Montag, 15. Februar 2016
Schmerz
Schmerz.
Ich gewöhne mich nicht daran und es wird auch nicht besser. Eine "nicht-organische-Krankheit" zu haben ist problematischer, als zuerst gedacht. Der Arzt sagte zu mir, meine Krankheit wäre wie ein Selbstzerstörungsknopf. Je schlechter es mir seelisch ging, desto schlechter ging es mir auch gesundheitlich.

Nach einem heftigen Streit mit meiner Familie flüchtete ich zu meiner Freundin Zeynep. Sie wohnte mit Noah und Jonah in einer WG und ich wusste nicht, wohin ich sonst sollte. Manchmal braucht man eben etwas Abstand von bestimmten Menschen. Einfach um wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
Ich packte also meinen Rucksack und fuhr zu ihr. Es war Sommer, deshalb war es immer noch hell, als ich Abends bei ihr ankam.
Die WG war viel größer, als meine Wohnung und auch Zeyneps Zimmer war breiter, als meins.
Sie hatte ein großes Bett, eine weiße Couch mit dazu passendem Tisch. Und obwohl im Wohnzimmer auch einer stand, befand sich in dem Zimmer ebenfalls ein Fernseher. Ihr Zimmer war in weiß-lila gestaltet und einfach nur wunderschön. Ein moderner Mädchentraum eben.
Ich legte meinen Rucksack neben die Couch. Zeynep und ich sprachen den ganzen Abend über unsere Probleme und irgendwann schliefen wir ein.

Auftritt: Der Schmerz.
Ein Messer...ein Stich. Es fühlte sich an, als würde mich grade jemand erstechen. Panisch riss ich meine Augen auf und keuchte. Mein Magen zog sich zusammen und schmerzte, als würde mich jemand ohne Betäubung operieren. Ich bekam keine Luft und fiel von der Couch, auf der ich eingeschlafen war. Die Digitaluhr neben Zeyneps Fernseher erhellte den dunklen Raum. Es war 03:15 Uhr Morgens und Zeynep schlief seelenruhig in ihrem Bett. Ich versuchte aufzustehen aber meine Beine fühlten sich an wie warmer Pudding. Also begann ich mich mit den Händen in den Flur zu ziehen und versuchte dabei bei Bewusstsein zu bleiben.
Meine Freunde kannten diese Anfälle nicht...es war mir unangenehm. Keiner sollte mich jemals so sehen. Deshalb versuchte ich möglichst leise zu keuchen, damit Zeynep nicht wach wurde. Der Flur der WG war lang und um in das Bad zu kommen, musste ich durch die Küche. Hoffentlich schliefen alle und niemand war mehr dort. Kriechend gelang ich zur Küche und der Schmerz wurde immer heftiger. Mit meiner letzten Kraft stieß ich die Türe des Badezimmers auf und erreichte grade rechtzeitig die Toilette, bevor sich mein gesamter Mageninhalt entleerte. Schöne Umschreibung für´s kotzen...
Von da an wurde mein Körper immer schwächer.
Ich zog mich zurück zur Küche. Die kalten Fliesen sorgten für eine Gänsehaut auf meinen nackten Armen. Generell war mir plötzlich eiskalt und ich wünschte, ich hätte nicht nur Boxershorts und T-Shirt an. Mein Körper sackte zusammen und ich fiel auf den Boden. Mehrere Male versuchte ich mich wieder aufzurichten, dabei tropfte Blut auf den Boden. Nasenbluten, auch das noch.
Da gab ich auf und blieb liegen...es ging einfach nichts mehr. Der Schmerz hatte mittlerweile aufgehört. Trotzdem war ich unfähig mich zu bewegen.
"Was zum...", hörte ich eine männliche Stimme direkt hinter mir. Jemand war in die Küche gekommen. "Wo ist dein Zimmer? Hier?", hörte ich eine weibliche Stimme direkt danach. Oh nein. Ich konnte mich weder bewegen, um sie anzusehen, noch konnte ich mich verstecken. Für´s verstecken war es sowieso zu spät. Noah hatte mich entdeckt und er brachte auch noch irgendeine Tussi mit zu sich.
Ich hörte, wie sich Schritte schnell entfernten. Ging er einfach weiter, um mit diesem Mädchen Spaß zu haben? War er so skrupellos? "Was ist? Hast du einen Geist gesehen?", fragte die Tussi und ich erkannte, dass sie zum Glück noch im Flur war. "Nein, mir ist aber eingefallen das ich noch etwas erledigen muss. Ich ruf dich später an...", sagte Noah hektisch und schien auch im Flur zu sein. Er schickte sie weg? Ich hörte, wie eine Türe geöffnet wurde. "Du schickst mich jetzt weg? Ist das dein verdammter Ernst?" Diese Tussi brauchte es anscheinend dringend. Noah antwortete etwas aber ich verstand nichts mehr...langsam hatte ich das Gefühl, ich würde sterben.

