Donnerstag, 21. Juli 2016
Heilung
Es war surreal hier zu sitzen und auf das Ergebnis zu warten. Ich meine, ich hatte nie über meine Zukunft nachgedacht. Zumindest nicht auf diese Art und Weise. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich nicht über diese eine Nacht nachdachte, die mein Leben verändert hat. Manchmal erzählte ich sogar von dieser einen Nacht, jedoch in einer bröckeligen Version, weil für mich alles so verschwommen war. Allerdings kamen nach und nach immer mehr Puzzle-Teile zusammen. (…)
Die Welt schien weit weg zu sein aber doch hier. Die Dosis an K.O. Tropfen hatte wohl nicht gereicht, um mich geistlich vollkommen verschwinden zu lassen. Adrenalin floss durch meinen Körper. Alles was ich wollte war es, zu überleben. Natürlich ergriff ich den nächst besten Fluchtweg durch das Fenster. Das blieb nicht unbemerkt. Leider. (…)
Kürsad lag schwer auf meinem Körper. Wie ein Felsen, der mich zerdrücken wollte. Ich wünschte mir so sehr stärker zu sein, als er. Der Waldboden war kalt und nass und immer wieder kratzte ich mich an Ästen, als ich versuchte, mich von ihm weg zu drücken. Irgendetwas steckte in meinem Knie. Es brannte höllisch und die Haut spannte sich schmerzhaft an. Panisch wollte ich mich wegstoßen aber es gelang mir schlichtweg nicht. Je mehr ich es versuchte, desto härter schlug er zu. Immer und immer wieder auf mein Gesicht. Meine Nase knackte, mein Kiefer knackte, meine Augen brannten. Ein ekelhafter Geschmack machte sich in meinem Mund bemerkbar. Es schmeckte nach Kupfer…Blut. Krampfhaft schaffte ich es, mich auf die Seite zu drehen, um die Flüssigkeit auszuspucken. Eins wusste ich genau, wenn ich nicht weglaufen würde, würde ich in dieser Nacht sterben. (…)
Dieser Junge, der aussah wie ein Mann und sich benahm wie ein wild gewordenes Tier, zückte ein großes Messer. Gegen Muskeln hatte ich schon keine Chance, gegen ein Messer erst recht nicht. Kürsads Griff um meine Arme wurde etwas sanfter, sodass ich weg rutschte. Grade, als ich mich aufrappeln wollte, um zu rennen, stach er zu. Ein schrecklicher Schmerz durchzuckte meinen Körper, als das Messer mich am Unterleib traf. Ich ging zu Boden und schrie, brüllte in den dunklen Wald. Es gab keine Hoffnung mehr, ich würde sterben. (…)
Kürsad ließ mir keine Pause. Er drehte mich auf meinen Rücken und nahm das blutverschmierte Messer an sich. Vielleicht würde er mir jetzt die Kehle durchschneiden. Das war mein nächster Gedanke. Doch er legte das Messer weg und begann mein Kleid hoch zu schieben. Zuerst wollte ich es geschehen lassen, denn ich wusste, so schwer verletzt und schwach würde ich es nicht schaffen, zu entkommen. Aber irgendetwas brach die Dunkelheit im Wald. Ich war nicht alleine. „Kämpf“, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf sagen. „Kämpfe und lebe.“ Schmerzerfüllt bewegte ich mein linkes Bein, um zu gucken, ob dieses auch verletzt war. Kein Schmerz war zu spüren, also konnte ich es benutzen. Schnell holte ich aus und trat Kürsad in die Weichteile. Es war nicht feste aber es überraschte ihn so sehr, dass ich die Möglichkeit hatte, seinen Finger zu nehmen und ihn durchzudrücken, bis ein Knacken zu hören war. Fluchend zog er seine Hand weg, schaute erst den gebrochenen Finger und dann mich an. Entschlossen schob ich mich auf die Beine, obwohl es so verdammt weh tat. Dabei nahm ich etwas Erde in die Hand und schmiss sie ihm in die Augen. Das alles geschah so schnell, dass ich mich kaum auf die Schmerzen konzentrieren konnte. Ich wollte überleben. Ich wollte leben. (…)
