Donnerstag, 8. September 2016
Labil
Alles lief besser. Ich fühlte mich richtig wohl in Marvins Nähe und konnte meine Gefühle endlich einordnen. Liebe verteilte sich durch meinen ganzen Körper und beruhigte meine Seele. Doch es reichte nur ein Rückschlag und das Kartenhaus begann zu wackeln.
Marvin besuchte mich in seiner Mittagspause und brachte belegte Baguettes mit. Wir aßen sie zusammen in meinem Zimmer und kuschelten uns auf mein kleines Bett. Wirklich, ich fühlte mich seit langem wieder sicher. Als er zurück zur Schule musste, brachte ich ihn noch zur Haustür. Dort hielt er sein Handy in der Hand und der Name „Eyleen“ blitzte auf. Blitzartig bekam ich einen Flashback. (…)
Marvin verwandelte sich in Eric, der ebenfalls sein Handy in der Hand hielt und mit einer Schulfreundin schrieb. „Wir sind nur Freunde“, hatte Eric gesagt. Es dauerte nicht lange, da saß er mir gegenüber und berichtete mir, er hätte sich in ein anderes Mädchen verliebt. In dieses Mädchen. Ihr Name auf dem Display wurde zu dem Messerstich in meinem Herzen. (…)
Wie erstarrt schaute ich auf Marvins Handy. Dann verfinsterte sich mein Blick und ich sah ihm ins Gesicht, wollte dass er den Grund meiner Laune erkannte. Anscheinend tat er dies, denn er zögerte, bevor er meine Wohnung verließ. Jedoch wollte ich nichts mehr sagen. Ich hatte genug gesehen. (…)
Den ganzen Tag verbrachte ich mit meiner Freundin Nicole. Es war ein sehr warmer Tag, weshalb wir in die Stadt gingen, um Eis zu essen. Währenddessen schrieb ich mit Dana, weil ich sie noch sehen wollte. Ich musste einfach mit jemandem darüber reden und Nicole war nicht die richtige Ansprechpartnerin dafür. Also verabredete ich mich mit Dana am alten Marktplatz, wo wir uns damals immer getroffen hatten.
Die Stunden vergingen. Mit Mühe zwang ich mich dazu, nicht oft auf mein Handy zu gucken. Mir fehlte die Motivation mit Marvin über seine Freundinnen zu diskutieren. Immerhin war die Sache eindeutig: Meine Wenigkeit verlor einen guten Freund nach dem nächsten und er konnte seine weiblichen Freundinnen behalten. Das war zu unfair, um wahr zu sein. Und es erinnerte mich verdammt an die Zeit mit Eric. Alle wussten, wie das ausgegangen ist.
Nachdem ich Nicole nach Hause gebracht hatte, fuhr ich also zu dem Treffpunkt. Irgendwie freute ich mich sehr, meine alte Freundin wieder zu sehen. Es fühlte sich immer wieder an, wie nach Hause zu kommen.
Als ich den Marktplatz sah, zog sich mein Magen zusammen. Ich erkannte den schwarzen Wagen auf dem Parkplatz. Dennoch drehte ich nicht um. Dana war extra gekommen und ich vermisste sie. Ich parkte neben dem Wagen, stieg aus und direkt schauten fünf Augenpaare zu mir. Die komplette WG lehnte sich gegen den Wagen. Dana kreischte als Erste auf, wirbelte um das Auto herum und schloss mich fest in ihre Arme. Dabei schmiss sie meine Sonnenbrille vom Kopf. Verdutzt schaute ich von Dana zu den anderen und hob eine Augenbraue. „Also nichts gegen euch aber ich hatte doch nur dich angerufen“, bemerkte ich überrascht. „So werden wir gerne begrüßt“, lachte Jonah, kam auf mich zu und wuschelte mir durch die ohnehin unordentlichen Haare. Leonie umarmte mich auch und freute sich tierisch. Alle waren sehr sommerlich gekleidet. Bis auf Leonie hatten auch alle eine natürliche Bräune. „Da ist jemand von den Toten auferstanden“, meinte Nick und klatschte spielerisch in die Hände. „Ich war nicht Tod...“, murmelte ich in seine Richtung. „Ich würde sagen, sowas ähnliches“, mischte sich Noah ein und setzte sich auf seine Motorhaube. Er hielt immer noch Abstand und schien nicht begeistert darüber, hier zu sein. Dana warf ihm einen warnenden Blick zu und spielte danach mit meinen Haarspitzen. „Bor, die sind voll lang geworden! Du wirst immer hübscher“, stellte sie mit einer süßen Stimme fest und drückte mich noch einmal an sich. Überfordert schaute ich von einem, zum anderen. Eigentlich hatte ich auf ein vier Augen Gespräch mit Dana gehofft aber jetzt stand dort eine ganze Mannschaft. Alle hatten bessere Laune, als ich. Naja, vielleicht war Noah eine Ausnahme.
