Dienstag, 1. März 2016
Landluft
„Und merkst du was?“, fragte mich Noah neugierig. „Irgendeine Energiequelle oder sowas?“ Da hatten wir es: er nahm mich nicht ernst. Am Nachmittag sind wir zu der alten Ruine gefahren, in der wir vor Jahren mit dem Ouija-Brett hantiert hatten. Das alte Gebäude war fast komplett zusammengefallen, weshalb nur noch ein Raum betretbar war. Ich stand in der Mitte des Raumes und betrachtete die alten Möbel und kaputten Wände. Außer, dass ich mich wahnsinnig unwohl fühlte, geschah nichts. „Sehr lustig…an was glaubst du eigentlich?“, fuhr ich ihn an. Die ganze Angelegenheit war mir sowieso schon unangenehm. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas in meinem Leben nicht stimmte. „Nicht an sowas jedenfalls. Ich glaube daran, dass du trotz der vielen Schichten Klamotten ziemlich sexy bist“, bemerkte er und zwinkerte mir zu. Da ich immer noch nicht vollständig gesund war, hielt ich es für das Beste, meinen Körper warm zu halten. Deshalb trug ich eine Jeans, Winterstiefel, einen dicken Pullover, eine dicke Winterjacke, Mütze und Handschuhe. Draußen herrschten zwar milde Temperaturen aber mein Körper unterkühlte trotzdem. Die Klamotten waren das mindeste. Noah trug währenddessen seine gewöhnlichen Sachen und eine Strickjacke. Er wurde nie krank und ihm war selten kalt. So ein Leben musste super sein! Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und gab die Hoffnung auf. Es würde ja doch nichts passieren und wir waren umsonst dort. „Vielleicht gibt es für die Bilder eine andere Erklärung, Honey“, warf Noah ein und kam auf mich zu. „Ich hab ne Idee!“, sagte ich und gab ihm mein Handy. „Mach ein Bild von mir und später gucken wir, ob irgendetwas neben mir steht.“ Skeptisch ging er einige Schritte zurück und knipste Fotos von mir. „Wenigstens kommst du so an die frische Luft“, stellte er fest, als er mir das Handy zurückgab.

Als wir wieder im Auto saßen und nach Hause fuhren, musste ich eingeschlafen sein. Kurze Zeit später fuhren wir an Wiesen vorbei, die mir durchaus bekannt vorkamen. Ich hob meinen Kopf von der Scheibe der Beifahrertüre und betrachtete die Landschaft. „Kannst du rechts ran fahren?“, wandte ich mich an Noah. Er sah mich fragend an, hielt aber dann kurze Zeit später. Zuerst schnallte ich mich ab und anschließend stieg ich aus. „Was willst du hier?“ Noah sah sich verwirrt um, als er neben mir auftauchte. Ich nahm seine Hand und führte ihn zu den Wiesen. Dort gab es einen Waldweg, der direkt zu einem Bauernhof führte. Damals hatte ich dort gearbeitet, zusammen mit meiner besten Freundin. Jeden Tag hatten wir uns um die Pferde gekümmert und eins davon besonders ins Herz geschlossen: Johnny Walker.

Es war ein harter Winter und trotzdem fuhren Leah und ich mit unseren Fahrrädern zum Stall. Die Pferde mussten in ihre Boxen gebracht werden, bevor der Sturm anfing. Leider schafften wir es nicht rechtzeitig und wir mussten gegen den tosenden Wind kämpfen. Wir strampelten heftig mit unseren Füßen, damit sich unsere Fahrräder bewegten. Kaum waren wir am Stall angekommen, schmissen wir die Fahrräder in die nächste Ecke und gingen in den Stall, um die Situation zu überblicken. Die Boxen waren alle leer, also befanden sich die Pferde schutzlos auf der Weide. „Gut, wir nehmen jeweils zwei Pferde gleichzeitig, dann geht es schneller!“, beschloss Leah. Wir waren schon komplett nass, von Kopf bis Fuß, jedoch konnte uns nichts aufhalten. Der Regen peitschte gegen das Dach und der Wind heulte auf, als wir die Stalltüre öffneten. Wir nahmen Halfter und machten uns bereit. „Wer übernimmt welche Weide?“, wollte ich wissen. Es gab zwei große Weiden, auf denen mindestens acht Pferde standen. „Du nimmst die vorne und ich die hintere“, wies mich Leah an und wir gingen auf Startposition. „Los!“, riefen wir beide und rannten los. Draußen herrschte ein Supersturm aber das ließ uns nicht abschrecken. Wir nahmen immer jeweils zwei Pferde gleichzeitig und brachten sie in ihre Boxen. Nachdem das letzte Pferd im Stall war, setzten wir uns auf die Heuballen und aßen einige Karotten, die wir mit den Pferden teilten. Die Arbeit im Stall machte uns großen Spaß und zu keiner Zeit, lebte ich gesünder. Irgendwann verloren Leah und ich uns aus den Augen und keiner von uns beiden, wollte alleine zu diesem Ort zurückkehren.

