Sonntag, 31. Juli 2016
Mysterium
Noah:
Nach der Trennung von Kürsad lebte Haylie sehr gefährlich. Ich wusste, dass er nicht aufgeben würde. Dafür war dieser Kerl einfach zu krank. Also beschloss ich Haylie das Kämpfen beizubringen. Vielleicht würde sie nicht immer weglaufen können. (…)
Wir standen auf einer großen Wiese, mitten im Wald. Es war Frühling und die Blumen bekamen hoffnungsvolle Farben. Genau die richtige Atmosphäre für sie. Sie trug eine graue Jogginghose und ein schwarzes, bauchfreies Top. Ihre Haare waren immer noch rot gefärbt, wurden aber schon länger. Da ich ahnte, dass ich sie nicht würde angreifen können, bat ich meinen Cousin Jonah mit uns zu trainieren. Ich agierte mehr als Trainer. Er hatte sich eine kurze, schwarze Sporthose angezogen und ein weißes Top. Nachdem er in Stellung gegangen war, drehte er seine schwarze Cap nach hinten und grinste Haylie an. Sie wirkte entschlossen aber doch nervös, als sie sich einige Meter vor Jonah in Position begab. Wir mussten einen Angriff von Kürsad simulieren, nur so konnten wir ihr helfen. Sie sollte nicht komplett Schutzlos sein. „Gut, fangt an. Ich muss gucken, wie du dich verhältst“, sagte ich an Haylie gewandt. Sie nickte mir kurz zu und wartete. Jonah ging auf sie los, packte sie an den Schultern und warf sie auf die Wiese. Benommen rappelte sie sich wieder auf und wollte ausholen aber dann griff Jonah nach ihrer Faust und wirbelte sie herum, sodass ihr Rücken gegen seine Brust gedrückt wurde. Wow, er legte sich wirklich ins Zeug. Keuchend versuchte sie sich aus dieser Haltung zu befreien, doch sie hatte nicht genug Kraft. Ich wollte die Simulation grade unterbrechen, als sie Jonah plötzlich in den Finger biss. Anscheinend mit voller Kraft, denn er schrie auf. Anschließend holte sie aus und stieß mit dem Knie in seine Weichteile. Der hatte gesessen! Grinsend beobachtete ich die Szene und klatschte anerkennend in die Hände. Die Kleine konnte nicht viel aber irgendwie gelang es ihr, ihn für kurze Zeit außer Gefecht zu setzen. „Das wäre der Moment, in dem ich weglaufen würde“, bemerkte Haylie erschöpft. Jonah erholte sich langsam und schaute mich mit einem schmerzverzerrten Gesicht an. „War das jetzt echt nötig? Ich krieg bestimmt nie Kinder…“, jammerte Jonah und deutete auf seinen Schritt. „Das war nötig. Du hast mich fast erwürgt“, kicherte Haylie. „Angenommen du würdest jetzt wegrennen und es wären mehrere hinter dir her…würdest du das schaffen?“, fragte ich sie ernst. Plötzlich setzte sie einen überheblichen Blick auf, der mich irgendwie beeindruckte. „Ich bin schnell, wenn ich möchte.“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich sah fragend zu Jonah, der schnell verstand und nickte. „Lauf.“ (…)
Es dauerte keine Sekunde da verschwand sie hinter den Ästen im Wald. Jonah und ich hasteten hinterher aber wir konnten sie nicht mehr sehen. Verdammt. „Wir müssen uns aufteilen. Das würden Kürsads Leute auch tun“, stellte Jonah fest.
Das war logisch, also trennten wir uns. Ich lief an dichten Bäumen vorbei, bis ich einen Ast knacken hörte. Grade, als ich mich umdrehen wollte, drückte mich jemand gegen einen Baumstamm. Haylie packte mich mit der einen Hand am Hals und hielt in der anderen einen großen Stein. „Nicht schlecht“, gab ich zu. Doch ich ließ mir das natürlich nicht gefallen. Mit einem Atemzug hatte ich ihr den Stein weg genommen und drückte sie nun gegen den Baum. „Aber du musst schnell handeln, weil du zu schwach bist, um die Waffe lange zu behalten“, ergänzte ich. (…)
Das Training dauerte noch einige Stunden. Am Ende des Tages war klar: Sie konnte viel einstecken aber leider wenig austeilen. Müde verließen wir den Wald. Auf dem Rückweg in die WG konnte sich Jonah augenscheinlich nicht mehr zurück halten. „Also…was ist dein Geheimnis? Bist du überhaupt ein Mensch?“, fragte er neugierig und musterte Haylie. Wir liefen an Geschäften vorbei, während andere Leute versuchten noch schnell einzukaufen, verstand Haylie die Frage offenbar nicht. „Was meinst du denn damit?“, wollte sie wissen. Sie sah in den Himmel. Die Dämmerung hatte schon begonnen und färbte ihn orange. „Naja du heilst sehr schnell. Ich meine, man sieht dir gar nicht an, dass du vor wenigen Monaten noch aussahst, wie Hackfleisch“, bei Jonahs Worten verzog Haylie angewidert ihr Gesicht. So ein Idiot. „Es reicht jetzt“, ermahnte ich ihn sauer. Er hob entschuldigend seine Hände. „Tut mir leid, ich meine ja nur. Und dann ist da noch die Sache mit den Gefühlen und den Träumen. Du bist echt interessant.“ Haylie versteckte ihre Hände hinter ihrem Rücken, so als würde sie dort die Antworten verbergen. Dabei knabberte sie an ihrer Unterlippe und schien über seine Worte ernsthaft nachzudenken. „Du bist bestimmt eine Superheldin“, redete Jonah ungeniert weiter und lachte. Man, wenn der einmal angefangen hatte zu sprechen, konnte keiner ihn stoppen. „Wenn ich eine Superheldin wäre, wäre ich sicher nicht so schwach“, entgegnete sie und wirkte auf einmal sehr hoffnungslos. Ich legte meinen Arm um ihre zarten Schultern und zog sie an mich. „Hey…dafür hast du jetzt uns. Du gehörst jetzt zu uns und wir passen auf dich auf“, sagte ich ruhig. Sie legte den Kopf schief, kniff ihre Augen etwas zu und biss sich wieder auf ihre Unterlippe. Damals wusste ich es noch nicht, heute weiß ich, dass sie so Gefühle lesen kann. Der Trick ist, ihr dabei nicht in die Augen zu gucken, dann kann sie gar nichts sehen. „Ich weiß nicht, ob mir das gefällt“, bemerkte sie schließlich und seufzte. „Also mir schon“, stellte ich fest. „Mir auch“, pflichtete Jonah mir bei. „Es ist cool eine Superheldin im Freundeskreis zu haben.“ Alle drei lachten aber mir war klar, dass etwas Wahres dahinter steckte. Sie war und ist heute immer noch ein einziges Mysterium.

... link