Zögernd griff ich nach Danas Arm und zog sie zu mir, damit ich ihr ins Ohr flüstern konnte. „Können wir alleine reden und ein bisschen spazieren?“ Dana schaute erst zu mir, dann zu den anderen. Ihr Gesichtsausdruck wurde immer ernster. Anscheinend ahnte sie, dass es mir nicht gut ging. „Haylie und ich gehen eine Runde um den Block. Wir müssen reden. Macht es euch was aus?“, fragte Dana laut. Leonie und Nick warfen sich direkt einen Blick zu. „Wir wollten sowieso einkaufen gehen“, sagte Leonie schließlich und zuckte mit den schmalen Schultern. „Komme mit“, meinte Jonah schnell und folgte den beiden. Noah musterte mich nachdenklich aber rührte sich nicht. „Dann werde ich wohl hier warten“, nuschelte er leise. Mit einem komischen Gefühl im Magen entfernte ich mich von unseren Autos, während Dana aufgeregt durchatmete und mir folgte. (…)
Wir liefen die alte Straße entlang, in der ich damals aufgewachsen bin. Jeder einzelne Meter erinnerte mich an eine schöne Zeit, in der ich noch ahnungslos mit meinen Rollschuhen durch die Gegend gefahren bin. Dana trug ihre roten Haare an dem Tag hochgesteckt. Die kurze, dunkelblaue Jeans passte gut zu ihrem schwarzen Top mit V-Ausschnitt. Generell war sie wunderschön, wie eine Puppe. „Geht es um Marvin?“, begann Dana das Gespräch, weil ich lange schwieg. Wir sahen uns beide nicht an, sondern starrten auf den Boden, während wir liefen. „Auch“, antwortete ich knapp. Das Wort blieb mir schon im Hals stecken. Ich wollte reden aber konnte diese Dinge nicht aussprechen. Es tat einfach höllisch weh sich einzugestehen, dass man so verletzbar war. „Was ist passiert?“, hakte Dana geduldig nach. „Eigentlich möchte ich die Geschichte nicht vertiefen. Er schreibt halt weiter mit Weibern, obwohl ich meine besten Freunde nicht einmal sehen darf, wenn es nach ihm geht. Das ist wahnsinnig unfair und scheiße“, fasste ich die Situation zusammen, ohne Luft zu holen. Dana nickte verständnisvoll. Wir kamen an alten Wohnungen vorbei und mussten uns durch den engen Bürgersteig quetschen. Ständig standen Mülltonnen im weg. Die Sonne knallte auf unsere Köpfe, sodass ich das Gefühl hatte, bald einen Sonnenbrand zu bekommen. „Das ist echt scheiße. Aber du glaubst doch nicht, dass er dich betrügt oder?“, wollte sie wissen. „Nein“, sagte ich direkt. „Aber da ist dieses eine Mädchen, Eyleen. Sie macht mir Sorgen.“ Bei dem Namen bedachte mich Dana mit einem überraschten Gesichtsausdruck. „Einen coolen Namen hat sie jedenfalls.“ Ich rollte mit den Augen. „Ich habe diese Eyleen auf Facebook gesucht und bin fündig geworden“, fuhr ich fort. Auch da konnte sich Dana ihr grinsen nicht verkneifen. „Wow, eifersüchtige Frauen sind echt besser, als jedes Polizei-Team. Aber du kennst doch ihren Nachnamen nicht, oder? Wie konntest du die dann finden? Vielleicht ist das nicht die Richtige“, bedachte Dana und zuckte mit ihren Achseln. Vor dieser Antwort, lief es mir eiskalt den Rücken runter. „Ich habe sie erkannt. Diese Haare…das Gesicht. Ich habe sie schon einmal gesehen“, stellte ich finster fest. Sofort wich das Grinsen aus Danas Gesicht. Wir kamen zum Ende der Straße, blieben aber stehen, weil es Dana offenbar zu spannend wurde, um weiter zu laufen. „Ich habe dir doch mal von meinen Träumen erzählt. Den Träumen, in denen Marvin mit anderen Weibern rum knutscht. Tja, sie war eine davon“, ließ ich die Bombe platzen. Um meine Worte zu unterstreichen, kramte ich mein Handy aus der Handtasche und zeigte ihr das Mädchen via Internet. Dana nahm mir das Handy ab und musterte sie skeptisch. „Hässlich, wie die Nacht. Sicher, dass sie es war? Also du hast sozusagen in die Zukunft gesehen, meinst du das?