Freitag, 5. August 2016
Horror
Mein Handy klingelte. Erst einmal, dann zweimal…
Irgendwann rappelte ich mich vom Boden meines Zimmers auf und nahm es von meinem Schreibtisch. Noahs Name blitzte auf. Sofort musste ich an Marvin denken und drückte ihn weg. So ging es nicht weiter. Meine Prioritäten mussten feststehen. Den ganzen Tag schon verbrachte ich meine Zeit damit, entweder mit meinem Kaninchen zu kuscheln oder irgendwelche Videospiele zu spielen. Mir fehlte die Motivation nach draußen zu gehen. Dementsprechend trug ich eine schwarze Jogginghose und ein schwarzes Top. Schlicht und deprimierend. Grade, als ich mich wieder auf den Boden legen wollte, um Musik zu hören und nachzudenken, rief Noah erneut an. Meine Augen wanderten zu der Digitaluhr an meinem Fernseher. Es war Mitternacht. Wieso zur Hölle rief er mich um diese Uhrzeit an? Diese Frage beschäftigte mich solange, bis ich abhob. „Wenn du mich betrunken nerven möchtest, kannst du gleich wieder auflegen“, pflaumte ich ihn direkt an. Dabei setzte ich mich auf meine Bettkante und spielte mit dem Stoff meiner Bettdecke. „Was? Nein…Dana hat es wieder versucht“, sagte er mitgenommen. Sofort schrillten meine Alarmglocken im Kopf. „Sich umzubringen?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. „Ja, sie liegt auf der Intensivstation. Ihr Magen wird grade ausgepumpt. Ich glaube, sie hat irgendwelche Tabletten genommen“, berichtete Noah und atmete anschließend durch. Ohne zu zögern sagte ich: „Schick mir deinen Standort und ich komme. Ich lasse sie nicht im Stich.“ Im gleichen Moment schrieb mir Marvin eine Nachricht. >>Was machst du denn so? << Sollte ich lügen? Nein. >>Telefonieren. Mit Noah, Dana geht es nicht so gut. <<
„…Schreib Marvin lieber vorher, bevor es Stress gibt. Ich will nicht wieder schuld sein“, bemerkte Noah betrübt. „Vielleicht will er ja mitkommen…wäre das ok?“, wollte ich wissen. Eigentlich war es mir egal, was Noah von der Sache hielt aber ich wollte nicht unhöflich sein. Immerhin ging es hier um meine Freundin, nicht um meine Beziehung. Ich nahm mir vor, Marvin in der nächsten Nachricht zu fragen, ob er mit ins Krankenhaus fahren würde. So wäre ich nicht alleine mit den negativen Gefühlen und er wäre nicht sauer. Aus was für Gründen auch immer. „Ich halte da nicht viel von aber, wenn du das willst…“, gab Noah zögernd zu. Kurz darauf antwortete Marvin: >>Schöne Grüße an diesen Wichser. << Damit wurde meine Frage, die ich schon eingetippt hatte, nichtig. Da ich nicht mehr sprach, räusperte sich Noah am anderen Ende der Leitung. „Was ist jetzt? Kommt ihr?“ Die Temperatur in meinem Zimmer sank schlagartig und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen nackten Armen. Meine Deckenlampe begann zu flackern. Nervös schaute ich mich in meinem Zimmer um. „Hallo?“ Noah versuchte mit mir zu sprechen. Mein Unbehagen raubte mir jedoch die Luft, um zu antworten. „Sie lässt sich so gut steuern“, hörte ich eine Flüsterstimme sagen. „Wer?“, fragte ich in die Leere. „Wie, wer?“, Noah fühlte sich angesprochen und verstand anscheinend nur Bahnhof. „Das Mädchen mit den roten Haaren“, antwortete mir tatsächlich jemand. Oh mein Gott, das erste Mal antwortete jemand klar und deutlich! Und diese Antwort gefiel mir gar nicht. Es meinte Dana. (…)