„Hier ist ein schmaler Weg, der führt direkt zu der Box von Walker“, sagte ich zu Noah, als wir inmitten eines Waldes stehen blieben. „Dürfen wir einfach auf den Hof? Wer ist das überhaupt?“ Verwirrt starrte er auf den matschigen Weg. „Ich hab da mal gearbeitet. Komm jetzt.“ Meine Hand schloss sich fester um seine und wir gingen weiter. Kurze Zeit später waren wir vor Walkers Box, die genauso aussah wie damals. Walker streckte seinen Kopf aus dem Fenster und sah uns neugierig an. Ich konnte es nicht fassen, Johnny! Gerührt legte ich meine Arme um seinen Hals und drückte ihn an mich. „Walker, du bist noch hier!“, stellte ich erleichtert fest. Er war ein sehr großer Schimmel und eine echt treue Seele. Wie ich dieses Pferd liebte! Denn dieses Pferd hatte meiner besten Freundin und mir eine wunderbare Zeit geschenkt, die ich niemals vergessen werde. Wie oft waren wir spazieren gewesen und hatten die Gegend erkundet. Einige Male sind wir sogar geritten und Walker hat auf uns aufgepasst. „Das ist ein schönes Tier.“ Noah legte seine Hand auf Walkers Nüstern und lächelte. „Dieser Ort hier ist voller Erinnerungen. Das waren mal Zeiten, so ganz ohne Schmerzen.“ Wie auf Stichwort brannten meine Knochen wieder. Noah bemerkte meinen Stimmungswechsel und hielt mich am Unterarm fest. „Ich glaube, das reicht für heute oder? Wir können wiederkommen, wenn es dir besser geht. Wir müssen ja noch zurück zum Auto laufen.“ Ich ließ mich in Noahs Arme fallen und sah Walker dabei in seine großen Pferdeaugen. Ich würde gerne noch dort bleiben, jedoch war mir klar, mein Körper machte es nicht mehr lange mit. „Ich hab dich lieb, Walker“, hauchte ich erschöpft. Noah beugte sich runter und deutete auf seinen Rücken. „Ich trage dich zum Auto. Du kannst kaum noch stehen.“ Zuerst wollte ich protestieren, war allerdings viel zu müde dafür. Also legte ich meine Arme von hinten um seine Schultern und er hob mich hoch, indem er mich an meinen Knien packte. Wie ein Affe klammerte ich mich mit den Beinen um seine Taille, bis wir wieder in seinem Auto saßen. „Ich liebe dich“, sagte er wieder, als ich mich an den Beifahrersitz kuschelte. „Versprichst du mir, dass wir Walker nochmal besuchen kommen?“, wechselte ich schnell das Thema. Er verzog kurz nachdenklich das Gesicht, nickte aber schließlich und ließ den Motor aufheulen. „Wirst du mir überhaupt mal sagen, dass du mich liebst?“, fragte Noah leise, während er an einer roten Ampel hielt. „Ja, wenn ich soweit bin“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Momentan fuhren meine Gefühle Achterbahn und es fühlte sich noch nicht richtig an, es ihm zu sagen. Dafür hing ich noch viel zu sehr an Menschen aus meiner Vergangenheit.

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