Irgendwie gelang es mir, aus dem Wald zu kommen und Hilfe zu holen. Ich fiel immer mal wieder in Ohnmacht und wurde im Krankenhaus wach. Die Augen konnte ich öffnen, doch das Sprechen fiel mir wahnsinnig schwer. Manchmal fragte ich mich sogar, ob es vielleicht nicht besser wäre, einfach zu sterben. Das würde mir zumindest die Schmerzen ersparen, die kaum auszuhalten waren. Der Arzt unterhielt sich grade mit meiner Mutter, als ich meine Augen zu schmalen Schlitzen öffnen konnte. „Wir müssen noch eine kompliziertere Operation durchführen. Dazu bräuchten wir Unterschriften für die Narkose. Sie wird kaum in der Lage sein, dass zu entscheiden. Wir können auch die örtliche Betäubung nehmen…“, sprach der Arzt. Alles hörte sich an, wie unter Wasser. „Narkose ist gut. Wo muss ich unterschreiben?“, fragte meine Mutter tonlos und völlig kühl. Narkose?! Ich wollte schreien, fragen wo ich operiert werden sollte…aber ich konnte nicht. Meine Seele war wach aber mein Körper schien im Flugmodus zu sein. (…)
Der erste Blick in den Spiegel war…war echt schlimm. Ich saß auf dem Krankenbett und starrte den Spiegel fassungslos an, den ich in meiner Hand hielt. Blaue, violette Flecken zogen sich um mein gesamtes Gesicht. Meine Augen waren angeschwollen, meine Nase mit verband zugeklebt und meine Zähne wurden mit vielen Drähten stabilisiert. Umso mehr wunderte ich mich nach einigen Monaten, dass man nichts mehr davon sah. Ich heilte so schnell, dass die Ärzte es schon gruselig fanden. Für mich war es ein Wunder, dass ich dankend annahm. (…)
Jetzt saß ich hier, beim Frauenarzt, und dachte an meine Zukunft. Es war irgendwie ein schöner Gedanke, Kinder zu haben. Eben eine eigene Familie, die nicht so verkorkst war. Doch der Schnitt in meinem Unterleib war tiefer gewesen, als ich zunächst dachte. Kürsad hatte vielleicht nicht nur meine Vergangenheit zerstört, sondern auch meine Zukunft. Die Ärzte im Krankenhaus gingen davon aus, dass ich eventuell keine Kinder mehr bekommen könne. Verzweifelt wandte ich mich, nachdem ich operiert wurde und mich einigermaßen erholt hatte, an einen Spezialisten. Als ich in das Sprechzimmer gerufen wurde, zitterten meine Hände. Es wunderte mich etwas, dass mir das Thema so nahe ging. Der Arzt lächelte mich aufmunternd an, während ich mich auf einen Stuhl setzte. „Ich habe die Berichte aus dem Krankenhaus bekommen. Sehr schlimme Sache, was dir da passiert ist“, fing er an. „Du siehst aber schon…erstaunlich gut aus.“ Der Arzt zog seine Augenbrauen hoch und musterte mich, als wäre ich ein Alien. „Geht’s mir…gut? Ich meine, sind die Wunden auch innerlich verheilt?“, fragte ich leise und sah ihn flehend an, als könnte er noch etwas an der Sache ändern. Als könnte er mein Leben verändern, wenn er nur wollte. „Alles verheilt, auch die Narbe sieht man kaum. Als wärst du nur leicht angekratzt worden, was sehr ungewöhnlich ist“, bemerkte der Arzt mit einem seltsamen Unterton. Mehr brauchte ich nicht wissen. Lächelnd lehnte ich mich im Stuhl zurück. Mir war es wirklich egal, ob mein Körper außergewöhnlich schnell heilte oder nicht. Wenigstens ging es meinem Körper einigermaßen gut. Ich wusste nämlich sofort, dass meine Seele gebrochen war und diese nicht so schnell heilen würde. (…)

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