Freitag, 17. Juni 2016
Ohne Worte
Der Club bestand aus einem großen Raum mit vielen Lichtern. Jugendliche tanzten überall und drückten ihre Körper aneinander. Es roch nach Alkohol und Zigaretten. Die Musik hallte durch den Raum und dröhnte in meinen Schädel. Hier war die Party schon richtig am Laufen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menschenmasse und sah bald darauf eine Sofa-Ecke, in der man sich ausruhen konnte. Also steuerte ich ein Sofa an. Kurz bevor ich mich setzen konnte, bemerkte ich einen Jungen und ein Mädchen, die auf dem Sofa neben mir aufeinander saßen und sich gegenseitig die Zungen in den Mund steckten. Als ich erkannte, wer dort auf dem Sofa saß, gefror mir das Blut zu Eis. Marvin lag praktisch unter dem blonden Mädchen und hatte sichtlich Spaß. Meine Beine begannen rückwärts zu gehen, sodass ich gegen einen Tisch stieß. „Das ist nur ein Traum“, erinnerte mich die kleine Anastasia, die plötzlich neben mir auftauchte. „Dein Unterbewusstsein kämpft mit deinen Ängsten.“ Ich starrte weiter auf Marvin und das Flittchen auf seinem Schoß. Wieso sah ich mir das an? Damit tat ich mir nur noch mehr weh. „Das Gute an dem luziden Träumen ist, dass du sie verschwinden lassen kannst. Du musst das nicht sehen, wenn du nicht willst“, warf Anastasia entschieden ein und stellte sich vor mich, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Das kleine Mädchen, welches so aussah, wie ich. „Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren“, gab ich traurig zu. „Lass mich aufwachen.“ Anastasia nickte, schloss die Augen und bald darauf hatte sie eine Waffe in der Hand. Sie zielte direkt auf meinen Kopf. „Guten Morgen“, flüsterte sie, als sie abdrückte.

Meine Kehle schnürte sich zu, als ich aus meinem Bett sprang. Ich wollte schreien aber es gelang mir nicht. Blinzelnd sah ich mich in meinem finsteren Zimmer um und erkannte eine menschenähnliche Gestalt. Sie stand einige Zentimeter vor mir und plötzlich verspürte ich einen heftigen Druck am Handgelenk. Die Panik drohte mich zu kontrollieren. Ich rannte zum Lichtschalter und war erleichtert, dass die Gestalt verschwunden war, sobald mein Zimmer erhellt wurde. Mit einem Blick auf die Handy-Uhr stellte ich fest, dass ich sowieso in die Dusche musste, weil ich in einer Stunde zu meiner Mutter fahren würde. Meine kleinen Geschwister vermissten mich und sie konnten ja nichts für die ewigen Familien-Krisen. Also ging ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Zuerst prasselte Wasser auf meinen Körper und es entspannte mich. Doch dann sah ich auf meine Haut und stellte fest, dass ich voller Blut war. Aus dem Duschkopf kam Blut! Mein Körper war blutüberströmt. Ich stieg aus der Wanne und probierte das Blut mit einem Handtuch weg zu wischen aber nichts half. Alles war voller Blut und noch mehr Blut. Dieser kupfrige Geruch ließ mich einige Male würgen. Ich beschloss aus dem Bad zu gehen aber die Türe ließ sich nicht mehr öffnen. Benommen klopfte ich gegen das Holz und fing an zu weinen.

Ich wurde erneut in meinem Bett wach und sah mich verwirrt um. Sowas hatte ich noch nie erlebt…ein Traum im Traum. Mein Handy begann zu klingeln und ich erkannte Danas Namen auf dem Display. Erschöpft griff ich nach dem Handy und meldete mich müde zu Wort. „Wo bist du? Wir müssen schon um acht Uhr bei der Schule deiner kleinen Schwester sein, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Wir haben es versprochen“, erinnerte mich Dana gestresst. Ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor sieben Uhr morgens. Also musste ich mich wirklich beeilen, denn die Schule meiner kleinen Schwester hatte heute einen Basar, auf dem wir ebenfalls halfen. „Bin unterwegs“, gähnte ich in den Hörer und legte auf.

