Sonntag, 10. Juli 2016
Rausch
Die Jugend ist sehr gefährlich, denn grade in dieser Zeit begehen Menschen viele Fehler. Ist ein Jugendlicher auch noch auf sich allein gestellt, kann es sein, dass dieser vollkommen den Bezug zur Realität verliert. Ich habe diesen Bezug auch verloren…und es hat lange gedauert, bis ich wieder ich selbst war. (…)
Es war späte Nacht, mitten in der Woche. Normalerweise hätte ich schon längst zu Hause sein sollen. Doch mein Rausch beherrschte mich. Meine „neue Familie“, so wie ich sie nannte, war nun der Mittelpunkt meines Lebens. Wozu noch zur Schule gehen? Wozu nach Hause gehen, wenn dort sowieso keine Eltern auf mich warten? Betrunken schwankte ich in das Badezimmer meiner Freundin Anna. Sie besaß ein großes Haus, indem wir eine riesen Party schmissen. Ich schloss die Badezimmertüre und lehnte mich mit den Händen gegen das Waschbecken. Im Spiegel nahm ich mich nur noch verschwommen war. Die Welt um mich herum schien sich langsamer zu drehen, als sonst. Benommen drehte ich am Wasserhahn und zuckte zusammen, als das kühle Wasser über meine Handgelenke lief. Die Badezimmertüre öffnete sich wieder, während ich meine roten, kurzen Haare nach hinten strich. Anna lehnte sich gegen den Türrahmen und grinste mich an. Sie hatte blondes, langes Haar und blau-graue Augen. Ihre Hosen waren sehr eng und kurz. Auch ihr Top ließ nicht viel Spielraum für die Fantasie. „Kannst du nicht mehr?“, fragte sie mich mehr belustigt, als besorgt. Ich taumelte etwas nach hinten und zuckte mit den Achseln. Niemals wollte ich zugeben, dass ich jetzt schon schlapp machte. Einmal im Leben wollte ich dazu gehören. „Ich hab hier was“, sagte Anna und schloss die Türe hinter sich. Sie kramte in ihrer Hosentasche und hielt mir eine blaue Tablette hin. Misstrauisch starrte ich auf diese Droge. „Das ist normal. Du wirst Erwachsen“, lallte Anna auffordernd. Eine Stimme in mir schrie, ich solle wegrennen und nie mehr in dieses Haus kommen. Doch sie konnte mich nicht mehr aufhalten. Wie ferngesteuert nahm ich die Pille und schluckte sie runter. Filmriss (…)
Was danach kam, waren nur noch verschwommene Bilder. Meine Möchtegern-Familie und ich setzten uns in den großen Garten auf die Wiese. Viele von den Jungs begannen verschiedene Dinge zu rauchen. Meine Welt drehte sich wieder schneller, zu schnell. Henry kniete sich neben mich und hielt mir eine Thermoskanne hin. „Was´n das? Tee?“, wollte ich wissen. Er nickte, nahm den Deckel ab und füllte die warme Flüssigkeit hinein. Anschließend reichte er mir den Deckel, der offenbar auch als Tasse gut zu gebrauchen war. Egal, wie benebelt ich war, ich wusste, dass Henry mir keinen normalen Tee geben würde. „Kamille?“, scherzte ich und schaute skeptisch auf den Tee. Er fing an zu lachen und schüttelte den Kopf. „Pilze.“ Mir wurde schlecht. Allein das Wort drehte meinen Magen um. „Hör zu, wir schlafen heute alle hier. Wir können uns also später ein Bett teilen“, schlug Henry vor und rückte näher an mich. Meine Alarmglocken meldeten sich endlich, weshalb ich weg rutschte. Doch er ließ nicht nach, und rückte immer näher. Ich stieß ihn leicht weg, dabei goss ich mir den heißen Tee auf meine nackten Oberschenkel, denn ich trug eine kurze Hose. Kreischend sprang ich auf. Ich tat das, was ich schon den ganzen Abend hätte tun sollen. Wackelig aber entschlossen, lief ich los. (…)
Je länger ich lief, desto mehr kam ich zu Bewusstsein. Meine Füße trugen mich durch die engen Straßen der Stadt. Die Nacht schien noch dunkler und kälter zu sein, als normalerweise. Kurz nach dem Marktplatz fiel ich auf den steinigen Boden. Schmerzerfüllt drehte ich mich auf den Rücken. Tränen brannten in meinen Augen, die schon so viel gesehen hatten, dass sie am liebsten die Bilder wegspülen wollten. Mein verschleierter Blick fiel auf das Gebäude neben mir. Die Kirche. Erschöpft rappelte ich mich wieder auf und ging auf den Eingang zu. Natürlich war dieser abgeschlossen, weshalb ich mich auf die breiten Treppen davor setzte. Wo sollte ich hin? Mit wem sollte ich sprechen? Eine Person kam auf mich zu, die ich erst erkannte, als sie an einer Straßenlaterne vorbei lief. „Da bist du ja!“, rief Anna aus und setzte sich neben mich. Sie sah sich um und bemerkte die Kirche, vor der wir saßen. „Willst du jetzt schon beichten gehen?“, fragte sie sarkastisch. „Wir versinken immer tiefer in diesem Trott“, stellte ich verzweifelt fest. Anna war in ihrem Rausch und schon so weg, dass sie nur die Hälfte von meinen Worten wahrnahm. Man erkannte es an ihrem leeren Blick. „Wir haben doch nur Spaß“, kommentierte sie meine Sorge. „Wovor hast du Angst? Vor deiner Familie? Bedenke, was sie dir angetan haben! Was alle dir angetan haben!“ In dem Moment schlenderte Henry zu uns und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Anscheinend hatte Anna ihm geschrieben, wo wir waren. Woher sonst sollten alle wissen, wo ich mich befand? „Komm, das grade war nicht so gemeint. Lass uns einen Tee trinken gehen“, schlug er vor. Anna nahm meine Hand und zog mich von der Kirche fort. Sie zog mich von mir selbst fort.

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