Freitag, 1. Juli 2016
Prinzessin, für eine Nacht
Der weiße Umschlag wog vielleicht nicht viel…doch in meinen Händen fühlte er sich schwer an, so als wollte er mich auf den Boden der Tatsachen ziehen. Es war der Morgen nach meinem Abi-Ball. Ich saß auf der Bettkante in meinem Zimmer und starrte auf den Umschlag in meinen Händen. Meine große Schwester Lisa schlief noch tief und fest. Ich schloss die Augen und erinnerte mich an den letzten Abend, die letzte Nacht…

Ich fühlte mich wie eine Prinzessin, als mein Onkel aus seinem Auto stieg, um mir hinten die Türe auf zu machen. Meine beste Freundin Leah hatte super Arbeit geleistet, als sie mich für diesen Abend geschminkt hatte. Vorsichtig stieg ich aus dem Auto, denn ich wollte mein langes Ballkleid nicht dreckig machen. Mein Ballkleid war hell-rosa und passte mir perfekt, nachdem meine Schneiderin es etwas gekürzt hatte. Dazu trug ich hohe Schuhe und eine schöne Clutch-Tasche. Meine Haare fielen mir wellig auf die Schultern. Alles in allem, war ich sehr zufrieden mit mir. Mein Onkel, seine neue Freundin und meine Oma bestaunten mich wortlos und bahnten sich dann einen Weg durch die anderen Gäste, um in den Saal zu gelangen. Es war noch spät am Nachmittag, weshalb die Sonne schien. Meine Schwester hastete hinter, damit sie ihnen helfen konnte. Ich begrüßte einige Schulfreunde von mir und wollte grade in das Gebäude gehen, als mich jemand aufhielt. „Siehst gut aus, Honey“, hörte ich eine männliche Stimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und musste lächeln. Noah stand auf dem Parkplatz und lehnte gegen sein schwarzes Auto. Er sah nicht so aus, als würde er zum Ball kommen wollen, denn er trug ein schlichtes, schwarzes Shirt und eine dunkelgrüne Hose. Als würde er gleich zur Armee gehen. „Was machst du denn hier?“, fragte ich ihn überrascht, als ich bei ihm ankam. Mit diesen hohen Schuhen dauerte es etwas länger. „Ich wollte dir auch gratulieren. Du hast es echt weit geschafft.“ Grinsend klatschte er kurz in die Hände und musterte mich. Dabei wurde sein grinsen zu einem schwachen Lächeln, bis es ganz verschwand. „Heute vor einem Jahr warst du noch ganz verzweifelt und fragtest mich, ob du nach der Sache mit Eric jemals wieder jemand anderen würdest lieben können. Und jetzt guck dich an...du hast es geschafft. Wenige haben damit gerechnet aber du hast es allen gezeigt“, stellte er fest. „Sieht wohl so aus. Danke, dass du gekommen bist“, erwiderte ich freundlich. Keiner sagte mehr etwas, bis Noah sich räusperte. „Gut, also ich wollte dir etwas geben.“ Noah kramte in seiner Gesäßtasche und reichte mir schließlich einen weißen Umschlag. Ich nahm ihn und sah dann fragend zu Noah. „Das ist sozusagen eine Einladung von meinen Eltern aus Amerika. Du kannst für ein halbes Jahr dorthin, wenn du willst. Dann kriegst du etwas Abstand von all deinen Problemen. Am besten, du fliegst im Sommer. Dann kommst du zur Tornado-Saison und kriegst dein Bild…“, erklärte er. Ungläubig starrte ich auf den Umschlag. Nach Amerika? Für ein halbes Jahr? Klar, es war mein Traum einen Tornado zu fotografieren. Wenn ich etwas besser in Naturwissenschaften wäre, würde ich etwas in der Art studieren. Ich würde helfen ein Frühwarnsystem zu entwickeln und somit tausende von Menschenleben retten. Doch das fand nur in meiner Fantasie statt. Das hier war das wahre Leben. Enttäuscht schaute ich Noah in die Augen. Er sah aus, wie ich mich fühlte. „Ich kann nicht einfach weg fliegen. Schon allein wegen Marvin…“, bemerkte ich traurig und wollte ihm sein Geschenk zurück geben. „Nein, behalt es…vielleicht denkst du nochmal darüber nach. Aber nicht heute. Heute sollst du einen schönen Abend haben. Trink aber nicht so viel“, bat er mich. Man merkte, dass er seine Selbstbeherrschung trainiert hatte. Damals wäre Noah in dieser Situation ausgerastet. Er atmete durch und beugte sich zu mir, um mich zu umarmen. Danach öffnete er seine Auto-Türe. „Willst du vielleicht ein Glas mit mir trinken? Wir stoßen an“, bot ich an und deutete auf den Eingang. „Nein Honey, ich trinke nicht mehr, wenn ich traurig bin“, sagte er und lächelte schwach. „Aber sonst trinkst du noch?“, hakte ich überrascht nach. Noah hielt inne und senkte den Blick. „Ich glaube, wenn ich mich an diese Regel halten möchte, muss ich ganz aufhören Alkohol zu trinken.“

