfach jede schwarze Katze so!“, schlug er vor.

Es kam der Tag, einige Jahre später, da wurde meine Uroma krank. Sie wurde so krank, dass sie ins Krankenhaus musste und immer schwächer wurde. Da mein Uropa kaum laufen konnte, nahm meine Mutter ihn zu sich. So blieb das Haus leer und mein Fahrrad wurde nicht mehr benutzt. Ich war schon etwas älter aber nicht alt genug, um zu begreifen. Meine Uroma wollte nicht, dass wir Kinder sie besuchten, denn wir sollten sie so nicht sehen. Es kam zu dem Tag, da rief das Krankenhaus meine Mutter an und sie brach zusammen. Ich war zu klein, um mir über das Ausmaß klar zu werden. Das erste Mal sah ich meine Mutter weinen und ich war komplett perplex. Auf der Beerdigung meiner Uroma erreichten die Gefühle ihren Höhepunkt. Meine Mutter brach in der Kirche wieder zusammen, da konnte ich meine Tränen nicht aufhalten. Mir wurde langsam bewusst, was passiert war. Nie wieder würde ich zu meiner Uroma fahren, Sesambrötchen essen und Brettspiele spielen. Meine wunderbare Kindheit war vorbei. Alle warfen Blumen in das Grab meiner Uroma und weinten schrecklich. So aufgelöst hatte ich meine Familie noch nie gesehen. Als mein Uropa dran war, beugte er sich über das Grab und wollte hineinspringen. Er sagte: „Ich will zu dir!“ Familienmitglieder sprangen hervor, um ihn aufzuhalten. Erst als ich älter wurde begriff ich diese Geste. Es war pure, bedingungslose Liebe, die auch über den Tod hinaus ging.

Mein Uropa wurde auch krank, konnte jedoch zu Hause bleiben. Er lebte in einer Wohnung, direkt neben dem Haus meiner Mutter. Ich kann mich an einen Sommer erinnern, da beschloss ich mich um ihn zu kümmern. Meine Familie und meine Freunde fuhren allesamt in den Urlaub aber ich blieb. Uropa und ich blieben den ganzen Sommer lang im Haus meiner Mutter und passten auf. Er passte offiziell auf das Haus auf und ich auf ihn. Wir saßen jeden Tag im Garten und sahen uns den Himmel an. Er hatte sich verändert, nachdem Uroma gestorben war. Das war selbstverständlich und ich nahm es ihm nicht übel. Uropa sprach nicht mehr sehr viel aber wenn, war er dennoch sehr nett. Ich machte uns immer etwas zu Essen und hielt das Haus sauber. Danach saßen wir im Garten, Tag ein und aus. So vergingen die Sommerferien und obwohl er es mir nie sagte wusste ich, dass er dankbar war nicht alleine zu sein.

In jeder darauffolgenden Ferienwoche besuchte ich meinen Uropa und leistete ihm Gesellschaft. Andere in meinem Alter gingen auf ihre ersten Partys mit Alkohol und Jungs, aber ich blieb und kümmerte mich um ihn. Familie war mir immer wichtiger, als mein eigener Spaß.
Ich weiß noch, da wurde sein Zustand schlecht und er musste auch ins Krankenhaus. Einige Monate später starb er. Diesmal war meine Mutter nicht bei der Beerdigung, weil sie im Ausland war und es nicht mehr rechtzeitig geschafft hatte. Ich weinte für sie mit. Auf dieser Beerdigung war es mir von Anfang an klar…
Der Tod nahm mir den zweiten Menschen, welcher mir ein Stück normale Kindheit geschenkt hatte.

Nach einigen Jahren fand ich mich auf dem Friedhof wieder. Meine Urgroßeltern besaßen ein gemeinsames Grab, besetzt mit einem wunderschönen Stein. Es war in der Dämmerung, da zündete ich zwei Kerzen an und stelle sie auf das Grab. Ich kniete mich auf den Boden und Tränen bildeten sich in meinen müden Augen. Wie viel hatte ich schon erlebt? Sie waren nicht mehr da, um mir Liebe und Ratschläge zu geben. Das musste ich nun alleine tun. Eine schwarze Katze kam auf mich zu und setzte sich einige Meter neben dem Grab auf den Fußgängerweg. Ihre grünen Augen sahen mich neugierig an. „Baghira“, flüsterte ich gerührt und lächelte schwach. Lange kniete ich vor dem Grab und die Katze dachte nicht daran, mich alleine zu lassen. Ich starrte auf den Grabstein und sprach mit meinen Urgroßeltern. Darüber was war und was ich mir für die Zukunft wünschte. „Warum seid ihr nicht mehr hier? Warum gehen die guten Menschen immer so früh?“, fragte ich gen Himmel und fing wieder an zu weinen. Mir wurde bewusst, dass unsere Zeit hier sehr begrenzt ist. Der Tod ist gnadenlos.

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