Mittwoch, 13. April 2016
Gabe
Ich glaube daran, dass jeder Mensch aus einem Grund auf dieser Welt ist. Nichts passiert aus purer Willkür, denn wir haben alle eine Aufgabe. Nur erkennen leider wenige, zu welchen Dingen sie berufen sind. Sie erkennen ihre Fähigkeiten nicht. Mein Leben begann sich zu ändern, als ich herausgefunden habe, was ich für eine Fähigkeit besitze.
Während eines luziden Traums befand ich mich auf einem Hochhausdach. Es regnete stark und es war dunkel. Mir war sofort bewusst, dass dies kein schöner Traum sein würde. Meine brünetten Haare klebten nass an meinem Gesicht. Als ich sie nach hinten binden wollte, sah ich meinen Vater. Er stand auf der anderen Seite des Dachs und beäugte mich aggressiv. Oh nein, nicht schon wieder! Plötzlich stürmte er auf mich los und drückte mich zu Boden. Er legte beide Hände um meinen Hals und drückte zu. Ich bekam keine Luft mehr und schlug wie wild um mich. Da wurde mir klar, es war nur ein Traum. Also schubste ich ihn mit unnatürlicher Kraft von mir weg und rappelte mich auf. Mein Vater setzte erneut an und stieß mich vom Dach. Schreiend klammerte ich mich an den Rand des Dachs und versuchte mich wieder hochzuziehen. Obwohl das nicht real war, wirkte es sehr echt. Es regnete nicht mehr aber wegen der nassen Oberfläche rutschte ich immer wieder ab. Eine zierliche Hand griff nach meiner und zog mich wieder auf das Dach.
Keuchend stand ich auf und blickte in die vertrauten Augen von…Zeynep? Ich konnte es nicht fassen! Sie trug einen hellbraunen Rock und ein weißes Hemd. Ihre schwarzen Haare fielen ihr glatt auf die Schultern. Tränen brannten in meinen Augen. Warum tat mir mein Unterbewusstsein sowas an? „Weine nicht…mir geht es gut, da wo ich jetzt bin“, meldete sich Zeynep zu Wort und lächelte. Wow, es war echt real. Die Sonne kam heraus und leuchtete auf die Hochhäuser, die in der Landschaft zu sehen waren. „Ich bin zurück gekommen, weil ich herausgefunden habe, wer du bist! Außerdem weiß ich jetzt, warum du diese Schmerzen hast“, fuhr sie aufgeregt fort. Entgeistert starrte ich meine Traumfreundin an. „Du bist nicht echt. Ich weiß das“, stellte ich trocken fest. „Du musst anfangen zu glauben. Hör mir wenigstens zu“, bat Zeynep mich eindringlich. „Wer bin ich?“, wollte ich unsicher wissen und trat von einem Fuß auf den anderen. Zeyneps Augen funkelten begeistert. „Eine ganz alte Seele! Ich hab es gesehen! Ich hab dich in den Tempeln gesehen und in den Kirchen. Du warst sogar mal eine Priesterin. Kein Wunder, dass du so oft Konflikte mit dir selbst hast. Deine alte Seele kann sich in der neuen Zeit nicht ordentlich entfalten.“ Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Ich habe also schon gelebt?“, fragte ich ungläubig. „Ja, hast du. Doch das ist eigentlich nicht das Wichtige“, bemerkte Zeynep ernst. „Deine Schmerzen bedeuten viel mehr, als dir je ein Arzt sagen kann.“ Da wurde ich dann doch neugierig. Immerhin wollte ich diese Schmerzen unbedingt loswerden. „Wie kann man das heilen?“, wollte ich wissen. „Gar nicht“, sagte sie entschieden. „Aber du brauchst diese Schmerzen auch.“ Super, inwiefern sollte ich diese Schmerzen brauchen? Das war die Hölle! „Diese Schmerzen sorgen dafür, dass du deine Gabe im Griff hast. Sie sind sowohl Signal, als auch Schutz“, erklärte Zeynep. „Was für eine Gabe soll das sein?