Dienstag, 8. März 2016
Mein Weg zu ihr
Noah:
Seit knapp einer Woche hatte ich sie nicht mehr gesehen. Ich weiß, ich war ein schlechter Freund. Aber der Verlust unserer Freundin nahm uns alle mit und ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Mein „Honey“ machte wahrscheinlich die schlimmste Zeit ihres Lebens durch und ich verschwand einfach. Ich fuhr für einige Tage zu meinem Onkel, bis ich wieder zu mir kam. Mir wurde bewusst, was ich für ein Idiot gewesen bin. Schließlich ließ ich „Honey“ mit der Trauer komplett alleine. Wir durften nicht mal zu der Beerdigung erscheinen, da die Familie unserer Freundin uns hasste. Wie sollte man da abschließen? Es ging gar nichts mehr.

Bald hielt ich es nicht mehr aus. Ich wusste, „Honey“ würde nicht an ihr Handy gehen, also wartete ich vor ihrer Wohnung. Jetzt wollte ich für sie da sein. Es dauerte knapp eine Stunde, bis sie mit ihrem Auto vorfuhr und neben der Straße parkte. Die Musik aus ihrem Auto dröhnte zu mir. Eigentlich erwartete ich traurige Musik von „The Fray“ aber stattdessen lief Partymusik. Sie sang freudig mit, bevor sie den Motor abstellte und ausstieg.
Ich hatte vieles erwartet. Ich hatte erwartet, dass sie nicht mehr zu ihren Kursen fahren würde. Ich hatte erwartet, dass sie zerstört wäre und traurig. Aber nichts davon war der Fall. Sie lächelte. Sie summte fröhlich vor sich hin, während sie zum Kofferraum schlenderte und ihren Rucksack rausholte. Sie war einfach zu stark. Nichts konnte sie zerstören.
Erst als sie mich erblickte änderten sich ihre Gesichtszüge. Ich konnte diese allerdings nicht deuten. Wahrscheinlich hasste sie mich nun und wollte gar nicht mit mir sprechen. Immerhin hatte ich mich benommen, wie das letzte Arschloch. Als sie auf mich zukam, rechnete ich mit einer Ohrfeige aber sie blieb nur vor mir stehen und musterte mich, als wäre ich eine Fata Morgana. Ich lächelte sie an und bemerkte, dass sie ihre Lieblingshosen trug. Es waren dunkelgrüne, die sie immer an „Tomb Raider“ erinnerten. „Du siehst gut aus“, stellte ich nervös fest. Ja, ich war nervös. Das kam nicht so häufig vor. „Du hättest nicht damit gerechnet, dass ich noch lebe oder?“, fragte sie und grinste schief. „Tja, ich habe es ganz alleine geschafft.“ Sie ging lässig an mir vorbei und steuerte die Haustüre an. Irgendetwas war anders, sie war anders. Ich konnte sie überhaupt nicht mehr einschätzen und das machte mich noch nervöser. „Mir tut es so leid! Ich bin ein Idiot. Ich kam selbst nicht mit dem Tod von…du weißt schon…klar und brauchte einfach Zeit für mich. Außerdem wusste ich nicht, wie ich mit dir umgehen sollte. Wie gesagt, ich bin ein Idiot“, platzte es aus mir heraus und sie hielt inne. Ihr Grinsen wirkte nicht glücklich, eher bedrohlich. „Sie ist Tod“, sagte sie monoton. „Daran lässt sich nichts mehr ändern. Menschen leben, Menschen sterben. Menschen verlassen dich, immer und immer wieder. Das ist der Kreislauf des Lebens.“ Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. „Honey“ nahm ihre Hausschlüssel und öffnete die Türe. Dabei rechnete ich fest damit, sie würde mich einfach draußen stehen lassen. „Komm rein, ich mach uns Kaffee.“ Sie hielt mir tatsächlich die Türe auf und machte mir keine Szene? Verdutzt ging ich ihr hinterher.

Sie stand einfach nur da und starrte die Kaffeemaschine an, während die dunkle Flüssigkeit in die Kanne tropfte. Sie sagte nichts und regte sich kaum. Ich nahm ihren Rucksack, den sie einfach im Flur hatte liegen lassen, und brachte ihn in ihr Zimmer. Ihre Großeltern waren nicht da, wie es öfters der Fall war. Als ich in ihrem Zimmer war, traute ich meinen Augen kaum. Überall lagen alte Fotos, zerrissen und bemalt. Der Hocker lag quer im Zimmer und der Schreibtischstuhl lag umgekippt daneben. Sonst lag mindestens ein Buch auf ihrem Nachttisch, weil sie immer las. Aber diesmal war kein Buch mehr zu sehen. Es sah aus, als hätte ein Tornado dort gewütet und versucht, alle Erinnerungen zu vernichten. „Ich hatte keine Zeit aufzuräumen“, hörte ich sie hinter mir sagen. Sie stand im Türrahmen und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ihre Augen starrten leer in das verwüstete Zimmer. „Der Kaffee ist fertig.“ So verschwand sie wieder in der Küche und ließ mich erschüttert zurück. Es war schlimmer, als ich gedacht hatte. Normalerweise konnte man in ihrem Gesicht alles lesen. Man konnte ihre Gefühle in ihren Augen sehen. Sie war, wie ein offenes Buch. Doch jetzt sah man nichts mehr in ihren Augen und das war gefährlich. Ich ging in die Küche und nahm mir eine Tasse mit Kaffee. Mein „Honey“ saß bereits am Küchentisch und starrte auf den Tassenrand. Lebte sie wirklich? „Meine Mom möchte mir ein Kleid für den Ball kaufen“, erzählte sie kühl, als ich mich neben sie setzte. „Habt ihr wieder guten Kontakt?“, fragte ich erleichtert. Wenigstens ein Lichtblick in ihrem Leben. „Ich war am Wochenende bei ihr“, antwortete sie. Unter normalen Umständen würde sie aufspringen vor Freude. Wie sehr hatte sie sich immer gewünscht, mit ihrer Mutter ein Ballkleid kaufen zu gehen. Doch jetzt, da saß sie nur wie versteinert neben mir, als wäre ihre Seele weit weg. „Mein Onkel hat Krebs, es sieht nicht gut aus“, unterbrach sie die Stille. Gott, gab ihr das Leben keine Pause? Doch dann fing sie wieder an zu summen und zu grinsen. Es sah so unecht aus, dass es mir das Herz brach. Ich wusste sofort, dass sie versuchte positive Gefühle zu imitieren. Sie würde nicht mehr zulassen, dass ich sie weinen sah. Ihre Augen waren nicht mal nass, sie waren einfach nur kalt. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das alles ist nicht fair“, meldete ich mich schwach zu Wort. Ein hysterisches Lachen entwich ihr. „Nein, fair war es noch nie. Aber es geht doch weiter oder nicht? Es geht immer weiter und weiter“, sang sie vor sich hin. Ich legte meine Hand auf ihre und sie ließ mich. Ihre Hand war extrem kalt und die Knöchel waren blutig. Ihre Augen blieben auf unsere Hände gerichtet, als sie sagte: „Ich will fahren, einfach nur fahren. Mein Tank ist aber so gut wie leer. Lass uns tanken und dann fahren.“
Ich nickte erleichtert, denn sie wollte etwas mit mir unternehmen. Das war schon mal ein Anfang.
Egal wie viel Benzin es mich kostete, ich musste sie wieder in die Welt der Lebenden bringen.

... link