"Hey...nicht einschlafen! Soll ich den Krankenwagen rufen?" Noah hatte sich neben mich gekniet und versuchte die Lage zu analysieren. Ich musste kurz weggetreten sein, denn ich hab gar nicht mitbekommen, wie er das Licht angemacht hat und zu mir gekommen ist. "Nein...ich kenne das", hauchte ich erschöpft und hoffte wirklich, er würde keinen Krankenwagen rufen. Das bringt nichts. Es brachte noch nie etwas. "Krass." Mehr sagte er nicht. Noah hob mich hoch und trug mich in sein Zimmer. Ich bekam alles nur noch verschwommen mit.
Ich kann mich daran erinnern, wie er mir seinen Pullover über mein Shirt zog und wie er mein Gesicht reinigte, weil dort bestimmt alles voller Blut war. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern, denn dann schlief ich endlich ein.

Am nächsten Morgen war es, als hätte es diesen Anfall nie gegeben. Klar war ich müde und kaputt aber gesundheitlich ging es mir wieder prima. Das war so typisch...fast jede Nacht bekam ich diese Aussetzer. Kein Arzt wusste, was genau der Auslöser dafür war und so wurde ich von Praxis zu Praxis weiter gereicht. Nicht immer, war es so extrem wie letzte Nacht und da konnte ich von Glück reden.
Da fiel mir auf, in welchem Zimmer ich grade war.
Noahs Zimmer war etwas kleiner, als das von Zeynep. Er war der einzige, mit einer weiteren Türe zum großen Balkon. Die andere Türe befand sich neben dem Küchentisch. Neben der Balkon-Türe war ein großer Schreibtisch, auf dem sich eine menge Unterlagen befanden. Insgesamt war das Zimmer in weiß-grau gehalten und auch schön. Ich liebte diese Wohnung einfach. Gegenüber vom Bett war ein riesen Schrank, der fast die komplette Wand hinter sich verbarg. Die eine Hälfte des Schranks war für Klamotten gedacht und die andere für Bücher und sonstigen Kram. Am liebsten hätte ich geschnüffelt, weil ich einfach so neugierig war aber ich wusste, dass sich das nicht gehörte.
Ich sah an mir herunter und bemerkte den grauen Pulli, der definitiv von ihm war. Na toll, er hat mit angesehen, wie ich diesen peinlichen Anfall hatte.
Schlimmer ging es wohl nicht mehr...

