Dienstag, 15. März 2016
Eine Fahrt ins Ungewisse
Es gab auch Nächte, in denen ich nichts steuern konnte. In solchen Nächten wusste ich zwar, dass ich träumte aber ich war nur Zuschauer einer Szene.
Diesmal war ich in einem wunderschönen Garten mit Pavillon. Die Wiese war saftig grün und die Blumen leuchteten, so intensiv waren die Farben. Ich trug meine Schlafhose und ein graues Top, während ich auf den Pavillon zuging. Die Sonne schien auf die weißen Bänke, die überall aufgestellt waren. Auf einer Bank, die sich unter dem Pavillon befand, saßen ein Junge und ein Mädchen. Das Mädchen kam mir stark bekannt vor. Sie war ich. Sie sah glücklich aus, ihre braunen Haare fielen ihr gelockt auf die Schultern und sie trug ein hellblaues Kleid. Ihre dunkelbraunen Augen waren auf den Jungen gerichtet, der ihre Hand hielt. Den Jungen kannte ich nicht. Er hatte braune Haare, die an den Seiten kürzer geschnitten waren. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich seine hellblauen Augen.
Das Mädchen, welches aussah wie ich, beugte sich vor um den Jungen zu küssen. Die beiden sahen so glücklich zusammen aus. Auch wenn ich den Jungen nicht kannte war ich froh, dass ich wenigstens im Traum eine schöne Beziehung hatte. Als ich weiter auf die Beiden starrte war es, als würde mir jemand einen Namen ins Ohr flüstern. „Marvin.“ Ich drehte mich um, konnte aber keinen entdecken. Dann wandte ich mich wieder dem Paar zu. Der Junge sah mir direkt in die Augen. „Marvin“, hauchte er. Was sollte das heißen? Das war nicht Marvin, denn den kannte ich. Kopfschüttelnd ging ich weiter und bald darauf wachte ich auf.

Einige Tage später beschloss ich auf eine Party zu gehen. Eine Freundin von mir veranstaltete eine Hausparty und ich konnte die Ablenkung gut gebrauchen. Ich zog mir eine enge Jeans und ein cooles Hemd an und lief los. Es war schon dunkel aber sie wohnte in der Nähe. Auf dem Weg ging ich noch kurz in einen Supermarkt, weil ich Cola zum mischen holen musste.
Auf der Party angekommen, legte ich meine Jacke und die Tasche ab und stellte mich sofort allen vor, die ich noch nicht kannte. Ich wusste, dass somit das Eis brechen würde.
Wir feierten in einem Keller, indem laute Musik spielte. Es waren hauptsächlich Jungs anwesend aber das machte nichts. Mit denen verstand ich mich in der Regel sowieso besser.
Es dauerte nicht lange, da war ich schon ordentlich angetrunken und tanzte zu jedem Lied. Irgendwann steckte ich die anderen mit meiner guten Laune an und sie tanzten mit mir. Der Abend war echt lustig und ich lernte neue Leute kennen.
Leider vertrug ich kaum Alkohol, weshalb mir im Laufe des Abends schlecht wurde. Also beschloss ich nichts alkoholisches mehr zu trinken und mich auf die Suche nach Wasser zu machen.
Ich ging nach oben in die Küche und fand keine Flasche Wasser. Deshalb nahm ich ein Glas und gab mich mit Kranwasser zufrieden.
