Dienstag, 17. Mai 2016
Stärke der Gefühle
Es war ein leichtes Spiel für mich Gefühle zu kontrollieren. Die Gefühle von anderen waren jedoch leichter zu kontrollieren, als meine eigenen. Wieso? Nun ja, ich schätze, weil ich dabei selbst nicht so involviert war. Das einzige Gefühl, welches ich nicht richtig unter Kontrolle hatte, war die Wut.
Wut brachte mich dazu völlig durchzudrehen. Ich wurde zu einem fremden Menschen und das machte mir Angst. Manchmal fühlte ich mich, wie *Hulk*, wenn man mich auf die Palme brachte. Meine Familie konnte das besonders gut. Sie gehörten zu den Menschen, die mir extrem nahe standen und zu den ich eine tiefere, emotionale Bindung verspürte.
Ich wohnte immer noch bei meinen Großeltern, weil ich mir nach meinem Abschluss noch keine eigene Wohnung leisten konnte. Die meiste Zeit verbrachte ich in der WG und bei anderen Freunden. Das Verhältnis zu meiner Familie war kompliziert, es war eine Hassliebe. Ich liebte sie und war ihnen dankbar für mein Leben aber ich hasste sie für all die Jahre, in denen sie mich alleine gelassen hatten. Deshalb eskalierte auch so manch ein Streit zwischen uns. Seit mehreren Tagen schlief ich schon in der WG, doch ich musste nach Hause, um mir frische Klamotten zu holen und die getragenen Sachen in die Wäsche zu bringen.
Nick fuhr mich, weil mein Auto bei meinen Großeltern stand und sonst niemand Zeit hatte. Noah würde stinksauer sein, wenn er wüsste, dass ich mit Nick in einem Auto saß. Aus unerklärlichen Gründen, wobei sie für mich nicht so unerklärlich waren, mochte er Nick überhaupt nicht. Zugegeben, Nick verhielt sich manchmal tatsächlich seltsam.
Wir unterhielten uns kaum, sondern hörten nur Musik. Als Nick das Auto neben meiner Wohnung parkte, stieg er mit mir aus. „Ich kann dir beim tragen helfen“, bot er ungewohnt höflich an. Ich hätte wirklich Hilfe gebrauchen können, also nickte ich. Er öffnete den Kofferraum und kramte meine Reisetasche heraus. Die trug er, während ich meinen Rucksack über eine Schulter zog. Ehrlich gesagt, habe ich nicht über die Konsequenzen nachgedacht. Ich bin einfach mit Nick in meine Wohnung gegangen. Mir fiel erst auf, wie bescheuert ich war, als meine Oma geschockt im Flur stand und Nick musterte. Ihr Blick blieb an seinen unzähligen Tattoos hängen, die sich über seine Arme erstreckten. Gute Idee, einen Punk in die Wohnung einer römisch-katholischen und sehr konservativen Oma zu schleppen. Nick schien es nicht zu stören, dass er angesehen wurde, wie ein Zirkustier. Er nahm meinen Rucksack von der Schulter und trug all meine Sachen in mein Zimmer. Die Wohnung war klein, deshalb war das Zimmer leicht zu finden. Nachdem er an meiner Oma vorbeigehuscht war, starrte diese mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Das ist der Freund meiner Freundin“, stellte ich direkt klar und ging in die Küche. Mein Mund wurde trocken. Ich brauchte Wasser! Sie kam mir hinterher und stemmte ihre Hände in die Hüften. Ihr Blick war voller Abscheu. „Das sind also deine Freunde! Du kommst tagelang nicht nach Hause und treibst dich mit so Verbrechern rum? Wahrscheinlich nehmt ihr noch Drogen!