Montag, 6. Juni 2016
Fieber
Ich saß auf einem Holzstuhl mitten in der Dunkelheit. Meine Arme und Beine waren mit einem Seil gefesselt. Ich versuchte mich zu bewegen, mich zu befreien. Doch je mehr ich mich rührte, desto tiefer schnitt das Seil in meine Knöchel. Der Schmerz durchfuhr meinen ganzen Körper. Super, ich saß also mal wieder fest. Wann würde ich endlich lernen meine Träume vollkommen kontrollieren zu können? Vielleicht, wenn ich mein Leben kontrollieren konnte. Bis dahin war es allerdings ein weiter Weg. Mein Vater tauchte vor mir auf. Wie sollte es anders sein? Seine Mütze tief in die Stirn gezogen, grinste er mich bedrohlich an. Er hielt etwas in den Händen. Einen Benzinkanister. Nein, nein, nein! Das wird schmerzhaft. Mein Vater schüttete eine Benzinspur, bis zu meinem Stuhl. Als er bei mir ankam, ließ er Benzin über mich laufen. „Ich weiß dass es nur ein Traum ist…könntest du bitte aufhören?“, versuchte ich mein Glück aber ich wusste, es war hoffnungslos. Mein Vater entfernte sich von mir, zückte ein Feuerzeug und entzündete eine kleine Flamme. Ich schloss die Augen, betete ich würde endlich aufwachen. Es war zwar ein Traum aber der Schmerz war durchaus real. Eine kurze Zeit lang war es still, doch dann hörte man das Feuer knistern…es kam immer näher.

Ich brannte! Mein Körper glühte und pochte. Als ich meine Augen öffnete war ich zwar in meinem Zimmer aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich wirklich brannte. Ich schnappte nach Luft und richtete mich auf, dabei verlor ich das Gleichgewicht und fiel vom Bett. „Verdammt“, jammerte ich, als ich zu mir kam. Mir ging es überhaupt nicht gut. Ich drehte mich auf den Rücken und ließ meine Hand über meine Stirn gleiten. Fieber. Es war nur Fieber. Ich brannte nicht wirklich.
Luna knabberte an ihrem Käfig und zeigte mir somit, dass ich tatsächlich nicht mehr träumte. Völlig erschöpft krabbelte ich zu ihr und öffnete das Gitter, damit sie raus hoppeln konnte. „Tut mir leid für den Lärm“, entschuldigte ich mich mit heiserer Stimme. War ich wieder krank? Ich stand auf und humpelte ins Badezimmer. Anscheinend hatte ich mich beim Sturz am Bein verletzt aber das war nichts Neues mehr. Im Bad angekommen schaute ich in den Spiegel. Mein Gesicht war kreidebleich und tiefe, dunkelviolette Augenringe zeichneten meine Wangen. Dazu kam noch, dass mein linkes Auge dick wurde und ich nur noch verschwommen sah. Ok, so würde ich heute nicht raus gehen.
Generell schien die Pechsträhne nicht enden zu wollen. Jedes Mal liefen meine Beziehungen gleich ab und nahmen auch ein gleiches Ende. Wie lange würde ich das noch aushalten? Es war nicht so, dass ich nicht liebte. Aber mir fiel es immer schwerer es zu zeigen. Vielleicht war es fairer, wenn ich einfach keine Beziehungen mehr einging. Ich machte ja doch alles falsch.
Meine Knochen begannen mir weh zutun und meine Körpertemperatur erhöhte sich zunehmend. Ein Piepen drang in mein Ohr, bis ich es wieder hörte…das Flüstern. „Hallo...du kannst mich nicht ignorieren.“ Panisch ging ich in den Flur und sah mich um. „Halt deine Fresse!“, schrie ich ins Leere. Jetzt verlor ich definitiv den Verstand. Gut, dass ich an diesem Tag alleine in meiner Wohnung war, weil meine Großeltern nicht da waren. Ich ging in mein Zimmer und zog mich um. Eine schwarze Jogginghose und ein T-Shirt mit der amerikanischen Flagge drauf würden reichen. Das T-Shirt hatte mir Noah aus dem Urlaub mitgebracht. Automatisch dachte ich an alte Zeiten, was mich wahnsinnig machte. „Du bist nicht alleine, wenn du willst“, hauchte wieder irgendetwas in meinem Kopf. Oh mein Gott, jetzt verstand ich ganze Sätze! Ich presste meine Handflächen auf meine Ohren und sah mich um. Das Letzte was ich jetzt gebrauchen konnte, war es Geisteskrank zu werden. Plötzlich prasselten alle Erinnerungen auf mich hinab. Jede schlechte und jede gute. Sie ließen mich einfach nicht mehr los. Ich rannte in die Küche und drehte den Wasserhahn auf, damit ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzen konnte. Ein Kloß brannte in meiner Kehle. So viele Menschen hatte ich verloren…ich war so alleine. Das Schlimmste an der Sache war, dass ich schuld gewesen bin. „Du bist Schuld, beende es.“ Das Flüstern hörte nicht auf. Mein Blick fiel auf die Schublade mit dem Besteck. Langsam öffnete ich sie und kramte ein großes Fleischmesser heraus. Es war, als würde mich etwas steuern. Ich war nicht mehr ich selbst. Mit zitternden Händen hielt ich das Messer fest und starrte es an. Tränen brannten in meinen Augen. War es wieder so weit gekommen? Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als ich es beenden wollte…

