Donnerstag, 21. Juli 2016
Gefangen
Als vierzehn jähriges Mädchen war mein größtes Problem leider nicht das Lernen einer neuen Sprache. Auch, wenn ich verzweifelt vor meinem Französisch-Buch saß. Leider gab es andere Probleme, die meine Jugend stahlen und meinen Charakter formten.
Ich saß in der kleinen Küche in der Wohnung von Kürsad. Der Holzstuhl, auf dem ich saß, war unbequem und knackte bei jeder Bewegung. Draußen war es schon dunkel und Kürsad war noch nicht wieder nach Hause gekommen. Das wunderte mich nicht. Wahrscheinlich baute er wieder irgendeinen Mist, den ich ausbaden musste. Mein Buch lag schwer in meinen Händen und die Vokabeln gingen einfach nicht in meinen Schädel rein. In dieser Sprache hörte sich alles gleich an! Müde überflogen meine Augen Reihe für Reihe in der Hoffnung, wenigstens ein Wort zu lernen. Die schlechte Note war mir sicher…(…)
Die Wohnungstüre ging auf. Das hieß nie etwas Gutes. Kürsad betrat die Wohnung und hielt jemanden an seiner Hand. Es war ein kleines Mädchen, Esra. Seine kleine Schwester, die ab und zu bei ihm schlafen musste. Aus Gründen, die ich selbst nicht kannte und bestimmt auch nicht verstehen würde. Esra hatte lange, schwarze Haare und dunkle Augen. Sie trug ein Shirt, auf dem Pferde abgebildet waren. Genervt knallte Kürsad die Türe zu und stampfte in die Küche. Das kleine, achtjährige Mädchen reichte ihm grade einmal bis zu den Knien. Sie tat mir unheimlich leid. Noch so jung, noch so zerbrechlich. Kürsads Muskeln spannten sich an, als er meinen Blick suchte. Was hatte ich wieder falsch gemacht? Obwohl er nur zwei Jahre älter war, wirkte er wie ein Schrank. Mir gelang es kaum ein Wort zu sprechen, da packte er sich bereits mein Buch und zerfetzte es. Die zerrissenen Seiten fielen auf den kalten Fliesenboden. Am Ende war nur noch der Umschlag unbeschadet geblieben. Meine Hoffnung auf eine annähernd gute Note war endgültig dahin. „Das war für meinen Test morgen“, sagte ich monoton und traute mich nicht, ihn dabei anzusehen. Die Schule war zu der Zeit eine Art Erholung für mich. „Du brauchst das nicht! Und du wirst auch nicht zur Schule gehen! Du hast deine Aufgaben hier“, fuhr Kürsad mich aggressiv an und knallte mit der geballten Faust auf den modrigen Holztisch. Ich zuckte zusammen aber nur leicht, denn mittlerweile war ich es gewohnt. Normalerweise war ich der Holztisch. Deshalb war ich dankbar, diesmal verschont worden zu sein. „Du hast nicht einmal was gekocht. Meine Freunde kommen gleich. Pass auf Esra auf und mach uns was zu essen“, befahl er. „Ich gehe in mein Zimmer und mache mich fertig.“ Er warf Esra einen warnenden Blick zu und ging aus der Küche, deren Sauerstoffgehalt immer geringer zu werden schien. Esra stand neben dem Kühlschrank und sah mich mit großen Augen an. Sie kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass man besser machte, was er sagte. In ihren Augen lag so viel Schmerz und Angst, dass es mir das Herz brach. Wie ferngesteuert stand ich auf und räumte die Schnipsel vom Boden auf. Während ich das tat, beobachtete mich das kleine Mädchen genau. „Geht’s dir gut?“, fragte ich sie, als ich inne hielt. „Kannst du nicht gehen?“, stellte sie mir eine Gegenfrage. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ihre Stimme war so klar und ehrlich. Es war eine nette Abwechslung, zum sonstigen Alltag in dieser schrecklichen Wohnung. Ich kniete mich hin, sodass ich ihr besser in die Augen sehen konnte. „Wohin gehen?“, wollte ich wissen. „Weg von meinem Bruder. Er ist ein schlechter Mensch und tut dir weh“, stellte das kleine Mädchen fest und streckte ihre dünnen Finger aus, um mir an mein linkes Auge zu fassen. Bei der Berührung zuckte ich zusammen. Der Schmerz pochte furchtbar. Ein blaues Auge war nicht schön. „Nein, es gibt keine schlechten Menschen“, widersprach ich ihr ruhig. Sie hob fragend eine Augenbraue. „Es gibt nur schlechte Taten. Wenn ein Mensch etwas Schlechtes macht, heißt es nicht, dass er automatisch auch ein schlechter Mensch ist. Und dein Bruder liebt dich, da bin ich mir sicher.“ Esra lächelte leicht. Wenigstens etwas. „Willst du mir beim kochen helfen?“, fragte ich schließlich, denn da musste ich jetzt sowieso durch. (…)