“, warf sie mir lauthals vor. Wie gut, dass sie mir so vertraute. Es machte mich wahnsinnig, wie viel sie mir zutraute. „Also mit ihr habe ich noch nie Drogen genommen“, mischte sich Nick ein, der sich am Türrahmen der Küche anlehnte. Er versteckte seine Hände in seinen Jeanstaschen und kaute auf seiner Unterlippe herum. „Mit ihnen habe ich nicht gesprochen!“, zischte meine Oma sauer. „Er aber mit dir“, sagte ich und verschränkte meine Arme vor der Brust. „Und mir passt es gar nicht, wie du über meine Freunde und über mich herziehst! Ich bin Erwachsen, auch wenn ich noch hier wohnen muss. Ich weiß, dass du mich kontrollieren willst, wie die Stasi! Aber daraus wird nichts mehr.“ Damit hatte ich aus dem Funken der Wut, ein Feuer des Zorns gemacht. Ich wollte gehen, bevor die Sache eskaliert. Aber meine Oma kannte meine Schwachstelle nur zu gut. „Du bist genauso wie der Mistkerl! Wie dein verdammter Vater! Genauso böse und genauso eine Ratte“, fuhr meine Oma mich an. Eigentlich hatte ich mich zu Nick gedreht aber ich blieb stehen. Ich sah noch, wie er geschockt seine Augen aufriss und meine Oma anstarrte. Dann drehte ich mich zu ihr, die Hände zu Fäusten geballt. „Was hast du grade gesagt?“, wollte ich bedrohlich wissen. Das wars, die Wut hatte mich gepackt und bedrohte meine Selbstbeherrschung. „Ich wünschte, ich hätte dich damals niemals aufgenommen. Du bist zu nichts zu gebrauchen. Aber das war uns allen von Anfang an klar“, bohrte meine Oma weiter in meiner Wunde. Kurzschluss. Ich nahm ein Glas von dem Küchentisch und warf es direkt an die Wand neben meiner Oma. Das Glas zersprang und die Scherben flogen in alle Richtungen. Plötzlich stand ich dicht vor ihr und knurrte, wie ein wildgewordenes Tier. Meine Oma bekam es mit der Angst zu tun, das spürte ich und wollte ich. „Du willst dich mit mir anlegen?“ Meine Hände verkrampften sich. Wer weiß, was ich getan hätte, wenn Nick mich nicht von hinten gepackt und aus der Küche gezerrt hätte. „Ruhig, Tiger“, flüsterte er und schob mich aus der Wohnung.
Wut. Ich wusste, dass ich sie nicht kontrollieren konnte. Wut machte mich wirklich böse. Böse und unberechenbar.

Im Auto kam ich langsam wieder zu mir und bemerkte, dass ich gar keine neuen Sachen eingepackt hatte. Na, toll. Dann fiel mir ein, dass Nick alles mitbekommen hatte. Wie peinlich! Mein Wutanfall und die Einstellung von meiner Oma…er musste mich jetzt für verrückt halten. Wir fuhren grade auf einer Landstraße, als ich vorsichtig zu ihm sah. Ich versuchte herauszufinden, was er grade von mir dachte. Ohne Erfolg. „Das ist mir mehr als unangenehm…es tut mir leid“, brach ich die Stille. „Es tut mir auch leid, was meine Oma über dich gesagt hat. Du siehst nicht aus, wie ein Verbrecher. Du siehst gut aus.“ Plötzlich hielt ich inne. Das konnte man auch falsch verstehen. Draußen fing es leicht an zu regnen. Super, das wars wohl mit dem guten Wetter. „Danke, du siehst auch gut aus“, sagte Nick lächelnd. „Du musst dich für nichts entschuldigen. Muss echt hart gewesen sein, so aufzuwachsen. Die lebt ja vollkommen in ihrer eigenen Welt.“ Es war auch nicht leicht. Es brachte mich so um den Verstand, dort zu leben. Aber als angehende Studentin hat man kaum Geld und muss erst einmal einen Job finden. Sonst kann man sich nichts leisten. „Meine Familie macht mich ehrlich gesagt ziemlich krank“, gab ich leise zu und schaute auf die Felder neben uns. Ich bemerkte, wie Nick in meine Richtung schaute. „Ich hab dich ganz anders eingeschätzt“, bemerkte Nick verwundert. „Am Anfang dachte ich, du wärst eine verwöhnte Göre, die gerne mal im Mittelpunkt steht. Ich dachte, du könntest nichts aushalten aber wie du grade deine Oma angegangen bist…“ Ich wandte mich neugierig zu ihm. „Du magst mich nicht.