“ Was für eine Gabe sorgte dafür, dass ich nachts keinen Schlaf bekam? „Es gibt keine genaue Bezeichnung für Gaben aber ich nenne dich Seherin. Diese Schmerzen tauchen nur auf, wenn jemand in deinem Umfeld leidet. Entweder körperlich oder seelisch. Sie werden immer schlimmer, wenn du nicht hilfst. So ist das Prinzip. Damals hast du diese Gabe besser unter Kontrolle gehabt und konntest die Gefühle in den Menschen direkt sehen. Ein Blick in die Augen hat gereicht. Doch jetzt spürst du zwar das Signal aber kannst die Personen oder die genauen Gefühle nicht erkennen. Es gibt so viele Menschen mit Problemen und du hast die Last der Gefühle auf deinen Schultern.“
Geschockt starrte ich sie an und versuchte zu realisieren, was sie mir grade erzählt hatte. „Jetzt muss ich mit diesen Schmerzen leben? Ich sterbe manchmal fast daran“, stellte ich fassungslos fest. „Da ist der Haken an der Geschichte“, fiel es Zeynep ein. „Denk doch mal nach…wenn du schon bei den Gefühlen von Fremden leidest, wie leidet dein Körper dann bei deinen Gefühlen? Je schlechter es dir geht, desto schlechter geht es deinem Körper.“ Also hatte der Arzt recht mit meinem Selbstzerstörungsknopf. Die Karten waren wohl schon ausgeteilt und vielleicht konnte ich meiner Traum-Zeynep glauben. „Wie kann ich das trainieren?“ Plötzlich hallte ein Wecker durch meine Traumwelt und ich wusste, mein Traum drohte zu kollabieren. „Du kannst es trainieren. Ich erzähle es dir beim nächsten Mal! Aber du musst es für dich behalten! Die Menschen sind ungläubig geworden!“, rief Zeynep noch, bevor sie in der Dunkelheit verschwand.

Das war also meine Aufgabe: Ich musste Menschen helfen. Eigentlich war das keine schlechte Sache, denn ich half gerne. Jedoch wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte oder wie ich das kontrollieren konnte. Den ganzen Tag über grübelte ich über Zeyneps Worte. War es wirklich Zeynep gewesen oder eine Traumversion? Wurde ich langsam verrückt? Wahrscheinlich.
Meine Freunde luden mich nachmittags zum Essen in die WG ein und ich zog ein rotes, bauchfreies Oberteil an, immerhin war es richtig warm draußen. Dazu eine kurze Jeans und Sneakers und mein Outfit war perfekt.
Dana ließ mich in die Wohnung und begrüßte mich freudig. „Noah und Jonah sitzen im Wohnzimmer am Esstisch. Wunder dich nicht über das Mädchen. Ich denke die heißt Sophie und ist eine Freundin aus der Uni. Also ich kann die ja nicht leiden“, klärte Dana mich direkt auf. Dana trug ihre naturroten Haare offen und sah wie immer gut aus. Eigentlich trug sie ähnliche Klamotten wie ich aber bei ihr sah es aus, als wäre sie ein Modell. Sie verschwand wieder in der Küche, während ich die Anderen im Wohnzimmer begrüßen wollte. Natürlich wunderte ich mich über diese Sophie. Wieso hatte mir Noah nichts von ihr erzählt? Die Drei saßen am Esstisch und sprachen über irgendetwas, was ich nicht verstand. Plötzlich wurden alle Still und sahen zu mir. Wir begrüßten uns und mir entging nicht, dass sich Sophie dicht zu Noah gesetzt hatte. Also setzte ich mich neben Jonah. Beide sahen wirklich gut gestylt aus. Man sah auch, dass sie verwandt waren, nicht nur an ihren dunkelbraunen Haaren. Ihre Gesichtszüge waren ganz ähnlich. Sophie bedachte mich mit einem neugierigen Blick. Sie hatte grüne Augen und lange, blonde Haare. Ihre Klamotten waren eher schick und konnten auch zu einem Bewerbungsgespräch passen. „Entschuldigung, musst du nicht eigentlich im Krankenhaus sein?