„Wissen sie, wieso sie hier sind?“, fragte mich der Arzt ruhig. Ich sah mich in dem Zimmer um. Es sah aus, wie ein Krankenhaus-Zimmer, nur freundlicher eingerichtet. Durch die Fenster schien die Sonne. Sie leuchtete direkt auf einen runden Tisch mit zwei Stühlen. Hier und da standen Blumen. An der Zimmertüre standen zwei Männer in Weiß, die ausdruckslos geradeaus starrten. Der Arzt saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und hielt ein Klemmbrett in der Hand. Er hatte schwarze, kurze Haare und grün-blaue Augen. Er war schon etwas älter, denn hier und dort konnte man schon ein weißes Haar erkennen. Dann musterte ich mich. Ich trug eine Art Nachthemd…langsam kamen die Erinnerungen hoch. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich den Arzt an. „Ich bin Dr. Görgels“, stellte er sich vor. „Ich frage sie, wissen sie, wie sie hier hin gekommen sind?“ Vor meinem inneren Auge tauchten Bilder von einer Brücke auf. Ich wollte springen. „Ich möchte nach Hause“, sagte ich entschlossen und setzte mich auf den Rand des Bettes. Die Männer an der Türe sahen jetzt zu mir. „Das können sie nicht. Sie wollten springen. Wissen sie noch, wieso?“, fragte der Arzt einfach weiter. Nervös schaute ich mich um. „Wo bin ich?“ Der Arzt atmete hörbar aus. „Sie sind in einer besonderen Klinik. Wir wollen ihnen helfen.“ Oh, nein! Ich musste dort auf der Stelle weg! Panisch sprang ich auf und wollte zur Türe hinaus aber die Männer packten mich und hielten mich fest. „Nein! Lassen sie mich los!“, kreischte ich und versuchte zu entkommen. Plötzlich hörte ich Handschellen klicken. Hatten die mich grade festgenommen? „Beruhigen sie sich! Sie sind in guten Händen. Wir werden ihnen helfen.“ Der Arzt stand jetzt vor mir. Doch ich wollte nicht dort bleiben. Ich war nicht verrückt, einfach nur verzweifelt. Als ich nicht aufhörte zu zappeln, zückte der Arzt eine Spritze. Ich spürte einen Einstich in meinen Arm. Daraufhin wurde es dunkel.

Nein, sie würden mich noch länger dort behalten, wenn ich es wieder versuchte. Ich legte das Messer auf den Küchentisch und schluckte schwer. Soweit durfte ich es nicht mehr kommen lassen. Plötzlich klopfte es an der Schlafzimmertüre.
Ich ging den Flur entlang und öffnete sie. Wie zu erwarten, war niemand zu sehen. Doch Opas Wodka-Flasche stand mitten im Raum. Normalerweise versteckte er sie immer hinter irgendwelchen Schränken. „Trink“, flüsterte wieder etwas. Anscheinend gehörte die Stimme in meinem Kopf zu den Anonymen Alkoholikern. Super. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Ich hatte so gut wie keinen mehr. Ich nahm die Flasche, ging in die Küche und mischte den Wodka mit etwas Traubensaft.