“ Nick schüttelte leicht mit dem Kopf und starrte auf die Straße. „Ich bin beeindruckt von dir. Soviel Power hätte ich dir gar nicht zugetraut. Du bist auf sie losgegangen, wie eine Löwin, der man ihre Kinder wegnehmen möchte“, stellte er fest. Jetzt verwirrte er mich. Er mochte mich, weil ich meine Oma fast verprügelt hätte? Was sagte das über ihn aus? „Naja, du hast mich doch weggezogen.“ Nick fing an zu lachen. „Natürlich, du sollst ja auch niemanden verprügeln. Ich bin beeindruckt, weil du dich nicht unterbuttern lässt. Du hast immer noch genug Kraft, um gegen diese Kommentare anzugehen. Das meine ich.“ Nick überraschte mich ebenfalls. Er war etwas sonderbar aber dennoch nett. Man konnte gut mit ihm sprechen. „Ich weiß nicht was ich sagen soll…danke, schätze ich.“ Wir lächelten uns an, während ich mich langsam fragte, wohin wir überhaupt fuhren.

Wir parkten auf einem großen Parkplatz, direkt vor einer Psychiatrischen-Klinik. Als Nick den Motor abstellte, wurde mir mulmig zumute. Was machten wir hier? Er starrte seine Finger an, die das Lenkrad immer noch festhielten. „Ich möchte dir zeigen, dass jeder Mensch Probleme hat. Meine Schwester und ich hatten auch keine schöne Kindheit. Sie ist daran zugrunde gegangen“, flüsterte er kaum hörbar. Wieso machte er das? Wieso wollte er sich emotional so verwundbar machen? Ich war quasi eine Fremde für ihn. „Du musst das nicht machen, wenn es zu viel für dich ist. Mir geht’s gut.“ Das meinte ich so. Keiner sollte sich verpflichtet fühlen, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen. Natürlich freute ich mich immer wieder über neue Themen zum analysieren aber nur, wenn diese Themen freiwillig kamen. „Ich bin jede Woche bei meiner Schwester. Nur habe ich noch keinen mitgenommen…dabei wollte sie immer, dass ich mal Freunde mitnehme“, sagte er und suchte meinen Blick. „Ich möchte sie dir gerne vorstellen.“ Wir stiegen aus dem Auto und liefen auf den Haupteingang zu. Es war ein riesiges Gebäude. Einige Fenster waren offen, einige besaßen sogar Gitter. Während wir durch die breiten Gänge liefen, wurde mir immer unwohler zumute. Hier und da tauchten entweder Behandlungsräume auf oder Räume, die nicht beschriftet waren. Vermutlich wohnten dort einige Patienten. Die Klinik ließ viel Tageslicht hinein, dennoch machte sie mir Angst. Es waren kaum Menschen zu sehen. Manchmal kam ein Arzt an uns vorbei, vertieft in seine Unterlagen. Von Patienten keine Spur. „Wieso ist sie hier?“, fragte ich schließlich. Ich wollte es gerne wissen, bevor ich sie sah. Nick hielt mitten im Flur und schaute zu mir. „Unsere Mutter wollte uns damals umbringen. Es ist eine lange, grausame Geschichte. Irgendwann kann ich sie dir mal erzählen aber nicht hier. Jedenfalls hat meine Schwester das niemals verarbeiten können“, erklärte er knapp und ging weiter. Ich folgte ihm wortlos und musste schlucken. Was für eine Mutter möchte das eigene Kind umbringen? Ich war mir nicht sicher, ob ich die ganze Geschichte wirklich hören wollte.
