Montag, 1. August 2016
Leben und Hoffnung
Noah:
Es war spät in der Nacht, als Zeynep mich weckte. Man, in einer WG hat man selten seine Ruhe. Sie rüttelte hektisch an meinem Oberarm und knipste dann gnadenlos das Licht an. Im Halbschlaf kniff ich meine Augen zusammen. Zeynep riss mir die Decke weg und schmiss sie auf den Boden. Anschließend stemmte sie die Hände in die Hüften und schaute mich auffordernd an. Sie trug ihren pinken Pyjama mit den Einhörnern darauf und ihre schwarzen Haare standen etwas unter Strom. „Du musst aufstehen und mich zu Henry begleiten! Haylie ist dort und ich glaube er pumpt sie mit Drogen voll“, berichtete Zeynep aufgeregt. (…)
Die miefige Wohnung von Henry sah aus, wie sie eigentlich immer aussah. Es roch penetrant nach Gras und alten Möbeln. Hier und dort lagen entweder betrunkene oder dichte Jugendliche, denen der „Kick“ zu viel wurde. Natürlich hatte ich Zeynep hierher begleitet. Henry wohnte zwar nur paar Straßen weiter aber es war Nacht und hier liefen manchmal kuriose Gestalten herum. Sie hatte sich ihren pinken Bademantel übergeworfen und lief durch die Hölle der Jugend, um Haylie zu finden. Benommen taumelte Henry auf uns zu. Er musste sich am Türrahmen des Wohnzimmers abstützen, um nicht zu fallen. Seine graue Mütze hatte er so weit in sein Gesicht gezogen, dass man seine Augen kaum sah. Konnte er überhaupt noch etwas sehen? „Noah, mein alter Freund!“, begrüßte er mich mit einer übertriebenen Geste. Ja, konnte er noch. „Wir sind keine alten Freunde. Wo ist Haylie?“, wollte ich direkt wissen, ohne höflich zu sein. „Wieso? Bist du ihr Vater? Die liegt hier irgendwo…“, nuschelte er und rülpste nach dem Satz. Ekelhaft.
Ich schaute über seine Schulter in das Wohnzimmer und erkannte Haylie, die weggetreten auf dem Boden lag. Sie trug ein kurzes, schwarzes Kleid mit dünnen Trägern. Ihre roten, kurzen Haare waren allerdings noch recht gestylt. Mit blassem Gesicht lag sie dort, als wäre sie bereits Tod. Energisch schubste ich Henry zur Seite, ging auf sie zu und griff unter ihre Schultern und Knie. So hob ich sie hoch und drückte sie an meine Brust. Ich ging in den Flur, rief Zeynep zu und wollte nur noch da raus. (…)
„Geh…“, krächzte Haylie, als sie sich über die Kloschüssel lehnte, um zu brechen. Entschieden blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor meiner nackten Brust. Ich trug jetzt wieder nur meine Schlafhose und war echt müde. Dennoch wollte ich sie in diesem Zustand nicht alleine lassen. „Ich denke nicht mal dran jetzt zu gehen. Du kotzt die Scheiße aus dir raus, trinkst deinen Tee und gehst schlafen. Basta“, sagte ich entschlossen und kniete mich neben sie. Noch bevor sie mir widersprechen konnte, erbrach sie sich heftig. Währenddessen streichelte ich über ihren Nacken, bis hin zu ihrem Sidecut. Nach einigen Minuten schien sie fertig zu sein und sie ließ sich nur noch auf den Boden fallen. Wie in Henrys Wohnung hob ich sie hoch und trug sie in mein Zimmer. Dort legte ich sie vorsichtig in mein Bett und deckte sie zu. Wie hatte es so weit kommen können? Ich wollte nicht, dass sie eine von denen wird, die nichts anderes im Kopf hatten, als zu kiffen und anderen Scheiß in sich rein zu pfeifen. Mittlerweile kiffte sie fast jeden Tag und am Wochenende kamen dann diese Designer-Drogen. Nachdenklich stand ich am Rande des Bettes und überlegte, wo ich jetzt schlafen sollte. Ein Gentleman wäre in das Wohnzimmer gegangen und hätte auf der Couch geschlafen. War ich ein Gentleman? Definitiv nicht. Also legte ich mich neben sie ins Bett und sah ihr beim schlafen zu, bis ich selbst in das Land der Träume glitt. (…)