Im Flur hörte ich wie die Jungs sich im Wohnzimmer unterhielten, während der Fernseher lief. Gut, also konnte ich ohne aufzufallen zurück in Zeyneps Zimmer. So leise wie möglich schlich ich mich durch den Flur.
Als ich die Türe hinter mir schloss, atmete ich erleichtert auf. Das Zimmer war leer. Wahrscheinlich war Zeynep im Bad. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich plötzlich nicht mehr in ihrem Zimmer geschlafen habe? Ich wollte nicht, das alle von meinen gesundheitlichen Problemen wussten. Eine genaue Erklärung dafür, hatte ich ja auch nicht.
Ich zog mir meine Jeans an, dann packte ich meinen Rucksack auf meine Schultern. Grade als ich das Zimmer verlassen wollte, kam Zeynep herein. Sie hatte nur ihren Bademantel an und sah mich fragend an. "Wohin willst du?" Mist. "Ich weiß nicht, was Noah dir erzählt hat aber mir ging es heute Nacht nicht so gut und jetzt muss ich dringend hier weg", erklärte ich verzweifelt und schob mich an ihr vorbei.
Sie kam mir hinterher aber ich blieb nicht stehen. "Warte...", hörte ich sie sagen aber da war ich schon im Hausflur und stieg in den Aufzug.
Niemand sollte mich je so sehen...so fertig. Ich mochte es einfach nicht, weil ich in solchen Momenten so hilflos und schwach bin.
Bis jetzt konnte ich die Schmerzen immer gut verstecken aber diese Glückssträhne war vorbei. Meine Augen wurden nass und ich sah im Spiegel an der Wand, dass ich immer noch seinen Pullover anhatte. Der Aufzug war jetzt nach ganz unten gefahren und hielt an. Die Türe ging auf und grade als ich aussteigen wollte kam ein wütender Noah die Treppen herunter und drückte mich zurück in den Aufzug.

"Was soll das? Du bist mir einige Antworten schuldig", stellte er entsetzt fest, während wir wieder nach oben fuhren. Wieso musste er immer so hartnäckig sein? "Danke das du mir heute Nacht geholfen hast...aber ich möchte nicht drüber reden. Wirklich nicht. Das kommt öfter vor, weshalb ich am besten nur noch zu Hause schlafe", sagte ich müde und wich seinem Blick aus. "Du sahst aus, als würdest du sterben. Du kannst mir nicht erzählen, dass du vollkommen gesund bist", fuhr er mich an. "Das habe ich nie behauptet." Wir kamen wieder oben an aber ich weigerte mich in die Wohnung zu gehen. Noah blieb im Türrahmen stehen und sah mich auffordernd an. "Ich will nach Hause", sagte ich knapp und wollte wieder auf den Knopf drücken, der mich nach unten brachte. Doch Noah war schneller und zog mich aus dem Aufzug. "Du musst mir nichts darüber erzählen aber lass mich dir wenigstens helfen. Wieso denkst du, du musst jetzt alleine zu Hause rumsitzen und leiden?" Eins musste man ihm lassen...er gab nicht auf. "Ich weiß nicht, Gewohnheitssache. Es tut mir einfach nur leid, dass ich dich heute Nacht gestört habe. Ich hab gehört, wie du irgendein Mädchen weggeschickt hast", gab ich zu und sah ihm in die Augen. Man merkte, dass ihm das unangenehm war. "Dir muss nichts leid tun. Die war eh nicht so wichtig."
Wir gingen wieder in die Wohnung. Zeynep nahm mir freudig meinen Rucksack ab und verstaute ihn wieder in ihrem Zimmer. "Ich mach uns erst einmal ein leckeres Frühstück!", verkündete Zeynep und verschwand in der Küche. Jonah saß im Wohnzimmer auf der großen Couch und war grade dabei, Playstation zu spielen. Als er mich sah, lächelte er kurz und konzentrierte sich schließlich wieder auf sein Fußballspiel.
Noah und ich setzten uns und er hielt, was er sagte. Er sprach an diesem Tag nicht mehr über diese Nacht. Irgendwann erzählte ich ihm von alleine meine Geschichte und wusste, er würde mir immer helfen.
Der Schmerz vergeht nicht...das Päckchen welches ich tragen muss, wird immer groß sein.
Doch durch Liebe, verliert es an Gewicht.

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