Wir gingen durch eine große Türe und befanden uns dann in einem großen Raum. Der Raum war ausgestattet mit vielen Tischen und Stühlen. Vermutlich der Aufenthaltsraum. Jetzt sah ich auch ein paar Patienten, die sich mit ihren Familien und Freunden unterhielten. Nick steuerte ein Tisch am Fenster an, an dem ein zierliches Mädchen saß. Sie starrte nach draußen und wirkte sehr unglücklich. Ihre Platin-blonden Haare fielen ihr glatt ins Gesicht. Ihr Gesicht…war blass und sie hatte große, grau-grüne Augen. Als sie ihren Kopf hob, konnte man eine breite Narbe erkennen, die sich über ihren ganzen Hals zog. Ein Bild tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ein Messer schnitt in ihre Kehle. Plötzlich bekam ich Gänsehaut. Sie sah aus, wie eine Porzellanpuppe, als sie zu uns blickte und lächelte. Keine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder. „Leonie, ich habe Besuch mitgebracht“, verkündete Nick aufgeregt und umarmte seine Schwester. Leonie musterte mich neugierig. „Du musst Dana sein! Nick hat mir nicht viel erzählt…nur, dass du wunderschön bist. Das trifft zu“, mutmaßte Leonie glücklich und reichte mir die Hand. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Dana war Nicks Freundin. Sie sollte jetzt hier sein, nicht ich. „Ich bin eine Freundin von Dana“, verbesserte ich sie höflich und schüttelte ihre kleine Hand. Leonie sah Nick fragend und etwas enttäuscht an, bevor sie sich setzte. „Sie ist eine sehr gute Freundin von mir. Dana hatte heute keine Zeit“, stellte Nick fest, nachdem er sich auch gesetzt hatte. Dana hätte sich bestimmt Zeit genommen, wenn sie davon gewusst hätte. Und seit wann waren wir „sehr gute Freunde“? Naja, ich korrigierte ihn nicht. Er meinte es nur gut mit seiner Schwester. Leonie saß gegenüber von mir und starrte mir die ganze Zeit in die Augen. Nick unterhielt sich mit ihr über allgemeine Themen aber sie schien mehr an mir interessiert zu sein, als an den aktuellen Benzinpreisen. „Ich höre sie immer noch“, unterbrach Leonie ihren Bruder, schaute mich aber weiterhin an. „Wie meinst du das?“, wollte er wissen. „Die Stimmen. Ich höre sie immer noch und die Schmerzen gehen auch nicht weg“, erzählte sie mit einer sanften Stimme. Nick atmete hörbar aus und starrte auf den Holztisch. „Wenn du nicht aufhörst sowas zu sagen, dann lassen die dich niemals hier raus“, stellte er ernst fest. Mir wurde immer übler, während sie mich so anstarrte. „Weißt du wie es ist, jeden Tag Schmerzen zu haben?“ Die Frage war an mich gerichtet. Leonie erwartete eine Antwort von mir. Nervös spielte ich mit meinen Fingern. „Ehrlich gesagt, schon“, gab ich leise zu und wich ihrem Blick aus. „Lass mich raten…die Ärzte wissen nicht, was genau du hast. Dann wirst du nämlich bald auch hier landen und sie werden dich verrückt nennen“, prophezeite Leonie und grinste mich an. Ok, sie machte mir Angst.

Wir unterbrachen den Besuch, weil Leonie zu einer Sitzung musste. Nick entschuldigte sich mehrmals für ihr Verhalten. Er sagte, er wäre davon ausgegangen, dass sie auf dem Weg der Besserung sei. „Ich kann verstehen, wenn du nie mehr mitkommen willst“, sagte Nick schließlich und fuhr vom Parkplatz. Was er nicht wusste war, dass es ein Gefühl gab, welches stärker auf mich einwirkte, als die Wut. Die Neugier. „Doch, ich will.“

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