“, fragte Sophie etwas zu hochnäsig. Ich hasste sie und mein Magen zog sich zusammen. Von jetzt an musste ich auf die Reaktionen meines Körpers achten. Vielleicht konnte ich so meine „Gabe“ trainieren. „Wieso im Krankenhaus?“, stellte ich die Gegenfrage und warf einen Blick auf die Jungs. Wenn Blicke töten könnten… „Naja, ich habe von deinen Schmerzen gehört. Muss echt hart sein aber mit etwas mehr Mühe kann man das bestimmt therapieren lassen“, bemerkte Sophie und grinste mich frech an. Was war ihr Problem? „Das geht dich nichts an. Ich helfe in der Küche“, sagte ich, erhob mich und ging Richtung Küche. Dabei zog sich mein Magen immer wieder zusammen. War das eine Reaktion auf Hass? Wut? Zu kompliziert. Dana war in der Küche grade dabei die Teller zu dekorieren. „Du kannst dich ruhig setzen. Ich bin jetzt fertig“, sagte sie, als sie mich sah. „Ich hasse diese Sophie“, knurrte ich und lehnte mich gegen die Küchentheke. Dana unterbrach ihre Arbeit und sah mich fragend an. „Ich kann sie ja auch nicht leiden aber vielleicht nimmt sie das freie WG Zimmer.“ Mit dieser Hiobsbotschaft hatte ich nicht gerechnet. „Was? Die klammert sich doch jetzt schon total an Noah! Ausgerechnet jetzt, wo wir beide zusammen sind!“, fluchte ich gen Himmel. Das durfte doch nicht wahr sein. Durfte ich niemals glücklich werden?

Während alle aßen, stocherte ich hauptsächlich in meinem Reis herum. Dana konnte wirklich super kochen aber diese Sophie hatte mir den Magen verdorben. Was für eine sadistische Gabe sollte das denn sein? Ich konnte weder essen noch schlafen. Dana saß am Kopfende des Tischs und bedachte mich immer wieder mit einem besorgten Blick. Auch ihr entging nicht, dass Noah komisch drauf war. Der einzige Normale schien Jonah zu sein. Er riss wie immer einen Witz nach dem anderen. Sophie erzählte währenddessen, wie toll das Medizinstudium war. Dabei rückte sie immer näher an Noah, der in seiner eigenen Welt versunken zu sein schien. Man brauchte keine Gabe um zu merken, dass hier was nicht stimmte. „Also diese neue Wohnung ist der Hammer, Leute! Viel besser, als die andere“, warf Sophie nach einer kurzen Pause ihrerseits ein. Danas Kopf fuhr erschrocken hoch und ihr Blick suchte meinen, während ich Sophie und dann Noah anstarrte. „Du warst schon in der alten Wohnung? Wie kommt es, dass Dana und ich dich erst heute sehen?“, wandte ich mich an Sophie. Diese grinste, als hätte sie etwas gewonnen. Meine linke Körperhälfte schmerzte plötzlich extrem. „Nun, ihr habt da ja nicht gewohnt. Anscheinend haben wir uns immer verpasst. Jonah kenne ich schon länger aber durch ihn habe ich Noah kennengelernt“, sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Schlug mein Herz überhaupt noch? „Sagen wir, da lief was aber Noah war nie so der Beziehungsmensch. Tja aber vielleicht ändern sich Menschen.“ Sophie zwinkerte Noah zu, der jede Gesichtsfarbe verloren hatte. Jonah ließ die Gabel fallen und Dana starrte immer noch mich an. Sophie schien von der Katastrophe nichts zu merken, denn sie sprach weiter. „Ich nehme auf jeden Fall das Zimmer!