„Wasser? Ist dir schlecht?“, fragte ein Junge hinter mir. Ich drehte mich um und sah ihn. Er lehnte sich gegen den Türrahmen und sah mich fragend an. Der Junge aus meinem Traum. Das konnte nicht sein! Ich musste wohl zu viel getrunken haben. Geschockt starrte ich ihn an und verschüttete etwas Wasser. „Geht’s dir nicht gut?“ Er kam näher und suchte meinen Blick. „Ehm…doch. Mir ist nur ein bisschen schlecht. Ich vertrag nichts“, sagte ich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte. „Willst du dich im Flur auf die Treppen setzen? Da kannst du dich ausruhen. Also…keine Sorge ich fass dich nicht an. Aber du siehst bisschen fertig aus“, stellte er besorgt fest. Ich nickte vorsichtig und ging in den Flur, um mich dann auf eine Stufe zu setzen. Er kam langsam nach und setzte sich neben mich. Im Flur hörte man die Musik aus dem Keller nur noch gedämpft, genauso wie das Gelächter der Partygäste. Wir hielten etwas Smalltalk und ich versuchte so zu tun, als ob alles normal wäre. Vielleicht bildete ich mir nur ein, dass er der Junge aus meinem Traum war. Nach einer halben Stunde kam ein anderer Junge aus dem Keller und grinste uns an. „Hey Marv, willst du nichts mehr trinken? Machst du schon schlapp?“, scherzte er und ging an uns vorbei, in Richtung Klo. Marv?! Entgeistert sah ich den Traumjungen an. Er war es! Oder war das etwa ein Traum? „Marv?“, fragte ich mit piepsiger Stimme. „Ja, ich heiße Marvin“, stellte er sich lächelnd vor. Nein, nein, nein! Vielleicht hatte jemand Drogen in meine Getränke gemischt. Eine andere logische Erklärung fand ich nämlich nicht. „Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen“, bemerkte Marvin und lachte. „Ich trinke nie wieder Alkohol“, sagte ich verzweifelt und lehnte meine Stirn gegen die Knie. „Also trinkst du nichts mehr heute?“, wollte Marvin wissen. „Nein, nie wieder!“, bestätigte ich. Der Junge von grade kam aus dem Klo und forderte Marvin dazu auf, mit ihm mitzugehen. „Nein Alter, ich trinke nichts mehr. Bin voll.“ Ich sah zu Marvin, der mich anlächelte. Sein Kumpel bedachte mich mit einem verschwörerischen Blick und ging dann wieder runter in den Keller. „Du kannst ruhig trinken gehen. Mir geht’s schon besser“, log ich und lächelte. „Nein, du trinkst ja auch nichts mehr. Also zieh ich mit, weil wir jetzt das Party-Paar sind“, erklärte er locker. „Party-Paar? Ich kann dir jetzt schon sagen, dass ich nicht mit dir rummachen werde, Cowboy“, sagte ich und musste lachen. „So meinte ich das auch nicht. Aber ich passe auf dich auf, ganz ohne Hintergedanken.“ Ich musste auf seine Lippen starren. Sie erinnerten mich an den Traum, indem das Mädchen ihn geküsst hatte. Also eigentlich war das Mädchen ja ich, deshalb habe ich ihn geküsst! „Es sei denn du willst mich küssen“, fügte Marvin hinzu, als er meine Blicke bemerkte. Ertappt befahl ich meinen Augen sich abzuwenden. „Was? Nein…keine Ahnung was heute mit mir los ist“, gab ich peinlich berührt zu. „Das ist irgendwie süß“, schmeichelte er mir.
Wir unterhielten uns noch einige Minuten, bis es mir wirklich besser ging. Dann gesellten wir uns wieder in den Keller, in dem ich die Leute wieder dazu animierte zu tanzen.
Als die Party zu Ende war tauchte Marvin wieder neben mir auf. „Wie kommst du nach Hause?“, wollte er wissen, als ich mir grade meine Jacke anzog. „Ich laufe. Es ist nicht weit weg.“ Ich nahm meine Tasche und schlenderte in den Flur. „Ich lasse dich doch nicht alleine laufen. Kann ich dich begleiten?“ Marvin stellte sich vor mich, sodass ich ihm antworten musste. „Wenn das eine Masche sein soll, dann kann ich dich nur warnen. Ich sehe zwar nicht so aus aber ich bin gefährlich“, drohte ich ihm scherzhaft. Er hob die Hände, als wollte er sich ergeben. „Ich will nur nicht, dass du im Dunkeln alleine nach Hause läufst.“
Also begleitete er mich nach Hause und dabei sprachen wir über dies und jenes. Am Ende gab ich ihm meine Nummer, als er einfach nicht locker lassen wollte.