Dana und ich fuhren über eine Landstraße und würden in gut 15 Minuten bei meiner Mutter sein. Zugegeben, ich war spät dran aber ich hatte keine leichte Nacht gehabt. Die Sonne ging schon auf aber es war dennoch dunkler als sonst. Wahrscheinlich lag das an den vielen Wolken, die den Himmel bedeckten. Dana saß neben mir auf dem Beifahrersitz und spielte mit ihrem Handy. Sie trug eine blaue Jeans und ein dunkelgrünes Oberteil, welches ihre Figur super betonte. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden, der schon etwas auseinander fiel. Ich war extrem müde und konzentrierte mich deshalb umso mehr auf die Straße. Als ich einen Blick in den Rückspiegel wagte, sah ich es. Hinter uns stand diese dunkle Gestalt aus meinem Traum und hob eine Hand, so als wollte es mich grüßen. Ich trat auf die Bremse und schaute automatisch auf mein Handgelenk. Dort bildete sich ein blauer Fleck. Wie war das möglich? Dana suchte meinen Blick, weil sie sich grade beim plötzlichen Bremsen total erschrocken hatte. Kein Auto war zu sehen, nur die Gestalt im Rückspiegel. Ich schnallte mich ab und öffnete die Autotür. „Was soll das? Steig sofort wieder ein!“, rief Dana mir zu und schnallte sich ebenfalls ab. Ich starrte auf die Straße hinter uns aber die Gestalt war verschwunden. Dana tauchte in meinem Blickfeld auf und Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. „Träume ich, Dana? Sag mir, dass ich wach bin!“, flehte ich verzweifelt und eine Träne rollte an meiner Wange hinab. „He, was ist denn los?“, fragte Dana mitfühlend und nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Es ist doch alles gut.“ Nichts war gut. Wenn ich wirklich wach war, dann sah ich schon Dinge, ohne zu schlafen. Und wenn ich schlief, dann wurden die Träume immer realer…und das machte mir Angst.

Der Basar verlief überraschend gut, wenn man bedenkt, wie der Tag für mich gestartet war. Wir waren relativ schnell wieder bei meiner Mutter zu Hause und setzten uns dort in den Garten. Die Kinder spielten mit einer Seifenblasen-Maschine, meine Mutter und mein Stiefvater saßen auf Stühlen und unterhielten sich darüber, wieder auszuwandern und Dana und ich saßen daneben und starrten mal hierhin und mal dorthin. So ging das, bis mein Stiefvater sich näher zu mir setzte. „Ich mache dir ein Angebot“, fing er an. Was würde jetzt kommen? Seine Angebote waren nie wirklich gut. Ich sah ihn fragend an und wartete, bis er weiter sprach. „Gut, also Nemanja mag dich. Der Junge aus Serbien, wohin wir auch ziehen wollen. Du ziehst mit uns und arbeitest dort für uns. Lass dein Leben hier hinter dir und fang mit uns neu an“, schlug mein Stiefvater vor. Nicht schon wieder das Thema! Ich konnte hier nicht alles stehen und liegen lassen. Es ging einfach nicht. Alle Augenpaare waren auf mich gerichtet, auch die meines kleinen Bruders. „Ja, komm mit!“, rief er aus. „Das ist keine schlechte Idee“, bestätigte meine Mutter trocken. Sie interessierte sich sowieso nicht dafür, was genau mit mir war. „Also ist es entschieden. Du packst deine Sachen und kommst mit“, bemerkte mein Stiefvater entschlossen. Moment…nein! Ich sah verwirrt von einem, zum anderen. „Ich kann hier nicht weg“, widersprach ich entschieden. „Du hast hier noch kein Studium angefangen. Du bist also noch frei. Es gibt keinen Grund für dich, deine Familie im Stich zu lassen“, entschied mein Stiefvater. „Ja, da kannst du arbeiten“, meinte mein kleiner Bruder freudig und ignorierte nun die Seifenblasen, die im ganzen Garten umher flogen. Dana sagte nichts. Sie schaute mich an und schüttelte leicht mit dem Kopf. Was immer das auch heißen mochte. „Ich gehe hier nicht weg“, sagte ich klar und deutlich. „Sie lässt uns wieder im Stich“, unterbrach mich meine Mutter. Grade sie musste es sagen! Hatte sie mich doch damals schon im Stich gelassen, als ich noch nicht laufen konnte. „Warum machst du das?“, jammerte mein Bruder empört. Toll, jetzt waren alle gegen mich. „Ich habe einen Freund“, ließ ich die Bombe platzen. „Ich liebe ihn und werde ihn nicht zurück lassen.“ Alle waren leise.

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