Der Saal war riesig und schön geschmückt. Überall standen Gruppen von Schülern, die sich mit ihren Familienmitgliedern unterhielten. Ich steckte den Umschlag in meine Clutch und steuerte den Tisch an, an dem meine Leute saßen. (…)
Der Abend verlief gut. Das Essen war sehr lecker und das Programm in Ordnung. Im Laufe des Abends wurden viele Bilder geschossen. Meine Schwester Lisa sah auch wunderschön aus. Sie trug ein weinrotes Kleid, welches ihr bis zu den Knien ging. Ihre schwarzen Haare waren auch wellig. Ähnlich wie meine. Gegen zehn Uhr abends verließen die älteren Gäste den Saal, weil die richtige Party los ging. Auch meine Familie verabschiedete sich, bis auf meine Schwester. Wir suchten uns einen Platz direkt an der Tanzfläche. Alle saßen auf ihren Plätzen und trauten sich nicht zu tanzen. Das war wieder so typisch. Der DJ legte ein Lied nach dem anderen auf. Also lag es jedenfalls nicht an ihm. Die Tanzfläche leuchtete in verschiedenen Farben…sie lud mich quasi ein. Lisa mochte es wirklich nicht zu tanzen…vor allem nicht, wenn jeder sie sehen konnte. Deshalb nahm ich eine Schulfreundin an die Hand und schleifte sie auf die Tanzfläche. Wir bewegten uns übertrieben zur Musik und zogen alle Blicke auf uns, bis wir Gesellschaft bekamen. Nach und nach füllte sich die Tanzfläche. Zufrieden kickte ich meine Schuhe unter meinen Stuhl und begann barfuß zu tanzen. Meine Schwester unterhielt sich währenddessen mit Schulfreunden von mir und passte auf unsere Taschen auf. Immer wieder drückte mir eine andere Freundin oder ein anderer Freund, ein Glas in die Hand. Je mehr ich an meine Zukunft dachte und an den Umschlag in meiner Tasche, desto mehr brauchte ich Alkohol. Außerdem sollte dieser Abend schön werden. Kopf aus, Musik an! (…)
Stunden vergingen und irgendwann stießen Marvin und seine Freunde dazu. Ich freute mich, dass er gekommen war. Er setzte sich zu meiner Schwester und sprach mit ihr. Ich war so vertieft in das Tanzen, dass es mir grade recht kam. So konnten sie sich wenigstens besser kennen lernen. Eine ehemalige Schulfreundin, Vivien, setzte sich an den gleichen Tisch und unterhielt sich mit ihrem Freund, auf dessen Schoß sie saß. Während ich mit meinen Schulfreunden tanzte, warf ich immer mal wieder einen Blick auf meine Leute, um zu gucken, ob es ihnen gut ging. Egal, wie viel Alkohol ich intus hatte, ich hörte nie auf, mich um meine Leute zu kümmern. Das mochte ich an mir selbst. Vivien stand bei Marvin und flüsterte ihm etwas ins Ohr, dann erhob er sich und ging mit ihr weg. Abrupt hörte ich auf zu tanzen und stieß gegen Jonas, der wie wild am tanzen war. Ich bekam ein komisches Gefühl im Magen, so als würde er sich zusammen ziehen. Meine Schwester bemerkte die Situation und kam auf mich zu. Ich sah zu unserem Tisch, an dem der Freund von Vivien saß, der mich schon die ganze Zeit widerlich beäugte. Er zwinkerte mir seltsam zu, als sich unsere Blicke trafen. Mir wurde übel und ich wandte mich schnell meiner Schwester zu. Irgendetwas stimmte nicht. Die Musik war so laut, dass meine Schwester dicht an mein Ohr kommen musste, um etwas zu sagen. „Soll ich hinterher gehen? Bleib ruhig, ich mache das schon“, rief sie. Anstatt etwas zu sagen, nickte ich dankbar. Meine Schwester lächelte matt und ging in die Richtung, in der Marvin zuvor mit Vivien verschwunden war. Perplex blieb ich stehen, wie erstarrt. Meine Freundin Denise kam auf mich zu und sah mich mitfühlend an. „Was geht denn da ab?