Wir verabschiedeten uns an meiner Haustüre. Kaum war ich in meinem Zimmer, ließ ich mich auf mein Bett fallen und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen rief mich Marvin direkt an und wollte mich auf ein Eis einladen. Keine Ahnung ob das eine gute Idee war aber was hatte ich schon zu verlieren? Außerdem wollte ich ihn nüchtern sehen, damit ich mir sicher sein konnte, dass er der Junge aus meinem Traum war.
Ich zog mir eine normale Jeans und ein schlichtes Oberteil an, immerhin sollte das kein Date sein. Während ich mich fertig machte, rief mich Dana an und ich erzählte ihr von meinem Traum und Marvin. Als ich ihr jedoch sagte, ich wolle mich mit ihm treffen, war sie kurz davor auszurasten. Sie meinte, ich solle warten, weil sie davor noch persönlich mit mir sprechen wollte. Also wartete ich, denn mit Dana zu diskutieren brachte sowieso nichts.
Ich wartete draußen im Garten, weil die Sonne schien und ich frische Luft brauchte. Nach knapp einer Stunde stand eine aufgebrachte Dana vor mir und stemmte ihre Hände in die Hüften. Ihre naturroten Locken hatte sie zu einem Dutt zusammengesteckt und wie üblich trug sie schwarz.
Sie stand vor mir, als wollte sie mich gleich erstechen. Ich dagegen saß entspannt auf einem Gartenstuhl und wippte mit den Füßen hin und her. Jedes Gespräch mit Dana wäre jetzt sinnlos, also stellte ich mich darauf ein, in mein Auto zu flüchten. „Was genau hast du jetzt vor?“, fuhr sie mich an. „Ich treffe mich mit ihm und gucke, was das alles zu bedeuten hat“, gab ich wahrheitsgemäß zu und zuckte mit den Schultern. „Es hat nichts zu bedeuten! Das war einfach nur ein dummer Traum, mehr nicht! Wahrscheinlich sah er noch nicht mal so aus, wie dieser Marvin!“, sagte sie laut und entschlossen. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es ist. Das ist doch keine große Sache. Wir gehen nur ein Eis essen“, bemerkte ich und ging auf meine Garage zu. „Nur ein Eis essen?!“, Dana war kurz vor einer Explosion. „Was wird Noah dazu wohl sagen? Du brichst dem Jungen das Herz!“ Abrupt blieb ich stehen, drehte mich aber nicht zu Dana. Da war was Wahres dran aber ich wusste, dass der Traum eine Bedeutung haben musste. Ich war einfach zu neugierig. „Ich will nicht über Noah reden“, flüsterte ich. Das wollte ich wirklich nicht, weil ich mir bei ihm nie sicher war. Es war so ein Gefühl, tief in mir drin. Dieses Gefühl hielt mich davon ab, mich in eine richtige Beziehung mit Noah zu stürzen. Egal, wie süß und romantisch er schien. „Ich aber!“, schrie Dana sauer. „Er ist auch ein sehr guter Freund von mir! Du wirst ihm das Herz brechen, wie du es immer tust. Dieser Traum ist doch nur eine billige Ausrede. Du willst dich doch nur vergnügen!“ Das hatte gesessen. Sowas von einer Freundin zu hören. Dabei hatte sie teilweise recht, ich würde Noah das Herz brechen. Aber nicht, weil ich mich vergnügen wollte, sondern weil ich ein komplett verkorkstes Leben hatte. Ich konnte damit nicht richtig umgehen. Ich ignorierte diesen Kommentar und öffnete das Garagentor. Kurz bevor ich einsteigen konnte, meldete sich Dana wieder zu Wort. „Was willst du Marvin denn erzählen?“, fragte sie etwas leiser, als grade. Sie stand direkt vor der Garage, ihre Arme waren verschränkt. „Wie willst du ihm von deiner Krankheit erzählen? Wie willst du ihm deine Träume, das nächtliche Schreien und Weinen erklären? Was erzählst du, wenn er bemerkt, wie traumatisiert du bist? Traust du dich, ihn mit zu nehmen zu deiner Familie? Meinst du echt, er hätte Verständnis? Nein. Noch hat er ein tolles Leben, versau ihm das nicht mit deinen Problemen.“ Ich ließ die Autotür zufallen und starrte meine gnadenlose Freundin mit feuchten Augen an. „Du glaubst, ich versaue Leben?“, fragte ich sie niedergeschlagen. Danas Blick wurde weicher. „Ich weiß, dass wir alle…unser ganzer Freundeskreis Leben versaut. Ich weiß nicht wieso aber alle um uns herum haben nur Pech. Jedes Mal passiert die nächste Katastrophe. Als dürften wir nicht glücklich sein. Es ist unsere Pflicht, die Anzahl der Opfer möglichst klein zu halten. Mag sein, dass du von Marvin geträumt hast aber lass ihn in Ruhe. Das sollte doch ein Grund mehr sein, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Bitte, bleib hier.“
Sie hatte recht, mit allem was sie sagte. Doch meine Neugier war größer, als jede Warnung.

