Sonntag, 15. Mai 2016
Kein Nachtisch
Ich verbrachte Stunden im Bad, nur um mich fertig zu machen. Meine Hände bastelten einen ordentlichen Dutt und ordentliche Lid-Striche, welche meine Augen besonders betonten. Nachdem ich das geschafft hatte, schlüpfte ich in mein schwarzes Cocktailkleid und in meine schwarzen Pumps. Alles war perfekt. Und wofür? Nur um in einem Restaurant zu sitzen und mir von meiner Familie das Leben zur Hölle machen zu lassen. Wir feierten den Geburtstag meines kleinen Bruders in einem Balkan-Restaurant. Meine ganze Familie war dort versammelt. Die Einrichtung des Restaurants war wunderschön. Die Wände bestanden aus Stein und waren mit Holz verziert. Es gab kleine, runde Fenster an der Decke, durch die Tageslicht schien. Mein kleiner Bruder war grade dabei meiner Familie zu zeigen, wie alt er geworden ist. Ständig hielt er den Leuten seine vier Finger vor ihr Gesicht. Wenigstens einer hatte heute seinen Spaß. Es war immerhin sein Tag. Meine Mutter verbrachte die Wartezeit auf das Essen damit, jedem zu erzählen, dass sie noch in diesem Jahr auswandern möchte. Ich kannte ihre Pläne bereits, trotzdem traf es mich immer wieder. Meine Familie verschwand erneut und ließ mich hier allein. Obwohl ich alt genug war, wollte ich nicht ohne meine Familie hier bleiben. Ich liebe meine Familie und die Zeit mit ihnen. Noah, der neben mir saß und an seiner Cola nippte, verspannte sich immer mehr. Ihm passte diese ganze Auswanderungsgeschichte ebenfalls nicht. Er wusste, wie sehr es mich belastete. Ich suchte seinen Blick und warf ihm ein Lächeln zu. Meine Probleme sollten heute keine Rolle spielen. Heute war der Tag meines kleinen Bruders. Also musste ich mich zusammenreißen. Dabei fiel mir auf, dass Noah in Anzug und Krawatte besonders gut aussah. Seine braunen Haare hingen immer noch wuschelig in alle Richtungen aber das machte ihn besonders hübsch. Er legte seine Hand auf meine und drückte sie leicht. Dann warf er mir sein typisches Noah-Lächeln zu. Ich liebe es!
Das Essen wurde gebracht und wenigstens da hörte meine Mutter auf über ihre Farm in Kanada zu sprechen. Ich versuchte möglichst Still zu bleiben, um bloß keine Eskalation hervorzurufen. Deshalb konzentrierte ich mich auf meinen norwegischen Lachs. Wieso musste meine Mutter mich immer wieder im Stich lassen? Hasste sie mich so sehr, dass sie extra auswandern musste, um mich nicht mehr zu sehen? Meine Kindheit hatte ich schon bei meinen Großeltern verbracht und jetzt, wo ich Erwachsen war, wollte sie mich auch nicht sehen? So viele Fragen aber eine Antwort darauf bekam ich nie. Jede Diskussion war zwecklos. Alle aßen ruhig vor sich hin. Nachdem meine Mutter ihren Teller geleert hatte, ging das ganze Thema jedoch von vorne los. Oh, verschone mich!