“ Gott, ich hoffte nicht, dass dies meine Zukunft sein würde. Allein bei dem Gedanken bekam ich Gänsehaut. „Sie ist süß…“, hauchte ich traurig. Meine Augen wurden nass und ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Dana bemerkte meinen Kummer und steckte das Handy zurück in meine Tasche. „Hey…du findest jede süß. Außerdem, nur weil dir das bei Eric passiert ist, muss es nicht wieder passieren“, versuchte sie mich aufzumuntern. Langsam liefen wir weiter, diesmal an der Hauptstraße entlang, die kaum befahren war. „Aber…da ist noch etwas…irgendetwas ist in mir drin“, flüsterte ich erschüttert und legte eine Hand auf meinen Bauch. Abrupt blieb Dana stehen und sah mich entgeistert an. „Bist du schwanger?“ Müde schüttelte ich den Kopf. „Nein, etwas nicht Menschliches. Ich glaube, ich bin endgültig verflucht und kein Arzt kann mir helfen. Letzte Woche…da hatte ich einen Streit mit Marvin. Ich habe wohl gemeine Sachen gesagt aber kann mich nicht daran erinnern. Marvin hat mir geglaubt, als ich sagte, ich wäre schlafgewandelt“, erzählte ich erschöpft. „Aber ich konnte eigentlich nicht schlafgewandelt sein, denn ich hatte mich nicht schlafen gelegt. Es macht mir total Angst. Etwas sehr böses wohnt in mir drin und wartet darauf, dass ich schwach werde und mich hingebe.“
Dana legte beide Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen. Ihre grünen Augen funkelten mich hoffnungsvoll an. „Dann darfst du nicht schwach werden“, wies sie mich an. „Aber, wenn doch…wenn ich mich verändere…dann…naja, von mir aus bring mich um“, stotterte ich verzweifelt. „Erstens wirst du nicht sterben. Zweitens sehe ich dich kaum. Du musst mit Marvin darüber reden…egal, wie verrückt sich das anhört“, sagte Dana entschieden. „Ich weiß…ich liebe ihn auch, aber…“, wollte ich anfangen, doch Dana hob ihre Hand. „Es gibt kein aber. Du liebst ihn und das muss reichen. Die Liebe ist stärker als das, was da in dir drin ist“, sie deutete auf meinen Bauch. (…)
Nach einer Stunde verabschiedete ich mich von meinen Freunden. Als Noah an der Reihe war, schaffte er es sogar mich kurz anzulächeln. „War das so schwer?“, neckte ich ihn schwach. „Du hast ja keine Ahnung“, meinte er daraufhin und ich wandte mich ab. „Hey“, machte er plötzlich. Verwundert drehte ich mich noch einmal zu ihm. „Ich kenne deine Probleme nicht und sie gehen mich auch nichts mehr an. Aber pass auf dich auf und denk dran, bleib du selbst.“ Nach kurzer Stille nickte ich Noah zu und umarmte Dana. Es hatte gut getan mit ihr zu sprechen. Auch, wenn ich jetzt wieder alleine mit meinen Problemen war. Für eine kurze Zeit konnte ich zumindest meine verrückten Gedanken teilen. (…)
In der Nacht stand ich auf dem Balkon, gezeichnet von all den Gesprächen des Tages. Den Guten, wie auch den Schlechten. Müde lehnte ich mich gegen das Geländer. Immer wieder tauchte das Bild von Marvin und Eyleen auf. Jetzt hatte das Gesicht aus meinen Träumen auch noch einen Namen. War mein Traum eine Warnung? Sollte ich die Beziehung beenden, bevor mir komplett das Herz heraus gerissen werden würde? Wie weit war ich bereit zu gehen? Mal wieder hämmerte mein Kopf. Mein Blick wanderte auf die Wiese unter dem Balkon. Würde ich sterben, wenn ich jetzt sprang? Oder reichte die Höhe nicht aus? Ich befand mich immerhin im zweiten Stockwerk. Tränen rollten mir über die Wangen. Mir wurde bewusst, dass ich niemals glücklich werden würde. Irgendetwas versuchte mir immer alles Gute weg zu nehmen. Ich konnte keine weiteren Schmerzen mehr aushalten. Aufgelöst schaute ich in den Nachthimmel. Es waren kaum Sterne zu sehen. Eins war mir klar: Wenn dieser Traum wahr wird, werde ich mit Anlauf von diesem Balkon springen.

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