Freitag, 1. Juli 2016
Priorität
Der Moment der Wahrheit war gekommen. Jetzt würde sich zeigen, ob das Brücken-Training mit all meinen Freunden was gebracht hatte. Ich stand mit meinem Arzt Dr.Görgels und meinen Freunden Dana und Noah am Rand der Brücke. Auf der Brücke konnten sowohl Autos fahren, als auch Fußgänger gehen. Es war ein bewölkter Vormittag. Hin und wieder tropfte der Regen auf meine Stirn. Nervös trat ich von einem Fuß, auf den anderen. Der Arzt hatte mir ein Pulsmessgerät an mein linkes Handgelenk gebunden, um zu gucken, was die Angst in mir auslöste. Keiner sprach ein Wort. Alle schauten mich erwartungsvoll an. Ich sollte den ersten Schritt gehen. Meine Höhenangst war echt extrem aber ich konnte es mir selbst nicht erklären. Sobald meine Füße registrierten, dass sie nicht mehr unter festem Boden standen, war es vorbei. Dann war ich, wie gelähmt. Ich starrte auf den Fußweg der Brücke und auf das dünne Geländer, welches mich von der Tiefe und dem Wasser unter der Brücke trennte. Eigentlich war ich vor kurzem über genau diese Brücke gegangen. Ein Freund von mir, Luca, hatte mich mit Musik von *The Fray* dazu gebracht, zweimal über diese Brücke zu laufen. Viele Menschen unterschätzen die Kraft der Musik. Durch die Musik konnte ich meine Panik tatsächlich soweit kontrollieren, dass meine Beine nicht nachgaben. An diesem Tag war ich so stolz auf mich gewesen. Aber jetzt war es anders, jetzt hatte ich keine Musik. Und eigentlich sollte ich es auch ohne Musik können. Mein Hals wurde nur vom Anblick dieser Brücke trocken. Als ich schluckte, brannte meine Kehle. Die Panik schlich von den Zehenspitzen, bis zu meinen Haarwurzeln. Noah beäugte mich wissend und setzte sich schließlich in Bewegung. Er schlenderte an uns vorbei und ging bis zum anderen Ende der Brücke. Dort blieb er stehen, steckte seine Hände in die Jeanstaschen und zwinkerte mir zu. „Wir können es in Etappen machen“, rief er uns zu. Der Arzt nickte und schrieb es auf sein Klemmbrett, welches er festhielt, als stünde dort die Lösung für mein Angst-Problem. Wahrscheinlich zeichnete er bloß Strichmännchen, die sich erhängten. Kichernd über diesen Gedanken, sah ich zu Dana, die sich ebenfalls auf den Weg machte und bis zur Mitte der Brücke lief. Als sie da ankam, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Geländer und strich sich über ihre schwarzen, engen Hosen. Dazu trug sie eine weiße Bluse, die ihr oben herum etwas zu eng war. Ihre roten Haare hingen in Locken auf ihrem Rücken. Ich sah zum Arzt, auf dessen Stirn sich ein Schweißfilm bildete. Verständlich, denn er trug einen Pullunder, obwohl es recht warm war. Er sah mich auffordernd an und deutete auf meine Freunde. Gut, es war soweit. Ich versuchte die Angst runter zu schlucken und setzte meine Beine in Bewegung. Jedoch kam ich nur bis zu Dana. Meine Finger krallten sich panisch in ihren Oberarm, während ich geschockt über das Geländer sah. Das trübe Wasser unter der Brücke verschwamm und meine Ohren piepten. Dana bewegte ihren Mund, also sprach sie…aber ich konnte kaum etwas verstehen. Mein Kopf wandte sich zu meinem Arzt, der energisch Notizen machte und dann zu mir guckte. „Wovor hast du jetzt genau Angst? Du bist doch schon über diese Brücke gegangen. Das hast du mir erzählt, weißt du noch?“, fragte mich der Arzt, der immer näher zu uns kam. „Ja…da hatte ich Musik“, stotterte ich verzweifelt. Dana seufzte und strich mit ihren Händen über meine Oberarme. „Wir haben jetzt aber keine Musik hier. Willst du zurück gehen?“, wollte der Arzt von mir wissen, der jetzt direkt neben mir stand. Seine Stimme klang ruhig und es lag kein Vorwurf darin. Generell waren alle sehr geduldig mit mir und meiner Angst. Ich wollte mich umdrehen und mit dem Arzt zurück gehen. „Some sort of window to your right, as he goes left and you stay right…“, begann Noah vom anderen Ende der Brücke zu singen. Er schrie es mehr, als er wirklich sang. Überrascht drehte ich mich um und starrte grinsend in seine Richtung. „Between the lines of fear and blame, you begin to wonder why you came!“, setzte Dana ebenfalls ein und lächelte breit. Jetzt fingen sie auch noch an *How to save a life* von *The Fray* zu trällern! Lachend sah ich zum Ende der Brücke und wusste, ich konnte es schaffen. Meine Beine fühlten sich zwar an wie Pudding aber ich musste einfach dagegen ankämpfen! „Where did I go wrong? I lost a friend…somewhere along in the bitterness…“, sang ich nervös und ging auf Noah zu. Mir wurde schlecht. Zwischenzeitlich hatte ich sogar Angst mich zu übergeben. Aber ich lief weiter. „And I would have stayed up with you all night“, stieg Noah wieder ein und ermutigte mich. Es waren nur noch wenige Schritte. „Had I known how to save a life!“, sangen wir beide, als ich endlich auf der anderen Seite der Brücke ankam. Überglücklich schaute ich zurück. Dana klatschte freudig in ihre Hände und strahlte mich an. Der Arzt nickte und lächelte zufrieden. Noah hielt mir seine Handfläche hin, damit ich abklatschen konnte. „Du liebst also immer noch *The Fray*“, bemerkte Noah belustigt. Er lachte kurz aber man merkte, dass etwas anders war, als sonst. Konnte man ihm das verübeln? Wahrscheinlich nicht. „Das hat auch geklappt, als ich einmal mit Luca über die Brücke gelaufen bin. Unfassbar“, stellte ich fest. Ich war erleichtert aber auch erschöpft. Die Angst auszublenden kostet mich sehr viel Kraft. Mein ganzer Körper steht dann unter Strom.