Esra und ich kochten eine türkische Linsensuppe und belegten dazu einige Brötchen. An der Wohnungstüre klingelte es immer wieder. Das Wohnzimmer wimmelte bald darauf von Kürsads Freunden. Wir waren allerdings nicht eingeladen. Nachdem das Essen fertig gekocht war, kam Kürsad in die Küche, nahm die Teller, und bedankte sich nicht einmal bei uns. Ich schmierte Esra auch ein Brötchen und reichte es ihr, bevor Kürsad sich dieses auch noch holen konnte. Mein Magen knurrte, weil ich ebenfalls nichts gegessen hatte aber es gab nichts mehr für mich. Daran hatte ich mich gewöhnt. Esra knabberte eifrig an ihrem Brötchen, bis plötzlich Kürsad im Türrahmen stand und auffordernd zu mir sah. „Kannst du die Shisha aus meinem Zimmer holen?“ Es war als Frage formuliert, ließ aber kein „Nein“ zu. Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, war er wieder verschwunden. Wenigstens war er durch den Besuch abgelenkt. „Ich kann das machen!“, meldete sich Esra aufgeregt zu Wort und stand auf. „Was ist eine Shisha denn?“
„Eine Wasserpfeife…also, es sieht aus wie eine große Vase. Aber da hängt eine Art Schlauch dran“, versuchte ich dem kleinen Mädchen zu erklären. „Eine Vase? Na, gut. Ich bin gleich wieder da!“, sagte sie und hastete davon. Währenddessen putzte ich die Küche, damit es später bloß nichts zu meckern geben würde. Dabei bemerkte ich, wie kaputt meine Haut an meinen Händen schon war, denn ich war den ganzen Tag nur am Putzen und Kochen. (…)
Ein lautes Klirren kam aus Kürsads Zimmer und ich ahnte Grausames. Schnell rannte ich los und stieß die Türe auf. Inmitten des Raumes stand die geschockte Esra, direkt vor einem Scherbenhaufen. Das war vermutlich vorher die Shisha gewesen. Esras Augen wurden nass. „Oh…ich wollte das nicht…“, hauchte sie beschämt. Gänsehaut kroch meine Arme entlang, als ich seine Schritte hörte. Ich ging zu den Scherben und deutete Esra, sie solle sich hastig auf Kürsads Bett setzen, welches an der Wand stand. „Was zum…?!“, rief Kürsad aus, als er den Raum betreten hatte. „Wer zum Teufel war das?!“ Seine Stimme bebte so laut, dass ich vermutete, der Putz würde von den Wänden bröckeln. Mein Blick wanderte zu Esra, die ihre Knie an ihren Oberkörper gezogen hatte und furchtbar zitterte. „Ich war das…es tut mir leid“, log ich leise und schaute auf den Scherbenhaufen vor meinen Füßen, der genauso gut mein Leben hätte darstellen können. „Du Miststück bist so unfähig!“, knurrte er, kam auf mich zu und verpasste mir einen heftigen Schlag gegen die Wange. Esra schrie auf und krabbelte ans andere Ende des Bettes. Ein durchbohrender Schmerz machte sich bemerkbar und ließ mich auf keuchen. „Ich möchte nicht, dass meine Freunde dich heute noch sehen. Du siehst scheiße aus und benimmst dich auch so!“, schimpfte Kürsad ohne irgendein Gefühl in der Stimme. Er packte mich am Handgelenk, zerrte mich durch den kleinen Flur und schubste mich in das Badezimmer. Ich knallte heftig auf den kahlen Boden. „Sei bloß leise!“, wies er mich an, knallte die Türe zu und schloss ab. (…)
Stundenlang hatte ich auf dem Klodeckel gesessen und mein trauriges Spiegelbild angesehen. Meine langen, braun-blonden Haare waren vollkommen zerzaust, weshalb ich sie notgedrungen zu einem Dutt gebunden hatte, der auch schon auseinanderfiel. Ich trug ein viel zu großes Shirt von Kürsad und Jogginghosen, die auch schon einmal bessere Tage gesehen hatten. Nichts an mir war schön oder entschlossen. Alles an mir war gebrochen und schwach.