„Ich kann es kaum erwarten, bis ich endlich hier weg bin! Also merkt euch, wie ich aussehe. Wir werden uns dann sehr selten sehen. Kanada ist ja nicht um die Ecke“, stellte meine Mutter lachend fest. Jetzt lachte sie auch noch! Mein Besteck fiel mir aus den Händen und knallte auf meinen Teller. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Sie warteten augenscheinlich nur darauf, dass mir der Kragen platzt. „Ich muss nur auf Klo“, log ich und stand auf. Ich ging durch das altmodische Lokal und steuerte die Haupttüre an. Draußen angekommen schnappte ich erschöpft nach Luft. Es war anstrengend sich zusammenzureißen. Meine Mutter machte es mir heute wirklich nicht leicht. Ein Kellner, welcher uns vorhin bedient hatte, räusperte sich neben mir. Er war ungefähr in meinem Alter und trug diese schicke Uniform, die hier alle trugen. Ein weißes Hemd mit einer schwarzen, dünnen Weste. Seine dunklen Haare hatte er mit Gel leicht nach oben fixiert. Der Kellner sah eher aus, wie ein Modell. Seine grünen Augen musterten mich neugierig, während ich an der Hauswand lehnte und bestimmt ziemlich verzweifelt aussah. „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er mich freundlich, nachdem eine Nikotin-Wolke aus seinem Mund gekommen war. Er schien grade Pause zu haben und er nutzte diese, um draußen zu rauchen. „War was mit dem Essen nicht in Ordnung?“, baute er seine Frage aus, als ich nicht antwortete, sondern nur auf seine linke Hand starrte, in der sich die Zigarette befand. Ich rauchte nicht und eigentlich hasste ich sogar nur den Geruch von Zigaretten. Aber manchmal hatte ich Phasen, in denen ich meine Prinzipien über Bord warf. Der Stress bekam mir nie gut. „Nein, das Essen war echt lecker“, sagte ich schließlich und atmete durch. „Meine Familie ist manchmal nur etwas anstrengend.“ Der Kellner nickte verständnisvoll und zog wieder an seiner Zigarette. „Ich bin Enrico“, stellte er sich anschließend vor. „Das hier ist nur dein Nebenjob, oder?“, wollte ich wissen. Er nahm einen Aschenbecher von dem Stehtisch neben sich und drückte seine Zigarette aus. Dann deutete er auf eine Bank neben dem Restaurant. Wir gingen dorthin und setzten uns. Die Sonne war grade dabei unterzugehen aber es war noch recht warm. Ich liebe den Frühling, nicht nur, weil ich dort Geburtstag habe. Es ist schön, wenn es wieder wärmer wird und die Blumen anfangen zu blühen. Alles wirkt so hoffnungsvoll. „Ja, eigentlich studiere ich aber als Student braucht man ja ein bisschen Kohle. Meinem Onkel gehört der Laden, deshalb kann ich hier arbeiten.“ Ich brauchte auch dringend einen Nebenjob, auch wenn ich noch nicht angefangen hatte zu studieren. Aber wenn man keine Kontakte hat, ist es schwerer an einen Job zu kommen. „Ich fange vielleicht auch bald an zu studieren aber meine Zukunft ist momentan ein einziges Fragezeichen“, bemerkte ich nachdenklich und schaute in den Himmel, der sich rosa färbte. „Wenn du studierst, kann ich dir ja ein paar Tipps geben. Also…wenn du mir deine Nummer geben möchtest“, bot Enrico schüchtern an. Noah würde ihm wahrscheinlich jetzt die Zähne raushauen. Es wäre aber nützlich jemanden zu haben, der sich auskennt. „Naja eigentlich gerne aber du musst wissen, dass ich einen Freund habe. Also…nicht das ich jetzt denke…aber ich möchte das trotzdem sagen“, stotterte ich nervös. Oh Mann, ich war echt schlecht in sowas. Enrico lächelte amüsiert und holte sein Handy aus seiner Westentasche. „Ist schon gut. Du bist mir einfach sympathisch und ich möchte dir nur helfen.“ Noah würde ausrasten aber es kam mir albern vor, ihm nicht meine Nummer zu geben. Immerhin konnte ich ja befreundet sein, mit wem ich wollte. Oder? In Beziehungsfragen war ich echt die falsche Adresse. Also tippte ich meine Nummer in Enricos Handy ein. „Die suchen mich bestimmt schon…oder vielleicht auch nicht.“ Ich musste verzweifelt anfangen zu lachen. „Was ist denn mit deiner Familie?“, fragte Enrico mitfühlend. „Wir sind keine“, stellte ich trocken fest.

