Dienstag, 3. Mai 2016
Luna
Selbst die Kontrolle über meine Träume hatte ich verloren. Jede Nacht träumte ich zusammenhanglose Horror-Szenarien. Noah lag mit dem Bauch auf der Matratze und kuschelte sich in die Decke, während ich mich vorsichtig erhob und auf Zehenspitzen sein Zimmer verließ. Mein Handy zeigte mir, dass mir jemand eine Nachricht hinterlassen hatte. Henry schmiss wieder eine Party. Wieso sollte ich da nicht hingehen? Also ging ich ins Badezimmer, um mir meine Jeans und ein dunkelrotes Oberteil anzuziehen, welches meine Oberweite perfekt betonte. Nachdem ich meine brünetten Haare gekämmt hatte, nahm ich meine Handtasche vom Badezimmerboden und kramte nach etwas Mascara. Es dauerte nicht lange und ich war fertig. Die Party würde zwar erst später anfangen aber Henry hatte mich gebeten, ihm bei den Vorbereitungen zu helfen.
Ich öffnete grade die Wohnungstüre, als Noah hinter mir im Flur stand. „Wo willst du hin?“, fragte er mich plötzlich hellwach. Ich drehte mich genervt zu ihm. Er trug nur seine Boxershorts. Seine Arme waren vor der nackten Brust verschränkt und er bedachte mich mit einer strengen Miene. „Henry schmeißt wieder eine Party. Ich geh helfen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Lügen brachten mich sowieso nicht weiter. Nach einer kurzen Redepause wurden seine Gesichtszüge weicher. „Ich fahr dich, warte hier“, sagte er und verschwand im Bad. Verwundert starrte ich auf die Türe, in der er grade verschwunden war. Seit wann unterstützte mich Noah bezüglich Henry und Partys? Es dauerte keine zehn Minuten, da stand er wieder vor mir und führte mich zu seinem Auto.

Das war definitiv nicht der Weg zu Henry! Wir fuhren schon beinahe eine Stunde und vor dem Auto erstreckte sich eine Landstraße. Wir fuhren so weit weg, dass ich nicht mal wusste, wo wir waren. Der Regen peitschte gegen das Autodach. Ich starrte Noah böse an, der weiterhin auf die Straße schaute und leicht grinste. Natürlich hatte er mich reingelegt! Er würde mich niemals auf eine Party von Henry fahren. „Also keine Party? Dann sag mir wenigstens, wo du mich hinfährst“, meldete ich mich zu Wort und schaute auf die großen Felder neben der Straße. „Honey, du wirst dich auf jeden Fall freuen“, stellte er zufrieden fest und legte seine Hand auf meine. Ich verdrehte meine Augen. Mir war selbst nicht klar, wieso ich so negativ drauf war. Immerhin liebte Noah mich und ich wollte ihn auch nicht verlieren. Ohne dass ich es wirklich wahrnahm, veränderte mich das Leben zunehmend.