Es dauerte eine Stunde, bis ich im Krankenhaus ankam. Die Nacht war kalt und ich fühlte mich nicht gut, meine Wohnung zu verlassen. Nachts geschahen schreckliche Dinge. Noah und Jonah saßen bereits im Wartebereich, als ich diesen endlich gefunden hatte. Meine Augen brannten. Zum einen vor Müdigkeit und zum anderen wegen den Tränen, die ich auf dem Weg hierher vergossen hatte. Die Beiden trugen ihre Schlafklamotten, die sie teilweise mit ihren Jacken verdeckten. Sie sahen mich fragend an, als sie mich entdeckten. „Wo ist dein Freund?“, fragte Noah verwundert. „Er kommt nicht aber ich soll schöne Grüße ausrichten“, sagte ich knapp und schluckte schwer. Das mit dem „Wichser“ ließ ich erst einmal weg. Schließlich ging es hier um Dana, nicht um diesen Kinderkram. Es enttäuschte mich sowieso, dass Marvin anscheinend nur das mit Noah gelesen hatte und nicht bemerkte, dass es hier ursprünglich um Dana ging. Er hatte nicht mal gefragt, wie es ihr ging und wieso es ihr schlecht ging. Typisch. Anscheinend vertraute er mir nicht genug und es reichte Marvin auch nicht, dass ich mit meinen Freunden kaum noch Kontakt hatte. Ich setzte mich gegenüber auf einen Stuhl und verschränkte meine Finger ineinander. „Wie geht es ihr?“, wollte ich wissen. „Sie ist nicht mehr auf der Intensivstation. Die Ärzte konnten sie schnell wieder stabilisieren. Wir warten darauf, dass wir zu ihr können“, erklärte Jonah trocken. Ich nickte und fing an auch zu warten. (…)
Eine weitere Stunde verging. Ein Arzt kaum auf uns zu. Wir konnten zu Dana.
Das war alles, was ich noch mitbekam. „Kann ich erst einmal alleine zu ihr? Bitte…“, bat ich die Jungs, auch wenn ich wusste, wie schwer es ihnen fallen würde hier zu warten. Beide nickten müde, wenn auch widerwillig. „Danke.“
Ich folgte dem Arzt, bis zu einer Türe, die er öffnete. Das Krankenzimmer war schwach beleuchtet aber ich erkannte die roten Locken von Dana sofort. Ihre Augen waren geöffnet und schauten mich direkt an. Sie lag im Bett, wie eine Puppe aus Stoff. Geräte waren an ihr angeschlossen und sie war blass, wie Kreide. Der Anblick war kein schöner. Aber was war passiert?
Langsam betrat ich den Raum und setzte mich auf einen Stuhl, neben ihrem Bett. Normalerweise lag ich immer in dem Krankenbett, während meine Freunde auf diesen unbequemen Stühlen saßen. Dana lächelte schwach. Der Arzt stand immer noch hinter mir. „Ich lasse sie kurz alleine aber belasten sie ihre Freundin bitte nicht sofort. Sie muss erst einmal richtig zu sich kommen“, ermahnte er mich. Dann hörte ich eine Tür ins Schloss fallen. Wir waren allein.