Ich unterhielt mich noch einige Minuten mit Enrico, bis ich wieder durch das Lokal lief und auf unseren Tisch zusteuerte. Es tat gut, mit Enrico zu sprechen. Ablenkung tat immer gut. Ich wollte grade um die Ecke biegen, als ich meine Mutter am Tisch sprechen hörte. „Ich fühle mich nicht verantwortlich für sie! Wieso auch? Irgendwie war sie nie richtig meine Tochter. Es hat sich halt so entwickelt! Jetzt kann ich ja machen, was ich möchte. Wieso soll ich immer auf andere achten?“ Mir war sofort klar, dass sie über mich sprachen. Die Stimme meiner Mutter war so eiskalt und ohne Skrupel. Mein Herz setzte einen Schlag aus, nur um dann doppelt so schnell weiter zu schlagen. „Ich kann nicht verstehen, wie man so sprechen kann“, hörte ich Noah sagen. Anhand seiner Stimme machte ich fest, dass er kurz davor war auszurasten. Meine Augen wurden nass. Mit Mühe versuchte ich den Kloß runterzuschlucken, der sich in meiner Kehle gebildet hatte. Ich ging um die Ecke und starrte meine Mutter an. Sie wirkte erst überrascht und dann kalt, wie immer. Noah und alle anderen auch, folgten ihrem Blick und sahen mich mit unterschiedlichen Emotionen an. „Wo warst du denn so lange?“, fragte mein Stiefvater vom Tischkopf aus. Ihm schien die ernste Stimmung gar nicht aufzufallen. Ich ging zu meinem Platz und griff mit zitternder Hand nach meiner Tasche. Noah stand auf und folgte mir nach draußen. Ich ging, ohne auch nur ein Wort zu der Frau zu sagen, die bereit war, immer und immer wieder auf mich einzustechen.

Wir fuhren zurück zur WG. Ich wollte weder nach Hause, noch zu dem Haus meiner Mutter. Für mich war der Geburtstag gelaufen. So viel Selbstbeherrschung besaß ich nicht. Während der ganzen Fahrt liefen mir die Tränen über die Wange. Ich sah bestimmt wieder aus, wie ein Waschbär. Mein Mascara und mein Eyeliner waren nämlich nicht wasserfest. Kurz bevor wir ankamen fand ich meine Stimme wieder. „Sie hasst mich“, verkündete ich leise. Noah legte seine Hand auf meinen Oberschenkel und parkte neben der Hauptstraße. „Sie hasst sich selbst für all das, was sie dir angetan hat. Aber sie kann nicht damit aufhören. Es ist wie eine Sucht“, sagte er trocken. Ja, er war auch angepisst und das richtig. Meine Mutter brachte sogar ihn um den Verstand. „Vielleicht hast du recht“, flüsterte ich müde. „Natürlich hab ich das, Honey“, flüsterte er zurück und küsste mich sanft auf die Lippen.
Wir gingen in sein Zimmer, warfen erst die Klamotten ab und dann warfen wir uns ins Bett. Die Müdigkeit war stärker, als die Leere, welche ich fühlte. Anscheinend war ich das Gefühl schon gewohnt. Noah schlief als Erster ein, nachdem er seinen Arm um meine Taille gelegt hatte. Kurz bevor ich einschlief, leuchtete mein Handy auf. Es war eine Nachricht von Enrico. >>Schade…du hast einen leckeren Nachtisch verpasst aber ich denke deiner „Nicht-Familie“ ist auch der Appetit vergangen. Die sind kurz nach dir gefahren. Hoffe dir geht’s gut? << Lächelnd tippte ich ein: >> Das mit dem Nachtisch kann ich die Tage mal nachholen. Mir geht’s ganz in Ordnung, danke der Nachfrage. << Ich musste nicht lange auf die Antwort warten. >>Hahaha, ja mach das. Ich verspreche auch nicht in den Nachtisch zu spucken, wie ich das sonst immer mache, bevor ich serviere. Melde dich einfach mal. Ich muss jetzt echt ins Bett…deine „Nicht-Familie“ hat mich heute ziemlich viel laufen lassen! So viel Arbeit bin ich gar nicht gewohnt. Gute Nacht und träum schön. :-) << Ich schickte ihm auch eine „Gute Nacht“- Nachricht und legte dann das Handy weg. Danach drehte ich mich zu Noah und sah ihm noch einige Minuten beim schlafen zu, bevor ich selbst in das Land der Träume glitt. In dieser Nacht träumte ich von einem riesigen Erdbeerbecher mit Eis. Doch bevor ich ihn essen konnte, nahm meine Mutter den Becher weg und warf ihn gegen die Wand. Soviel zum Nachtisch…

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