Die Hälfte der Flasche war schnell leer. Konnte ich vorher schon schlecht sehen, sah ich jetzt noch schlechter. Die ganze Welt schien sich etwas schneller zu drehen. Ein weiterer Tiefpunkt meines Lebens. Ich lag auf dem Küchenboden, als plötzlich das Messer vom Tisch fiel, direkt neben mich. Das wurde mir einfach zu viel. Ich war kurz davor, mal wieder einen Fehler zu begehen. Also zog ich mir meine Schuhe an und verschwand aus der Wohnung.

Ich torkelte durch die Straßen. Es war heiß, besonders wenn die Sonne auf meinen ohnehin schon überforderten Kopf strahlte. Jeder, der an mir vorbeiging, bedachte mich mit einem seltsamen Blick. Mir egal, was die Leute dachten…ich wollte einfach nur noch weg. Irgendwann kam ich an eine Kreuzung. Rechts von mir befand sich eine weitere Nebenstraße. Links von mir eine viel befahrene Hauptstraße. Zuerst wollte ich in die Nebenstraße, denn so sollte mich nicht die ganze Stadt sehen. Aber irgendetwas zog mich dann doch nach links. Ich ging auf die Hauptstraße zu und wollte sie überqueren. Dabei beachtete ich die Autos nicht, was mir das ein oder andere Hupen einbrachte. Während ich erneut in eine Nebenstraße einbog, dröhnte mein Kopf stark. „Lauf schneller!“, hörte ich es in meinem Kopf. Plötzlich roch ich ihn. Der Duft von Eric kam auf mich zu. Würde er zurück kommen, um mich zu retten? Wollte ich das überhaupt, nach all der Zeit? Doch es war nicht Eric, der sich mir in den Weg stellte. Es war Marvin und die Zeit in Trance war vorbei. „Was machst du hier?“, fragte ich und dabei versuchte ich nicht zu sehr zu nuscheln. „Ich habe dich gesucht und zum Glück auch gefunden. Was machst du hier?“ Ich wollte weitergehen aber er ließ mich nicht alleine. „Ich will spazieren gehen“, sagte ich schroff und ging weiter. Er folgte mir. „Dann komme ich mit.“ Es hatte keinen Zweck mehr vor etwas wegzulaufen. Ich war sowieso zu schwach, um zu entkommen. Jetzt musste ich mich wieder meinen Gefühlen stellen. Also gab ich auf und setzte mich auf den Bordstein. Marvin blieb hinter mir stehen und überlegte erst, bevor er sich dann neben mich setzte. Mein Kopf glühte immer noch. Es war eine dumme Idee gewesen zu trinken und dann raus zu gehen. Vielleicht wurde ich echt krank. Ich zog meine Knie an meinen Körper und lehnte mich mit meiner Stirn dagegen. „Mir ist so heiß“, stellte ich müde fest. „Was machst du auch hier draußen?“, wollte Marvin wissen. Was sollte ich sagen? Das eine Stimme in meinem Kopf mich schon den ganzen Tag fertig machte? Das ich unfähig war, normal zu sein? Verdammt, ich wollte normal sein. „Ich brauche Eis“, bemerkte ich und sah ihn jetzt wieder an. „Ich kann dir welches kaufen“, bot er an und lächelte.
Wir standen auf und gingen den Weg zurück, den ich vorher gegangen war. Dabei wurde ich immer schwächer und jeder Schritt schmerzte. Kurz vor meiner Wohnung blieben wir stehen. „Ich gehe zur Trinkhalle und hole das Eis und du wartest vor der Haustüre, ok?“, schlug Marvin vor und machte sich bereits auf den Weg. Ich nickte und torkelte bis zu meiner Haustüre. Dort setzte ich mich auf den Boden und wartete. Dabei starrte ich die Rosen vor unserem Haus an. Sie waren wunderschön…aber doch so vergänglich. Marvin tauchte auf und ich betete zu wem auch immer, dass nicht alles im Leben so vergänglich ist.

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