“, schrie sie über die Musik hinweg. „Ich weiß auch nicht, was das soll…“, gab ich zurück. Kurze Zeit später kam meine Schwester zurück und setzte sich auf ihren Stuhl, alleine. Sie suchte meinen Blick und zuckte ratlos mit den Achseln. Denise wirkte angespannt. „Sollen wir gucken gehen? Das macht man doch nicht!“, brüllte sie. Wütend rümpfte ich die Nase. Marvin war wegen mir dort und ging alleine mit dieser fragwürdigen Person weg. „Danke! Lass uns gucken!“ Denise ging voran. Mühsam bahnten wir uns einen Weg durch die Masse, die immer betrunkener wurde. Plötzlich packte mich jemand an der Hand. Jonas tanzte mich an und näherte sich meinem Ohr. „Hast du eigentlich einen Freund oder habe ich noch eine Chance?“, wollte er lallend wissen. Ich grinste ihn an, denn ich wusste, dass er mich nur so plump anbaggerte, weil er besoffen war. „Du bist voll, deshalb fragst du. Trink nicht so viel!“, wies ich ihn an und löste mich aus seinem Griff. Denise und ich kamen schließlich an der Bar an, an der ich Marvin und Vivien erkennen konnte. Gab er ihr jetzt etwas aus? Nachdem sie…was auch immer gemacht hatten? Vielleicht war es der Alkohol, der mich antrieb aber das war mein Abend. Den wollte ich mir nicht versauen lassen. Schon allein, wie Vivien gekleidet war. Kürzer ging der Rock nun wirklich kaum. Denise war mir dicht auf den Versen, als ich zu den Beiden ging und sie, bei was auch immer, unterbrach. „Gibt’s hier ein Problem?“, fragte ich mehr als aggressiv. Vivien zuckte ängstlich zurück und ihre Augen weiteten sich. Gut, sie hatte zumindest Respekt vor mir. Das sollte sie auch haben. „Nein…wieso denn?“, stotterte sie. Ich hätte so vieles sagen oder machen können…aber ich bemerkte den besorgten Blick von Denise. Wir wollten einen schönen Abend haben. „Ich wollte nur fragen, ob es hier ein scheiß Problem gibt?“, knurrte ich wütend, dabei warf ich Vivien einen finsteren Blick zu. Marvin konnte ich nicht ansehen, denn ich war viel zu enttäuscht. Sonst wäre ich echt aus der Haut gefahren. Bevor ich die Fassung verlor, griff ich nach der Hand von Denise und ging zurück auf die Tanzfläche. (…)
Die ganze Nacht tanzte ich und ignorierte jedes Problem. In dieser Nacht sollte es nur mich und meinen Erfolg geben. Es sollte nicht, wie jedes Mal, in einem Drama enden. Diese Nacht hatte ich mir verdient. Die Sache mit Marvin beruhigte sich im Laufe des Abends, denn Vivien hielt sich nun fern. Gut, sie hatte Angst. Zufrieden bewegte ich meinen Körper zu der Musik. Auch, wenn es viele Komplikationen gab, war diese Nacht perfekt. Früh morgens gingen wir ins Bett und ich schlief mit einem Lächeln ein.

Leise schlich ich mich aus meinem Zimmer, denn ich wollte meine Schwester nicht wecken. Ich ging in das Schlafzimmer meiner Großeltern, denn dort hing ein riesen Bild vom letzten Abendmahl. Jesus saß mittig am Tisch, während die Jünger zu ihm sahen. Dieses Bild war mir sehr wichtig, denn hier konnte ich in Ruhe beten. Als ich so durch die Wohnung tapste, bemerkte ich, dass meine Füße weh taten und blutig waren. Anscheinend hatte ich sehr viel getanzt. Das war nicht schlimm. Es zeigte mir, dass ich die Nacht nicht geträumt hatte...dass ich wirklich eine Prinzessin war, wenn auch nur für eine Nacht. Ich kniete mich auf den Boden vor dem Bild und faltete meine Hände ineinander. Gut, dass meine Großeltern nicht zu Hause waren, so hatte ich Raum. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes…bitte, erhöre mich…“ (…)
Nach meinem Gebet versteckte ich den Umschlag im Schlafzimmer-Schrank und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Ich würde hier keinen im Stich lassen und einfach weg fliegen. Aber allein die Möglichkeit, alles hinter mir lassen zu können, beruhigte mich. Jedes Schiff braucht ein Rettungsboot. Vor allem, so eine Titanic, wie ich es bin.

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