Dienstag, 6. September 2016
Ein chaotischer Morgen
Ich presste meinen Körper an die Wand und versuchte einen Ausweg zu finden. Eine Nacht zuvor hatte ich bereits diesen Traum gehabt und ich wollte, dass dieser nicht genauso schmerzhaft endete. Meine Traumwelt sah aus, wie ein altmodisches Haus einer alleinstehenden Rentnerin. Zumindest stellte ich mir vor, Rentnerinnen würden so wohnen. Hier und da kitschige Dekoration und künstliche Blumen, die zumindest schön aussehen und nicht mehr gegossen werden müssen. Lange, dunkelrote Vorhänge hingen an den Fensterrändern. Ich befand mich in einem Wohnzimmer, mit einer alten, grauen Couch. In ihrem Stoff waren blasse Blumen zu erkennen. Und da stand er.
Ich kannte diesen Mann nicht. Er hatte kaum noch Haare auf dem Kopf, trug eine schmale Brille und zerfressene Klamotten. Wütend ballte er die Hände zu Fäusten, als er mich sah. Wieso war so ein alter, zerbrechlicher Mann sauer auf mich? Seine Augenfarbe konnte ich nicht erkennen, denn er presste sie so sehr zusammen. ,,Du wirst sterben!", fauchte er mich mit einer rauen Stimme an. Nervös tapste ich von einem Fuß auf den nächsten. Unter meinen nackten Füßen fühlte sich der kratzige Teppich ziemlich unangenehm an. Verzweifelt suchte ich nach einer Möglichkeit aufzuwachen, bevor der Mann erneut auf mich losgehen konnte. Doch ich fand die Tür nicht, die womöglich in ein anderes Zimmer führen würde. Deshalb wollte ich mit ihm reden, um ihn vielleicht abzulenken und ihn von seinem Plan abzubringen. ,,Wieso soll ich sterben? Was habe ich dir...ich meine, was habe ich ihnen getan?", fragte ich ihn eindringlich. ,,Wag es nicht, dich auch noch mit mir zu unterhalten!", brüllte der Mann und sprang auf mich zu. Er griff nach meinen Schultern und warf mich auf den alten Teppich. Anschließend schmiss er sich auf mich drauf. Dabei ignorierte er meine mageren Versuche, mich aus seinem Griff zu befreien. ,,Du hast nicht verdient, diese Welt zu sehen!", schrie er. Seine Daumen drückten sich in meine Augen. Mit aller Kraft drückte er gegen sie, bis ich vor Schmerzen ohnmächtig wurde. (...)
Ich riss meine Augen weit auf, unterdrückte jedoch das Schreien. Mein Arm fiel auf den leeren Platz neben mir im Bett. Benommen orientierte ich mich und stellte fest, dass auch Marvins Kissen nicht mehr auf seiner Seite lag. Hatte er nicht neben mir geschlafen? Müde setzte ich mich auf und warf einen Blick auf die Couch, die neben dem Bett stand. Dort lagen tatsächlich seine Schlafsachen und das konnte nichts Gutes bedeuten. Nachdenklich legte ich mich wieder hin, bis die Zimmertür unsanft aufging. Sofort wusste ich es, Marvin war sauer. Hatte ich im Schlaf gesprochen und ihn beleidigt? Marvin war schon komplett angezogen. Auch seine Cap hatte ihren Platz auf seinem Kopf gefunden. Er bedachte mich mit einem kurzen, genervten Blick und setzte sich auf die Couch. ,,Morgen", sagte er schroff. Super. Am liebsten hätte ich weiter geschlafen und mir nochmal die Augen ausdrücken lassen. Alles war besser, als so begrüßt zu werden. Nach einer langen Stille, meldete er sich wieder zu Wort. ,,Ich bin echt sauer auf dich", murmelte er genervt. Ich ahnte bereits, weshalb. Am Abend zuvor hatten wir uns über meine Zeit mit Noah unterhalten. Marvin war nicht klar gewesen, dass ich sowas, wie eine richtige Beziehung mit Noah hatte. Noah und ich haben Dinge getan, die man halt in einer anfänglichen Beziehung so macht. Wirklich weit sind wir allerdings nie gegangen. Trotzdem fühlte sich Marvin seitdem betrogen und er hätte gewollt, dass ich von Anfang an ehrlich gewesen wäre. Ich für meinen Teil wollte aber mit ihm nicht über Noah sprechen...ich wollte es einfach nicht! Mit ihm habe ich nämlich auch einen sehr großen Teil meiner Familie verloren. Sowas muss auch erst einmal verdaut werden. Also schloss ich meine Augen und betete, ich würde doch noch einschlafen. ,,Ich möchte endlich wissen, wie weit ihr miteinader gegangen seid und ich finde es echt scheiße, dass du mir sowas nicht erzählst!", fuhr Marvin mich sauer an. ,,Ich rede jetzt aber nicht darüber...", bemerkte ich spitz und kuschelte mich in die Decke. Marvin schnaubte wütend, packte sich seinen Rucksack, knallte die Tür zu und verließ das Haus. Erschrocken über diese impulsive Reaktion setzte ich mich wieder auf und starrte auf die Zimmertür. Ich wusste, dass er jetzt in die Schule gehen musste aber so ein Abschied hatte ich nicht verdient. Immerhin hatte ich ihn zu keiner Zeit betrogen. Er konnte mir nicht vorwerfen, was vor seiner Zeit passiert ist. Ernüchtert darüber, dass er manchmal unreif handelte, stand ich auf und taumelte ins Badezimmer. Mein Kopf dröhnte, denn der Traum nahm mich immer noch etwas mit. Im Bad lehnte ich meine Stirn gegen den kalten Wandspiegel, bis die Haustür unten anfing zu klingeln. Irritiert fuhr ich herum und hastete die Treppen runter, bis zur kleinen Küche. Dort schnapte ich mir ein Küchenmesser. Man konnte ja nicht vorsichtig genug sein. Vielleicht handelte es sich um Kürsad, der mich aufgespürt hatte. Langsam ging ich zur Türe, das Messer hinter dem Rücken, und drückte die Klinke hinunter. Dabei machte ich mir im Kopf einen Plan, in welchen Körperteil ich am besten reinstechen würde, wenn wirklich ein Feind hinter der Tür stand.