„Ich wollte das nicht“, flüsterte Dana heiser und schaute mich entsetzt an. Ich legte meinen Kopf schief, starrte ihr direkt in die Augen. Alles was ich erkennen konnte, war Angst. Keine Hoffnungslosigkeit und keine Schwärze, einfach nur Angst. Dana hatte Angst vor dem Tod. Wieso sollte sie sich dann umbringen wollen? Das ergab alles keinen Sinn. „Was ist passiert? Du wolltest dich nicht umbringen“, stellte ich fest. Sanft legte ich meine Hand auf ihre. „Ich muss schlafgewandelt sein…anders kann ich mir das nicht erklären. Aber sie werden mir nicht glauben. Komme ich jetzt auch in die Klapse?“, Dana war ganz außer sich. Mist, schon wieder ein Problem mehr. „Nein, kommst du nicht. Wir lassen uns was einfallen und die können dich da nicht einsperren. Du musst einfach authentisch lügen“, pflichtete ich ihr bei. Ich probierte, so überzeugend zu sein, wie nur möglich. „Was soll ich denen erzählen?“ Gute Frage…für einen Moment dachte ich nach. „Sag, du hattest einen schlechten Tag und…keine Ahnung, es war eine Kurzschluss-Reaktion. Dir ist im selben Moment klar geworden, dass du es nicht möchtest. Das du leben möchtest und du hast es direkt bereut. Wenn du das so sagst, wird man dir eventuell ein paar Therapeuten empfehlen aber du kommst nicht in die Klapse. Versuch ruhig zu bleiben“, wies ich sie ernst an. „Ruhig bleiben?!“, zischte Dana entgeistert. „Ich wollte mich im Schlaf umbringen. Wie soll man da ruhig bleiben?! Es ist dieses Anhängsel, nicht wahr?“
„Nein“, unterbrach ich sie ruhig. „Das sind wir. Wir geben ihm zu viele Chancen uns zu steuern. Was hast du getan, dass er diese Möglichkeit bei dir gesehen hat?“ Danas Atmung normalisierte sich etwas und sie wandte den Blick kurz ab, um nachzudenken. „Nick und ich streiten uns sehr oft. Irgendwie hab ich dadurch wieder angefangen zu kiffen. Ich weiß, dass darf man vor dir nicht erwähnen aber es ist so. Und ich vertusche es nicht.“ Drogen und Alkohol sind die Spielbälle des Bösen. Dana war in jeder Hinsicht angreifbar, auch durch ihre Gedanken. Sie musste es in den Griff bekommen. Wut brannte in meiner Brust aber ich wollte sie nicht zeigen. Im Gegenteil, ich musste sie unterdrücken. „Darf ich was versuchen?“ Meine Fingerspitzen drückten sich in Danas Schläfen und ich begann sie über ihre Haut kreisen zu lassen. Dabei dachte ich an schöne Dinge, wie zum Beispiel ein Spielplatz mit vielen lachenden Kindern. Ein Lächeln breitete sich in Danas Gesicht aus und sie entspannte sich. Genauso, wie ich. „Beten hilft. Mach es ab und zu“, sagte ich. Mein Handy klingelte und wir beide zuckten zusammen. Auf dem Display erkannte ich, dass Marvin mich erreichen wollte. Ich stellte mein Handy auf stumm, weil es sich nicht gehörte in einem Krankenhaus zu telefonieren. Und wahrscheinlich zu streiten, weil ihm etwas nicht passte. „Danke, mir geht’s besser. Hab dich echt lieb“, meinte Dana aufrichtig und ich beugte mich zu ihr, um sie zu umarmen. „Und ich dich erst.“ Die Türe ging wieder auf. Der Arzt betrat den Raum, gefolgt von den Jungs. Das war mein Stichwort zu gehen. (…)
Im Traum befand ich mich in meinem alten Haus. Es tat weh, das Haus zu sehen und zu wissen, dass ich nicht wirklich dort wohnte. Ich lief die Marmortreppen hinauf, bis hin zum großen Dachgeschoss. Dieser war leer und kalt. Aber ich war nicht allein. „Reden wir. Komm her und sag mir, was du willst“, schrie ich und hörte ein Echo meiner Stimme. Ein Schatten bildete sich in der Ecke des Raumes. „Du sollst leiden“, hörte ich eine tiefe Stimme sagen. Ich klatschte in die Hände und lachte. „Das kriegst du super hin. Aber hör auf Dana da mit rein zu ziehen!“, brüllte ich den Schatten an. Die Angst war weg, jetzt herrschte nur noch die Wut. „Du bestimmst, wie es ausgeht“, meinte der Schatten. „Arbeite für uns.“ War das hier eine Arbeitsagentur?! Meine Hände ballten sich zu Fäusten, bis man das weiße an meinen Knöcheln sah. „Da bleib ich lieber Arbeitslos. Lass die Finger von Dana und alle sind glücklich“, stellte ich energisch fest. Der Schatten wurde immer kleiner. „Dana wird in Ruhe gelassen aber nicht alle werden glücklich sein…“ Verwundert über diesen Satz ging ich rückwärts, weg vom Schatten. Dann wurde ich geweckt. Mein Opa bekam kaum noch Luft. (…)