“ Erst vor einigen Tagen hatte ich beschlossen, Noah vollkommen mein Herz zu schenken. Nach all dem langen hin und her war ich mir so sicher gewesen. Und jetzt sprach er kaum mit mir und bot seinem Ex-Betthäschen an, bei ihm zu wohnen? Irgendwas lief doch hier schief! Mein Körper begann zu zittern aber ich würde nicht vor Sophie weinen. Dieses Geschenk wollte ich ihr nicht machen. Ich stand auf. „Du kriegst das Zimmer nicht“, meldete sich Noah das erste Mal an dem Nachmittag zu Wort. Ich hielt inne, wollte verstehen was das sollte. „Moment mal, Jonah hat es mir versprochen“, fuhr Sophie ihn an und ließ ihn endlich los. „Ja, weil er auf dich steht“, stellte Noah schroff fest und sah seinen Cousin an. Dieser rollte genervt mit den Augen. „Echt jetzt? Mann, die kann doch hier wohnen! Wir brauchen jemanden für das Zimmer“, meinte Jonah genervt. Ich war hin und her gerissen zwischen gehen und bleiben. Normalerweise wäre ich sofort raus gestürmt aber irgendwas hielt mich auf. Dana wunderte sich augenscheinlich auch, weshalb ich die Ruhe bewahrte, war ich sonst so aufbrausend. Doch ich konzentrierte mich auf meine Schmerzen. Sie kamen nicht von meinen Gefühlen. Das komische Gefühl in meinem Herzen, als hätte ich Angst etwas zu verlieren. Dann sah ich zu Noah, der mich die ganze Zeit flehend ansah. Kam das Gefühl von ihm? Plötzlich bekam ich das Bedürfnis, etwas auszuprobieren. „Du kannst das Zimmer ruhig haben…Susan? Aber Noah nicht, denn das ist mein Freund“, mischte ich mich grinsend ein. Dana holte hörbar Luft und nickte anerkennend in meine Richtung. Auch Jonah zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Ich heiße Sophie, kleine“, verbesserte sie mich schnippisch. Als hätte ich das nicht gewusst. Mein Herz schlug wieder schneller und der Schmerz in der linken Körperhälfte verschwand. Ein Blick zu Noah erklärte wieso, denn er grinste, wie der glücklichste Mann auf der Welt. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Ich hatte Gefühle lokalisiert und einem Menschen geholfen! Dadurch hörten meine Schmerzen schlagartig auf. Wow.
Bald darauf brachte Jonah Sophie nach Hause und wir räumten den Tisch ab. Dabei erzählte mir Dana immer wieder, wie stolz sie auf mich war aber auch, wie enttäuscht sie von Noah sei. Als ich grade dabei war, den Tisch mit einem nassen Lappen zu säubern, umarmte er mich von hinten und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir so leid“, sagte er nachdenklich. „Ich hab momentan so viel um die Ohren und ich dachte, wenn Sophie über unsere Vergangenheit auspackt, verschwindest du für immer.“ Ich drehte mich zu ihm und verschränkte meine Arme vor der Brust. „Es wäre unfair sauer zu sein, denn das ist deine Vergangenheit. Aber wieso wolltet ihr, dass sie hier einzieht?“ Noah verdrehte leicht seine ozeanblauen Augen. „Jonah findet sie heiß und hat mir die Ohren damit vollgejammert. Dabei ist sie es nicht mal wert“, bemerkte er. Ich wollte daraus keine große Sache machen, auch wenn ich sie nicht mochte. „Ich wollte gehen aber…ich liebe dich einfach“, gestand ich leise. Er grinste und küsste mich sanft. „Du weißt gar nicht, was mir vorhin für ein Stein vom Herzen gefallen ist, als du geblieben bist“, flüsterte er. Ich sah ihm tief in die Augen. „Doch, das weiß ich.“

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