Marvin stand da, war augenscheinlich etwas ruhiger und betrat den Flur. Der Griff um das Messer hinter meinem Rücken lockerte sich. ,,So kann ich nicht gehen", stellte er fest und bemerkte das Messer in meiner Hand. Er grinste, nahm es ab und brachte es zurück in die Küche. ,,Ich wusste nicht, wer da hinter der Tür steht", erklärte ich die Waffe. ,,Können wir nicht darüber reden?", fragte er verzweifelt. (...)
Und wir sprachen darüber, den ganzen Morgen lang. Marvin machte uns Spiegeleier mit Bacon und Toast, während ich im Bad verschwand, um mich zu waschen. Notgedrungen beantwortete ich ihm jede Frage, weil er sonst keine Ruhe gegeben hätte. Natürlich konnte ich ihn auch verstehen. Wer möchte die Vergangenheit seines Parnters nicht kennen? Doch für mich war das Thema ,,Noah" kein leichtes. Mir ging es nicht, um die Beziehung mit Noah. Er war mein bester Freund gewesen und wir hatten teilweise echt eine schöne Zeit. Zusammen mit der ganzen WG. Das hatte ich alles aufgegeben, weil ich Marvin beweisen wollte, dass ich nur ihn liebte.
Nachdem ich meine Haare zu einem Dutt nach oben gesteckt hatte, wickelte ich eine blaue Schleife darum und ging in das Wohnzimmer, um mit Marvin zu frühstücken.
Das Frühstück war sehr lecker, allerdings war die Stimmung geknickt und das Thema ließ Marvin einfach keine Ruhe. Dennoch brachte ich ihn mit meinem Auto zur Schule, damit er nicht auch noch die zweite Stunde verpasste.
Wir hatten grade einmal Vormittag und trotzdem schien die Sonne schon herrlich und wärmte mich auf. Auf dem Rückweg drehte ich die Musik etwas lauter und summte mit, versuchte die Diskussion des Morgens hinter mir zu lassen. (...)
Ich öffnete die Haustür von Marvins Haus (er hatte mir den Schlüssel gegeben, damit ich in Ruhe bei ihm lernen konnte) und zog meine Schuhe im Flur aus. Als ich das Wohnzimmer betrat sah ich sie.
Eine Frau, mit braun-roten, langen Haaren. Ihre Augen erschienen fast weiß und sie trug ein weiß-grünes Bauernkleid. Sie stand da, mitten im Wohnzimmer. Welcher Einbrecher war so dreist, mitten am Tag in ein fremdes Wohnzimmer zu spazieren und solch eine Kleidung zu tragen? Ich zuckte heftig zusammen und atmete schwer. ,,Was zum Teufel...?! Wer sind sie?!", kreischte ich panisch, traute mich aber nicht, mich zu bewegen. Die Frau stand einfach da. Sie bewegte sich nicht und sprach nicht. Eine dicke Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen. Plötzlich klingelte mein Smartphone in meiner Hand und der Name meiner Oma stand auf dem Display. Ohne weiter nachzudenken nahm ich den Anruf an und starrte wieder nach oben. Die Frau war verschwunden. ,,...Ja?", begrüßte ich meine Oma stotternd. Dabei ging ich im Wohnzimmer auf und ab und suchte diese Person. Wo war sie hin? ,,Wo warst du denn die ganze Nacht über? Du sollst endlich mal nach Hause kommen und dich nicht rum treiben!", meckerte meine Oma direkt durch den Hörer. ,,Ich treibe mich nicht herum. Du weißt doch, dass ich bei Marvin bin! Und hör auf so mit mir zu sprechen! Immerhin bin ich kein kleines Kind mehr!", bemerkte ich entschieden und ließ noch einmal meine Augen durch das Wohnzimmer schweifen. Nichts. ,,Du nimmst dir ganz schön viel raus!", zischte sie böse. ,,Das habe ich womöglich von dir", beendete ich das Gespräch und warf das Handy auf die helle Ledercouch. Was für ein Morgen...ohne eine Tasse Kaffee würde ich wohl kein einziges Wort mehr sprechen. Also ging ich in die Küche, kochte mir Kaffee, setzte mich an Marvins Schreibtisch in seinem Zimmer und starrte das Buch an, welches ich mir von der Bücherrei ausgeliehen hatte. Wie sollte ich jetzt noch Latein lernen?

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