Wir fuhren auf einen steinigen Parkplatz, welcher sich direkt vor einer Gartenlaube befand. Ein Mann, geschätzt Mitte 30, stand am Eingang und sah freundlich zu uns ins Auto. Wartete er auf uns? Ich sah fragend zu Noah, der ohne zu zögern ausstieg. Er ging auf den Mann zu und reichte ihm seine Hand. Verwirrt stieg ich aus und reichte dem Mann ebenfalls meine Hand. „Nenn mich ruhig Andreas“, stellte dieser sich vor. Er hatte sehr kurzes, dunkelbraunes Haar und trug ein rot-kariertes Hemd. Andreas öffnete ein Tor und ging in Richtung Laube. Noah folgte ihm einfach und ich verstand nur Bahnhof. Trotzdem war meine Neugier zu stark und ich ging hinterher. Vermutlich hatte Noah sich ein Gartenhaus gekauft und das mitten in der Pampa. Die beiden Männer blieben vor einem Gartenhaus stehen und sahen mich an. „Lass mich raten…du hast das Haus hier gekauft?“, wollte ich von Noah wissen. Dieser schüttelte den Kopf und sah zu Andreas. „Vielleicht wirfst du mal einen Blick in das Haus“, schlug Andreas vor und öffnete die Türe. Er trat zurück und deutete mir, ich solle zuerst hineingehen. Skeptisch sah ich zu Noah. Der grinste typisch und wartete bis ich mich in Bewegung setzte.
Im Gartenhaus war es beleuchtet und es roch stark nach Heu. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Nager-Käfig. Als ich bemerkte, welche Tiere dort hin und her sprangen, riss ich meine Augen weit auf. Sieben Kaninchen hoppelten hin und her. Davon waren fünf noch Babys, die sich neugierig im Raum umsahen. Noah tauchte neben mir auf und legte einen Arm um meine Schultern. „Und fühlst du was?“, fragte er mich leise. Ich schaute ihn mit nassen Augen an. „Ich verstehe ja, dass du es nicht leicht hast aber wie du dich verändert hast gefällt mir nicht. Ich habe die letzten Wochen darüber nachgedacht, wie ich die alte Honey wieder zurück holen kann. Zumindest ein bisschen. Du hast mir mal erzählt, dass du in der Grundschule ein Zwergkaninchen hattest…ich glaube Penny? Zu Tieren könntest du niemals so eiskalt sein, wie zu Menschen“, erklärte Noah seine These. Das ist wahr…Tiere brachten das Eis immer zum Schmelzen. Sie sind einfach so unschuldig und wenn sie dich lieben, werden sie dabei immer aufrichtig sein. Nach Pennys Tod hatte ich beschlossen, mir kein Kaninchen mehr zuzulegen. Penny war mein bester Freund gewesen. Doch das war jetzt über 10 Jahre her. „Wow…ich kann mir ein Kaninchen aussuchen? Ich weiß nicht was ich dazu sagen soll…“, flüsterte ich gerührt. Ich musste automatisch an die Zeit mit Penny denken. Damals, als ich an den Feiertagen keinen hatte, weil meine Familie mich ausgrenzte. Da saß ich mit Penny im Garten und wir teilten uns eine Möhre. „Danke reicht“, sagte Noah und küsste mich sanft auf die Wange. Er rückte in die Ecke, damit ich mich in Ruhe entscheiden konnte. Andreas kam rein und öffnete den Käfig. Anscheinend durften die Tiere im Gartenhaus rumlaufen. Einer nach dem anderen hoppelte an mir vorbei. Ich setzte mich auf den Holzboden und schaute mir die Tiere genau an. Ein Baby fiel mir sofort ins Auge. Sie hoppelte zaghaft auf mich zu und schnupperte an meiner Hand. Ihr Fell war braun und ihre Pfoten waren weiß. Sie verzauberte mich sofort mit ihren treuen, nussbraunen Augen. „Die wird es auf jeden Fall“, stellte ich glücklich fest und wandte mich an Andreas, der neben Noah stand. „Sie hat mich ausgesucht, nicht ich sie.“ Selbst als ich sprach und mich bewegte, wich das Tier nicht von meiner Seite. „Du kannst sie in zwei Wochen abholen. Sie muss noch bei der Mutter bleiben“, bemerkte Andreas freundlich und brachte die Tiere zurück in den Käfig.

Auf der Rückfahrt grinste ich von einem Ohr zum anderen. „Na, viel besser als eine Party oder?“, zwinkerte mir Noah zu. „Ich liebe dich, auch wenn ich seit letzter Zeit nur Mist baue…es tut mir leid“, beteuerte ich. Es stimmte, ich hatte Gefühle für ihn. Ich konnte sie nur nicht mehr so zeigen, wie damals. Manchmal verlor ich die Kontrolle über sämtliche Gefühle aber irgendwann fand ich doch zurück. Ich musste nur noch lernen, wie man die Kontrolle behält. „Dieser Satz ist wie Musik in meinen Ohren“, lachte Noah und küsste meine Hand. „Wie nennst du sie eigentlich? Also das Kaninchen.“ Der Name war mir sofort klar gewesen, sobald ich in diese wunderschönen Augen geschaut habe. „Luna, wie die Mondgöttin“, sagte ich entschlossen.

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