Zurück in der Arztpraxis wertete der Arzt meine Pulsmessungen aus. Dana und Noah warteten im Wartezimmer. Dr.Görgels führte mich durch einen schmalen Flur, zu seinem Sprechzimmer. Das Sprechzimmer war sehr hell und ein großer, weißer Tisch stand mitten im Raum. Ich setzte mich auf einen Stuhl vor den Tisch und wartete. Dr.Görgels kramte die Unterlagen hervor und legte sie vor sich, nachdem er sich gegenüber von mir hingesetzt hatte. Seine dunklen Haare bekamen schon einen grauen Ansatz und er hatte sich schon einige Tage nicht mehr rasiert. Tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Dabei war doch alles gut gelaufen. „Deine Angst ist sehr…sehr enorm“, fing der Arzt an. „Ich habe selten so eine Kurve gesehen, wie bei diesen Messungen. Dein Puls geht schon über 180. Dein Körper reagiert extrem panisch. Ein Wunder, dass du nicht umgekippt bist.“ Naja, dass ich Angst hatte, wusste ich bereits. Fragend sah ich den Arzt an. Er legte seine Unterlagen weg und schaute mir in die Augen. „Weißt du eigentlich, wie stark du bist? Wirklich. Es reicht schon etwas Musik und du hast schon die Kraft gegen sowas Starkes anzukämpfen. Das ist beeindruckend und damit kann ich arbeiten. Wir kriegen das schon irgendwie hin“, versicherte mir der Arzt zuversichtlich. Offen gestanden war ich ziemlich stolz auf mich. Die Höhenangst belastete mich schon sehr lange. Vielleicht war ich stark genug, um diesen Kampf zu gewinnen.

Noah und Dana brachten mich nach Hause und begleiteten mich in meine Wohnung. Während Dana total ausgelassen war, schien Noah mit seinen Gedanken woanders zu sein. Sobald wir in der Wohnung ankamen, verschwand er in der Küche und setzte sich dort auf einen Stuhl. Dana sah besorgt zu ihm rüber und atmete durch. „Lass ihn…er kriegt sich wieder ein. Diese ganze Geschichte zwischen euch belastet ihn eben“, erklärte sie mitfühlend. Ich ließ meine Schultern hängen, denn ich wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte. Immerhin hatte ich ihm so vieles zu verdanken. Dana und ich zogen unsere Schuhe aus und gingen durch den kleinen Flur. Mein Zimmer war auch sehr klein…aber das machte nichts. Ich war sowieso selten zu Hause. Sie warf sich sofort auf mein kleines Bett und streckte ihre Füße, wie eine Katze ihre Pfoten. „Findest du, du hast mit Marvin die richtige Entscheidung getroffen? Immerhin hast du ihn in dein Leben gelassen und du weißt, wie es enden kann.“ Dana warf einen Blick auf mein Ouija-Brett, welches neben dem Fernseher stand. Klar, unsere Leben hatten sich in den letzten Jahren echt verändert. Und es geschahen auch seltsame Dinge. Doch ich wollte glücklich werden…mit Marvin. Unsicher starrte ich auf das Brett. „Es sind wirklich komische Dinge passiert…aber ich mache mir deshalb keine Sorgen. Es gibt andere Dinge, die mir Sorgen bereiten“, gestand ich nachdenklich. Dana setzte sich in eine Schneidersitz-Position und tippte auf die Bettdecke, damit ich mich neben sie setzte. Mit Noah rechneten wir beide nicht mehr. Das war vielleicht auch besser so. „Ich habe dir von seiner Drogen-Sucht erzählt…“, begann ich die Story. „Er hat wieder angefangen?“, schnitt mir Dana das Wort ab. „Nein, das ist es nicht. Also ich denke, er nimmt keine Drogen mehr. Aber seine Freunde machen das noch und seine Einstellung dazu ist auch nicht von schlechten Eltern.“ Ich zuckte ratlos mit meinen Achseln und schaute auf meine Fingernägel. „Das hört sich an, wie ein zweiter Kürsad“, entgegnete Dana besorgt. „Niemand ist so, wie Kürsad. Nein…aber weißt du? Ich habe es satt, um die Jungs zu kämpfen. Marvin wird alleine in den Urlaub fliegen und das mit seinem Kumpel, der bestimmt auch Drogen nimmt. Er trinkt Alkohol und allein der Geruch…der Geruch verführt mich. Ich will nicht, dass es so endet, wie damals. Ich brauche jemanden, der mich unterstützt. