Montag, 20. Juni 2016
Schuld
Noah:
„Die Frage ist aber, wieso Sie nichts unternommen haben, obwohl Sie wussten, dass ihr bester Freund seine Freundin schlägt“, warf der Polizist in den Raum und beäugte mich kritisch. Scheiße, die Schuldgefühle plagten mich sowieso schon und dann kam auch noch dieser Typ und streute Salz in die Wunde. Ich befand mich in einem Verhör-Raum der Polizei. Zwei ältere Polizisten saßen mir gegenüber und horchten mich schon seit einer halben Stunde aus. Kürsad hatte großen Mist gebaut. Meine Kiefermuskeln zuckten vor Wut, denn eigentlich hatte keiner von seinen Machenschaften gewusst. Viele hatten es vermutet aber nie gewusst. „Ich höre“, holte mich einer der Polizisten aus meinen Gedanken. Er lehnte sich nach vorne und suchte meinen Blick. „Wir haben es nie gewusst. In unserer Gegenwart haben die Beiden sich normal verhalten“, log ich wie gedruckt. Aber ich wollte einfach nicht angezeigt werden. Das würde meinen Eltern gar nicht gefallen, hatten sie mich doch nach Deutschland geschickt, um ordentlich zu studieren und dann selbst Polizist zu werden. Und jetzt saß ich dort, auf der falschen Seite des Tisches. „Das heißt, sie behaupten, die ganzen blauen Flecke nicht gesehen zu haben? Die Angst in ihren Augen? Wissen Sie, dass Lügen auch strafbar ist und das ignorieren einer Straftat Sie automatisch zum Mittäter macht?“, fragte der Polizist sehr ernst. Natürlich wusste ich es…Mann, die Schuld nagte doch ohnehin schon an mir. „Ich sage die Wahrheit, wenn ich sage, dass keiner von uns davon wusste. Man konnte es vermuten“, gab ich nach und ballte meine Hände zu Fäusten, bei dem Gedanken, was er Honey angetan hatte. Die Polizisten hoben interessiert ihre Augenbrauen. „Aber wir alle waren eine dumme Gruppe von Jugendlichen, die sich aus dem Leben von Kürsad raus gehalten haben. Wie gesagt, dass war dumm und ich bereue es auch aber gewusst habe ich nichts“, fügte ich aufrichtig hinzu. „Sie alle hätten das Schlimmste verhindern können. Das Mädchen wird vielleicht körperlich gesund werden aber die Seele wird schwerer zu heilen sein“, stellte der Polizist nachdenklich fest und schaute auf seine Unterlagen. In dem Moment machte ich es zu meiner Aufgabe, Honeys Seele zu heilen.

Ich durfte nicht zu ihr ins Krankenhaus aber ich konnte nicht anders. Ich wollte sehen, was Kürsad ihr angetan hatte. Also schlich ich durch die Gänge und suchte ihr Krankenzimmer. Das wurde schwerer, als ich zunächst gedacht hatte. Zu meinem „Glück“ wurde Honey grade in einen „Aufwach-Raum“ geschoben, als ich um die Ecke bog. Anscheinend hatte man sie grade operiert und die Narkose ließ sie schlafen. Ich wartete, bis die Krankenschwester aus dem Raum kam und ging dann hinein. Honey lag auf einem Krankenbett und war an allen möglichen Geräten angeschlossen. Sie hatte Schläuche in der Nase, welche ihr wahrscheinlich halfen zu atmen. Diesen Anblick würde ich nie vergessen. Ihre Arme waren übersät mit blauen, roten und dunkelvioletten Flecken. An ihrem Hals bildeten sich Würgemale und ihr Gesicht…war komplett angeschwollen. Drähte hingen an ihren Zähnen und irgendein Gerät stabilisierte ihren Kiefer. Ich hatte wirklich keine Ahnung von sowas…aber das sah alles andere als gut aus. Ihre Augen waren natürlich geschlossen aber ich hoffte, dass sie wenigstens in ihren Träumen in Sicherheit war. Die Tür wurde geöffnet und ein Arzt kam in den Raum und zuckte zusammen, als er mich bemerkte. „Was machen sie denn hier? Sie haben keine Befugnis!“, stellte der Arzt empört fest. „Ich gehe ja schon“, sagte ich schnell, warf noch einen Blick auf Honey, und verschwand dann aus der Kammer meiner Schuld.