Während ich alleine zu Marvin fuhr, musste ich an Danas Worte denken und meine Augen wurden sofort wieder nass. Wir brachten tatsächlich nur Unglück.
Plötzlich tauchte ein Kind mit einem Dreirad auf der Straße auf. „Scheiße!“, fluchte ich und drehte das Lenkrad rum, damit ich ausweichen konnte. Das Auto steuerte direkt auf den Bordstein zu. Man hörte, wie die Reifen unschön gegen die Kante stießen, was mein Auto enorm zum wackeln brachte. Mein Kopf knallte gegen das Fenster der Autotür. Als das Auto endlich hielt, hörte ich ein lautes Piepen in meinen Ohren. Ich kam langsam zu mir, da sah ich die Mutter, die besorgt auf die Straße rannte und ihr kleines Mädchen in den Arm nahm. Das Piepen ließ nach und mir wurde bewusst, was grade passiert ist. „Scheiße!“, wiederholte ich geschockt. „Shane!“ Shane hatte ich mein Auto getauft. Ich öffnete die Fahrertür und rannte um das Auto herum. Meine Felgen waren komplett zerkratzt und auch leicht verbogen. Jedoch war der Schaden nicht groß und ich konnte auch so weiterfahren. „Es tut mir so leid!“, sagte die Mutter total aufgelöst und kam auf mich zu. Sie hielt die Hand ihres Kindes in der einen und das Dreirad in der anderen Hand. „Geht’s ihr gut?“, fragte ich benommen und schaute auf das kleine Mädchen, welches mich ahnungslos anlächelte. „Ja, sie haben Gott sei Dank schnell reagiert! Geht’s ihnen denn gut? Ihre Reifen haben etwas abbekommen…das tut mir leid!“ Die Frau richtete ihren Blick auf meine demolierten Felgen. „Egal…das Wichtigste ist, dass es dem Kind gut geht“, bemerkte ich leise. „Ich habe nur einen Moment nicht aufgepasst. Ich werde den Schaden natürlich bezahlen!“ Ich sah mir die Frau genauer an. Ehrlich gesagt, wirkte sie nicht so, als könne sie sich neue Felgen leisten. Ihre Kleidung wirkte schon ziemlich alt und verwaschen und auch das Dreirad wurde nur noch von Paketband zusammengehalten. „Nein, sie müssen nichts bezahlen. Die Sommerreifen kommen bald drauf und ich kann damit noch fahren“, stellte ich fest und wollte wieder in mein Auto steigen. „Sind sie sicher?“, fragte die Frau erstaunt. „Ja, kaufen sie ihrem Kind ein großes Eis. Schönen Tag noch!“, verabschiedete ich mich freundlich und verschwand in meinem Auto. Das war auf jeden Fall ein schlechtes Omen für das Treffen mit Marvin. Außerdem musste ich mir überlegen, wie ich meiner Familie den Schaden erklären sollte. Sie würden mich umbringen, wenn sie wüssten, dass ich Geld ausgeschlagen habe. Ich fuhr also weiter, weiter ins Ungewisse.

... link