Am nächsten Morgen wurde ich von dem räuspern von Jonah geweckt. Als ich meine Augen öffnete, stellte ich sofort fest, dass Haylie noch seelenruhig schlief. Genervt drehte ich mich zu meiner Zimmertür, die offen stand und in der mein verwunderter Cousin stand. Nur in Boxershorts bekleidet lehnte er sich gegen den Türrahmen und zog beide Augenbrauen hoch. „Das ist das erste Mal, dass ich sehe, wie ein Mädchen nur neben dir im Bett schläft…ganz ohne Hintergedanken“, bemerkte er und setzte so ein breites Grinsen auf, dass es ihm schon wehtun musste. Ich griff nach einem Kissen und warf es gegen ihn. „Halt deine Fresse, Mann“, knurrte ich und stand auf. „Ich nutze sowas nicht aus. Ich komme auch ohne Drogen und Alkohol an Sex.“ Ich stampfte an ihm vorbei und stieß ihn dabei absichtlich gegen die Schulter. Er lief mir tatsächlich hinterher. Hatte der Junge Todessehnsucht? „Ey, die ist keine für eine Nacht. Ehrlich gesagt, mag ich sie. Mach es nicht kaputt“, sagte Jonah plötzlich ohne überheblichen Unterton. Überrascht hielt ich inne und drehte mich zu ihm. „Ich werde sie nicht flachlegen…bei ihr ist es ausnahmsweise was anderes. Zuerst will ich sie aus der Scheiße mit Henry ziehen“, gab ich ehrlich zu. Jonah glaubte mir nicht so ganz aber gab nach. „Alter, denk an Kürsad. Das Mädchen hat genug durch gemacht“, setzte er noch einen drauf und wollte in sein Zimmer gehen. Ich sagte nichts mehr, sondern ging in die Küche. (…)
Sie lehnte sich gegen die Wand am Bett, als ich zurück in mein Zimmer kam und ein Tablett in der Hand hielt. Unsicher schaute sie erst mich, dann meinen nackten Oberkörper und dann das Tablett an. Vermutlich versuchte sie grade die Ereignisse der letzten Nacht irgendwie zusammen zu kriegen. Ihre großen, braunen Reh-Augen waren blutunterlaufen und ihr dunkler Eyeliner war komplett verschmiert. Ich blickte in ihre Augen und erkannte nichts mehr, kein Leben und keine Hoffnung. Ein ungewohnter Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich das einsame, verlorene Mädchen in meinem Bett sah, von dem ich wusste, dass sie noch zu jung für diesen Schmerz war. Ich stellte das Tablett auf meinen Nachttisch ab und reichte ihr eine große Tasse Kaffee. Langsam streckte sie ihren blassen Arm aus und griff danach. „Wir haben doch nicht miteinander…“, flüsterte sie schockiert, als sie auf die Tasse in ihrer Hand starrte. „Geschlafen?“, unterbrach ich sie, damit sie es nicht aussprechen musste. „Nein, so ein Arschloch bin ich auch wieder nicht.“ Aufmunternd lächelte ich sie an und setzte mich auf das Bett. Dabei ließ ich ihr noch genug Abstand, denn ich wollte sie nicht bedrängen. Fragend starrte sie auf die braune Flüssigkeit in der Tasse. „Das ist Soja-Milch“, beantwortete ich ihre stumme Frage. Zeynep hatte mir mal von ihrer Laktoseintoleranz erzählt und seitdem kaufte Zeyno immer mal wieder laktosefreie Produkte. Haylie verzog angewidert ihr Gesicht. „Echt? Ich hab die noch nie getrunken…“, bemerkte sie mit einer heiseren Stimme. „Ich schon. Also, ich habe sie mal probiert. Man schmeckt den Unterschied gar nicht, wenn man sie nicht pur trinkt“, stellte ich fest. Dann tat sie etwas, was mein Herz aufwärmte. Sie lächelte. Es war kein gezwungenes Lächeln, sondern ein echtes und herzliches. Da erkannte ich, dass ich sie würde retten können. Um den britischen Wissenschaftler *Stephen Hawking* zu zitieren: „Solange es Leben gibt, gibt es auch Hoffnung.“

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