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin…für so eine Beziehung. Ich bin doch selber viel zu kaputt, um eine Suchtberatung zu spielen“, erzählte ich entsetzt. Ja, diese ganze Geschichte belastete mich sehr. Mein größter Wunsch war, eine normale und erwachsene Beziehung zu führen. Dana sagte nichts, also fuhr ich fort. „Und natürlich darf ich mich jetzt nicht mehr mit den Jungs treffen. Mit Jonah…Henry, Nick oder Enrico. Oder sonst irgendwen von meinen männlichen Freunden.“ Mein Blick wanderte von meinen Fingernägeln, zum Türrahmen, an dem Noah lehnte. „Auch nicht mit Noah?“, fragte er vorwurfsvoll. Ich schüttelte leicht den Kopf. Nein, auch nicht mit ihm. „Verstehe.“ Noah wandte seinen Blick ab und starrte verächtlich auf den Boden. Man sah ihm an, dass er sich zusammenreißen musste, nichts Blödes zu sagen. „Das kannst du nicht machen“, murmelte Dana. „Du kannst das nicht tun!“ Sie stand auf und stellte sich neben Noah. Auch in ihrem Blick lag etwas Verletztes. „Ich tue es für Marvin. Er braucht meine volle Aufmerksamkeit“, sagte ich schwach. Das war keine Ausrede dafür, dass ich meine Familie im Stich ließ. „Ja? Er hat sie doch längst! Du bist fast nur bei ihm! Er hat dir die Aufgabe gegeben, seine Drogen Probleme zu tolerieren oder am besten noch in den Griff zu bekommen. Das hast du gemacht. Dann meinte er, du sollst nicht mehr alleine auf Partys gehen. Schade, aber ok. Und jetzt willst du auch noch den Kontakt zu all den Menschen abbrechen, die für dich da waren, als du am Boden lagst und dich sogar umbringen wolltest? Und was gibt er dir? Was tut er?“, fuhr mich Dana empört an. Sie war mehr als wütend. Ihre Nasenlöcher bebten schon und ihre Wangen wurden rot. Es tat mir selbst weh aber ich wollte der Sache mit Marvin eine Chance geben. „Er ist sehr süß zu mir. Er kümmert sich…“, wollte ich sagen aber Dana hob die Hand. „Er trinkt weiterhin Alkohol mit anderen, obwohl er das selbst von dir nicht möchte. Wahrscheinlich nimmt er immer noch Drogen aber das sei mal dahin gestellt. Und, er fliegt einfach ohne dich in den Urlaub, weil ihm sein Kumpel wichtiger ist. Und was machst du hier? Du opferst alles. Ich habe dich immer verstanden aber jetzt geht’s mir zu weit.“ Dana stampfte Richtung Flur und man hörte, wie sie sich ihre Schuhe anzog. Ich traute mich gar nichts mehr zu sagen, denn sie hatte Recht. Ich hatte mich verändert und so vieles aufgegeben. Wie sollte es weiter gehen? Noah räusperte sich. „Ich mische mich da nicht ein, weil es nicht fair von mir wäre. Aber eine Beziehung läuft so nicht. Du bist nicht glücklich.“ Ich stand auf, denn ich wollte beide zur Tür bringen. Es reichte mir. Sowas wollte ich nicht hören. „Es liegt nicht an ihm“, flüsterte ich, als ich an Noah vorbei hastete. „Sondern an dir? Das glaubst du wohl selbst nicht“, gab Noah zurück. Dana stand bereits an der Türe, bereit zum gehen. Ihre Miene wirkte versteinert. „Es tut mir leid…“, hauchte ich. „Mir auch. Ich hoffe, er ist es wert.“ Dana schaute an mir vorbei auf den Boden. „Wir können uns ja treffen…nur mit den Jungs ist es kompliziert…“, versuchte ich die Situation zu retten. Noah öffnete die Wohnungstüre. Das erste Mal sah er mir echt und lange in die Augen. In seinen blauen Augen sah ich so viel Schmerz, dass ich es kaum verkraften konnte. „Ich werde unsere Gruppe nicht spalten. Werde glücklich mit ihm. Ich hoffe ehrlich, dass er es ernst mit dir meint und dass du es überlebst“, verabschiedete sich Dana und schloss die Türe hinter sich. Dana würde sich wieder beruhigen aber die Worte saßen tief in meinem Herzen.

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