Mit zitternden Händen brachte ich meinem Opa ein Glas Wasser ans Bett. Er saß geschockt auf der Bettkante, wollte aber keinen Krankenwagen. Meine Oma lief panisch hin und her und fluchte, was das Zeug hielt. „Ich kann dich auch ins Krankenhaus fahren“, bemerkte ich besorgt. „Nein, mir geht’s schon besser.“ Er nippte an seinem Glas und atmete durch. Das war ein Schock für alle gewesen. Nachdem meine Traumwelt kollabiert ist, musste ich sofort aufspringen und ins Schlafzimmer meiner Großeltern rennen. Hatte sich mein Anhängsel das nächste Opfer gesucht? Nein, das musste ein Zufall sein. „Wenn es schlimmer wird, kann ich dich immer noch rufen. Aber es geht wieder“, wiederholte sich mein Opa und legte sich ins Bett. „Geh schlafen“, wies mich meine Oma an und knipste das Licht aus. Super Nacht. (…)
Nach diesem Schock dauerte es eine Weile, bis mein Puls zur Ruhe kam. Marvin schrieb mir noch wütende Nachrichten über Noah. Das war jetzt echt nicht mein Problem. Sobald sich alles beruhigt hatte, konnte ich immer noch mit ihm sprechen. Jetzt wollte ich nur noch schlafen. (…)
Auch im nächsten Traum wurde mir gezeigt, dass ich nicht alleine war. Als ich meine Augen öffnete, befand ich mich im Wohnzimmer von Marvins Haus. Plötzlich wurden Schreie laut und ein Wimmern von einer Frau…Marvins Mutter? Ich sah ihr Gesicht vor mir. Diese großen, blauen Augen. Die sommersprossige Haut und die blonden Haare. Sie starrte entsetzt auf den Boden. Genau genommen auf ihren Fuß. Erschrocken hielt ich mir die Hand vor den Mund, sonst hätte ich mich vermutlich übergeben. Ihre Zehen waren abgeschnitten und eine große Blutlache bildete sich auf den Fliesen. Angewidert hielt ich mir die Augen zu und wünschte mir, ich würde etwas anderes träumen. Da fiel mir ein, dass Marvins Mutter tatsächlich einen kleinen Unfall gehabt hatte, bei dem sie sich ihren Zeh verletzt hatte. „Du warst das…“, rief ich erschüttert aus. „Du hast seine Mutter verletzt!“ Ein unheimliches Gelächter breitete sich aus. „Du warst doch so sauer auf sie. Sie hat dich oft beleidigt. Ich habe dir nur einen Gefallen getan, Mädchen!“, die tiefe Stimme schien amüsiert zu sein. „Spinnst du?! Sie hatte es nicht so gemeint, außerdem rechtfertigt das überhaupt nichts! Ich mag sie nämlich und du sollst aufhören allen weh zu tun“, schrie ich wutentbrannt. Das grausame Lachen wurde immer lauter. Ich hielt mir die Ohren zu…mittlerweile wusste ich nicht, was ich mir am besten zuhalten sollte. „Moment…bist du das mit meinem Opa? Ich war auch sauer auf ihn…aber das gibt dir nicht das Recht…“, wollte ich sagen aber der Boden fing an zu beben. „Das bist du! Deine Gedanken verletzen die Menschen!“ Die Fliesen zerplatzten in tausend Teile und ich fiel in die Dunkelheit. (…)
Schreiend wachte ich auf und sah mich sofort im Zimmer um. Tageslicht kam durch meine Vorhänge und erhellte mein Zimmer. Schweißgebadet und mit tränenverschmiertem Gesicht hastete ich aus dem Zimmer, in den Flur. Die Wohnung war leer. Meine Großeltern waren vermutlich einkaufen. Schwach ging ich in das Schlafzimmer und kniete mich vor das riesige Jesus-Bild. Dann betete ich und ignorierte die starke Übelkeit, die dadurch immer schlimmer wurde.

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