Montag, 23. Mai 2016
Familie
Es gibt immer mal wieder Streit in einer Familie. Manchmal streiten sich Familien einfach nur wegen Kleinigkeiten, sodass man sich an den Grund der Eskalation gar nicht mehr erinnern kann. Meine Familie stritt sich bei jeder Gelegenheit. Meistens an irgendwelchen Feiertagen oder Geburtstagen. Und meistens war ich am Ende die Schuldige. Warum? Eigentlich ging es in dem Streit selten um mich. Ich war noch nicht einmal involviert. Doch ich mischte mich jedes Mal ein. Ich konnte es nicht sehen, wenn jemand fertig gemacht wurde. Dann musste ich eingreifen!
So auch an diesem Samstagnachmittag. Es war sonnig und warm. Die ganze Familie versammelte sich bei meiner Mutter im Garten. Wir grillten und feierten den Geburtstag meiner kleinen Schwester nach. Sie wurde 10 Jahre alt. Die ersten zwei Stunden passierte nichts Außergewöhnliches. Noah und ich spielten mit meinen kleinen Geschwistern. Wir warteten auf das Essen, das sich bereits auf dem Grill befand. Leider war meine verhasste Tante ebenfalls dort. Keiner mochte sie, weil sie immer Streit in die Familie brachte. Mehr als sonst schon vorhanden war. Sie suchte nach Gründen, damit sie ein Feuer des Zorns entzünden konnte. Wieso man sie trotzdem einlud, war mir schleierhaft.
Auftritt: mein Onkel. Ich hatte viele Onkel und Tanten aber diesen mochte ich am meisten. Er wuchs mit mir auf und wurde sowas, wie mein großer Bruder. Vor kurzem hatte er sich von seiner Frau getrennt und er lebte jetzt mitten in der Scheidung. Mein Onkel hasste meine Tante abgrundtief, denn er erkannte welch eine Hexe hinter ihr steckte.
Keine Ahnung, was das Feuer mal wieder entzündet hatte, aber es dauerte nicht lange und mein Onkel explodierte. Er sprang auf und stellte sich bedrohlich vor meine Tante. „Hör verdammt nochmal auf über mich zu reden! Das geht dich einen Scheißdreck an!“, brüllte er wutentbrannt. Seine Stimme war so voller Hass, dass sogar ich Gänsehaut bekam. Meine drei kleinen Geschwister, Noah und ich saßen auf der Wiese und spielten Karten. Wir unterbrachen das Spiel und schauten zum Gartentisch, wo sich eine Katastrophe anbahnte. „Du brauchst dich gar nicht so aufspielen, du Mistkerl!“, sagte meine Möchtegern Tante zickig. Ich schnaubte vor Wut. So sprach keiner mit meinem „großen Bruder“! Noah warf mir einen warnenden Blick zu. Er wusste, ich würde es nicht mehr lange auf der Wiese aushalten. „Pass auf was du sagst!“, drohte mein Onkel zornig. „Ich hau lieber ab, sonst vergesse ich mich.“ Mein Onkel wusste, wann es Zeit war einfach zu gehen. Er wollte meiner kleinen Schwester die Feier nicht komplett versauen. Also verabschiedete er sich von uns und verschwand. Doch er hatte mich zurück gelassen und ich wusste definitiv nicht, wann es Zeit war den Mund zu halten und einfach zu gehen. Meine „Tante“ saß eingeschnappt auf ihrem Stuhl. Als meine Mutter in den Garten kam, ließ sie ihre ganze aufgestaute Wut an ihr aus und berichtete von meinem „unverschämten“ Onkel. Dabei benutzte sie Wörter, die ich hier nicht erwähnen möchte.