Einige Wochen später verdonnerte mich Dana dazu, mit ihr zu Honey zu fahren. Dana wollte sie unbedingt sehen, wollte aber nicht alleine mit der Bahn fahren. Ich hielt es für keine gute Idee, denn wir waren in dieser Geschichte die Bösen. Wir gehörten ursprünglich zu Kürsad, also trugen wir eine Mitschuld. Doch ich ließ mich überreden, obwohl ich kein gutes Gefühl dabei hatte. Honey würde uns sicher hassen. Nachdem uns die Bahn in Honeys Stadt abgesetzt hatte, liefen wir zu ihrem Haus. In meinem Magen zog sich alles zusammen, denn ich dachte an die Bilder von Honey im Krankenhaus. Die Sonne schien aber es war nicht sonderlich warm. Kaum Menschen waren auf den Straßen. Es dauerte nicht lange, da standen wir auf der Straße, auf der Honey wohnte. Ich blieb an der Ecke stehen und steckte meine Hände in die Hosentaschen. „Sie will uns nicht sehen“, sagte ich entschieden und dachte nicht daran weiter zu gehen. Dana schüttelte mit ihrem Kopf, dabei wippten ihre naturroten Haare hin und her. „Komm jetzt!“, wies sie mich an. Sie versuchte mich an meinem Oberarm weiter zu ziehen aber ich rührte mich nicht. Man konnte Honeys Haus von hier aus schon sehen. Die Türe öffnete sich und dann sah ich sie. Es waren nur einige Wochen, seitdem ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Nicht Monate und auch nicht Jahre. Und da lief sie, mit einem Umzugskarton in den Armen. Sie trug eine graue Jacke, weshalb man ihre Arme nicht sehen konnte. Durch die lange Jeans konnte man ihre Beine ebenfalls nicht sehen. Wahrscheinlich hatte sie noch Hämatome unter dem ganzen Stoff. Ihr Gesicht war noch etwas demoliert aber genaues konnte ich aus der Entfernung auch nicht erkennen. Dennoch war ich erstaunt, wie schnell ihr Körper heilte. Honey humpelte zum Auto und stelle den Karton im Kofferraum ab. Dabei fielen ihr ihre langen, blond-braunen Haare ins Gesicht. Dana warf mir einen auffordernden Blick zu aber ich dachte nicht daran, jetzt weiter zu gehen. Erst recht nicht, nachdem ich sie gesehen hatte. Dana rollte mit ihren grünen Augen und rannte dann ohne mich los. Ich beobachtete die Szene aus sicherer Entfernung. Honey hob ihren Kopf und bemerkte Dana, die jetzt bei ihr angekommen war. Ich erwartete, dass Honey sie finster anfunkeln würde oder dass sie einfach ins Haus verschwinden würde. Doch was sie jetzt tat, überraschte mich und stellte sie in ein ganz neues Licht. Honey lächelte Dana an und nahm sie auch noch in ihre Arme. Verwundert hob ich eine Augenbraue. Wie konnte sie die Menschen umarmen, die ihr Unheil nicht verhindert hatten, obwohl wir durchaus in der Lage dazu gewesen wären? Die Beiden unterhielten sich und wandten ihre Köpfe bald darauf in meine Richtung. Das war mein Signal zu verschwinden. Ich war noch nicht bereit dazu. Ich konnte dem Mädchen noch nicht in die Augen schauen, ohne das die Schuldgefühle mich innerlich zerfraßen.

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