Ein Geräusch ließ mich aufhorchen. Jemand drehte den Schlüssel um und öffnete die Badezimmertüre. Esra steckte ihren kleinen Kopf hinein. „Mach das nicht…sonst wird er sauer auf dich“, warnte ich sie liebevoll. „Du hast mir geholfen und ich helfe dir“, sagte sie lächelnd und reichte mir ein Brötchen. Das musste sie aus dem Wohnzimmer geklaut haben. Dankbar nahm ich es an, denn ich hatte enormen Hunger. Kaum einen Bissen heruntergeschluckt, hörte ich Kürsad. „Was soll die Scheiße?!“ Blitzschnell reichte ich Esra das Brötchen, sprang auf, nahm den Schlüssel und sperrte sie im Bad ein. Ich wollte nicht, dass er sie bestrafte. Den Schlüssel presste ich in meine Hand und betete, dass ich stark genug sein würde, um ihn zu verteidigen. Schützend stellte ich mich vor die Türe. Kürsad verschränkte grinsend die Arme und schüttelte leicht mit dem Kopf. „Gib mir den Schlüssel. Sie hat geklaut und muss bestraft werden. Und wer hat dir erlaubt zu essen? Sie? Sie hat nicht das Recht dazu“, bemerkte er bedrohlich. „Was ist nur mit dir passiert?“, hauchte ich erschüttert. „Du wirst ihr nichts tun!“ Er wirbelte mich herum und drückte mich gegen die Wand. Auch, als mein Arm anfing zu knacken hörte er nicht auf, ihn weiter ungesund zu drehen und quetschen. Ich schrie auf und Tränen rollten mir über die Wange. Er zerrte an meiner Hand, weil er an den Schlüssel kommen wollte. Panisch riss ich mich los und rannte weg. Jedoch kam ich nur bis zur Küche, denn dort packte er mich erneut und warf mich auf den Boden. Seine Hand griff nach meinem Dutt und riss daran, bis meine Kopfhaut so stark weh tat, dass ich kaum noch atmen konnte. Danach knallte er meinen Hinterkopf gegen die Fliesen und beugte sich herunter, um mich auf die Schläfe zu küssen. Der Kuss war wie eine Kakerlake, die über meinen ganzen Körper krabbelte. Ekelhaft. Er stand auf und strich sich über seine Jeans. Auf einmal schien er ruhiger zu sein und schaute in Richtung Türrahmen. „Alles in Ordnung?“, fragte eine männliche Stimme, Noah. „Klar, Mann. Mein Askim hat mit meiner kleinen Schwester verstecken gespielt. Kannst du Esra aus dem Bad holen? Sie blockiert das Klo.“ Kürsad beugte sich zu mir, nahm den Schlüssel aus meiner schwachen Hand und reichte ihn weiter. „Das kannst du selber machen“, meinte Noah schroff und gab ihm den Schlüssel zurück. „Ich verschwinde hier auch gleich wieder.“ Kürsad schnaubte. „Scheiße, Mann. Du bist echt anders geworden, seit du so viel mit deinem Cousin machst. Denk dran, wir sind deine Familie“, erinnerte er Noah an den Pakt mit dem Teufel. Ich hörte, wie sich Schritte entfernten und welche auf mich zukamen. Alles war ganz weit weg. Meine Seele war ganz weit weg. Wie sehr wünschte ich mir, dass mein Körper auch ganz weit weg sein würde. Noah kniete sich hin und reichte mir die Hand. „Verpiss dich“, knurrte ich erschöpft und rappelte mich selbst wieder auf. „Ich gehe nach der Kleinen sehen.“ So humpelte ich aus der Küche. Dabei spürte ich die nachdenklichen Blicke in meinem Rücken aber Noah sprach kein Wort. (…)

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