Mein Körper fing an zu zittern und mein Beschützer-Instinkt meldete sich schlagartig zu Wort. Wenn er nicht mehr hier war, musste ich ihn verteidigen. Plötzlich stand ich und ging auf meine Tante zu. Die Hände zu Fäusten geballt, setzte ich meinen schlimmsten Todesblick auf. Sie bemerkte mich, noch bevor ich bei ihr war. „Was sagst du denn dazu?“, wollte sie tatsächlich von mir wissen. Sie wollte wirklich von mir wissen, was ich dazu sage?! Gefährliche Frage. Ich baute mich vor ihr auf und atmete ein. Sie war ein ganz furchtbarer Mensch und hatte nicht das Recht über meinen Onkel zu urteilen. Mein Onkel hatte ihr nie etwas getan. In meiner Wut bemerkte ich nicht, dass Noah hinter mir stand. Er legte seine Hand um meinen Arm und zog mich zu sich. Ich sah zu ihm, dann schüttelte er leicht mit seinem Kopf. „Das ist nicht dein Krieg“, flüsterte er mir ins Ohr, sodass nur ich das hören konnte. „Sie möchte doch nur, dass du jetzt ausrastest“, fügte er sehr leise hinzu. Für kurze Zeit war es sehr Still und keiner am Gartentisch sprach. Alle sahen zu mir und erwarteten wirklich, dass ich meine Fassung verlor. Mein Körper entspannte sich, während Noah leicht über meinen Arm strich. Auch meine Gesichtszüge schienen weicher zu werden. „Ich halte mich da raus“, antwortete ich schließlich gedämpft und ging an meiner Tante vorbei. Ich musste schnell ins Haus, um durchzuatmen. Als ich ins Haus ging, sah ich nochmal zurück. Meine Familie sprach nicht. Sie sahen sich alle erstaunt und stumm an.

Im Badezimmer kühlte ich meine erhitzten Wangen mit kaltem Wasser ab. Es kostete mich viel Kraft einfach leise zu sein. Normalerweise sagte ich immer was ich dachte. Vor allem wenn es darum ging jemanden zu beschützen. Aber Noah hatte recht gehabt. Dies war nicht mein Krieg. Wenn ich mich jedes Mal einmischte, würde ich nie meinen Frieden finden. Aus manchen Sachen musste ich mich raushalten. Sei es, um gesund zu werden. Meine Krankheit ernährte sich von negativen Gefühlen. Ich durfte diese nicht mehr an mich heran lassen. Noah kam ins Bad und umarmte mich von hinten. „Ich bin stolz auf dich“, sagte er liebevoll. „Es fühlt sich so falsch an nichts gesagt zu haben. Das ist doch nicht richtig. Sie macht meinen Onkel fertig und er ist nicht da, um sich zu verteidigen“, jammerte ich unzufrieden und ließ meine Schultern hängen. Noah drehte mich so, dass er mir in die Augen gucken konnte. „Hör mir jetzt gut zu“, meinte er ernst. „Du musst aufhören dich überall einzumischen. Das tut dir nicht gut. Deine Familie wird sich immer streiten. Das war bestimmt nicht das letzte Mal…aber du darfst nicht alles auf deine Schultern nehmen.“ Er sprach langsam und entschlossen. Er wollte, dass ich mir seine Worte einprägte. „Du hast recht“, gab ich nach und lächelte schwach. „Ich muss das noch trainieren.“ Er küsste mich auf die Stirn und lächelte zurück. „Du hast das grade sehr gut gemacht. Und jetzt komm, wir gehen wieder zu deinen Geschwistern“, sagte er und nahm meine Hand. Langsam trottete ich hinter ihm her. Ich hatte keine Lust zurück zu meiner Familie zu gehen. Doch meine kleinen Geschwister konnten nichts dafür. Wir gingen die Treppen hinunter und auf die Türe zu, die uns von meiner Familie trennte. „Ich kann nicht glauben, dass das meine Familie ist“, bemerkte ich leise, bevor Noah die Tür öffnete. Er hielt inne und wandte sich zu mir. „Dann glaub es nicht. Ich bin jetzt deine Familie“, stellte er fest und zwinkerte mir zu.
Da stellte ich mir die Frage: Wann konnte man von einer Familie sprechen? Im Laufe der Zeit wurde mir nämlich klar, dass Blut allein nicht reicht. Familie bedeutet Liebe. Und vielleicht musste ich endlich einsehen, dass wir nie eine Familie waren und auch nie eine sein werden.

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