Freitag, 26. Februar 2016
Training und Abschied
Es war unglaublich! Innerhalb kürzester Zeit lernte ich das luzide Träumen und konnte bald schon Dinge steuern. In dieser Nacht befand ich mich in einem stark bewachsenen Wald. Ein kleines Backsteinhaus ragte aus einem Felsen und es hatte nur ein schmales Loch als Eingang. Anastasia, die Kinderversion von mir selbst, stand neben mir. Sie trug wie üblich ein weißes Kleid und ihre Haare waren zu einem Zopf gebunden. Mit engelsgleichen Schritten trat sie vor das Haus und beäugte mich ernst. "Gut, heute lernen wir mit deinen Ängsten umzugehen." Es war schon seltsam, dass ich alles wahrnahm, als wäre es echt. In Wirklichkeit lag ich nämlich grade im Bett und erholte mich von meiner Krankheit. Doch hier war ich gesund und konnte tun und lassen was ich wollte. Keine Schmerzen plagten mich, denn hier war ich stark. Langsam schloss ich meine Augen und stellte mir vor, wie ich passende Kleidung trug. Wenige Sekunden später trug ich eine dunkelgrüne Hose und ein schwarzes T-Shirt. Meine braunen Haare formten sich von alleine zu einem Dutt. "Sag mir was ich machen muss." Bereit stellte ich mich vor den kleinen Eingang und schaute in die Dunkelheit, die sich in dem Haus befand. "In dem Haus erwarten dich einige Ängste, die sich im Laufe der Zeit in dein Unterbewusstsein gedrängt haben. Ziel wird es sein, alle Räume zu durchqueren, indem du die Wesen-oder was auch immer dich dort erwartet-verschwinden lässt. Du kannst es aber du darfst dich nicht von der Angst lähmen lassen. Sie werden versuchen dir den Weg zur nächsten Türe zu versperren. Du bist stärker, als die", erklärte Anastasia entschlossen. "Wie viele Zimmer gibt es?", fragte ich trocken. Der Gedanke da rein zu gehen, gefiel mir nicht. "Ich bin mir nicht sicher. Du gehörst zu den Menschen die viele Ängste haben. Dafür musst du dich nicht schämen, weil dir viel passiert ist."
Anastasia verzog das Gesicht nachdenklich. "Bereit?"
Mein Herz raste, obwohl ich wusste, dass es sich nur um einen Traum handelte. Alles wirkte zu real.
Kurz nachdem ich nickte, kletterte ich in das Haus.

Bei dem ersten Zimmer handelte es sich um ein kleines Wohnzimmer. Es sah aus, wie das Wohnzimmer einer alten Dame. Ausgestattet mit Blümchen-Tapete und gemütlicher Couch. Auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes befand sich eine leere Schale und ein altes Buch. Der kleine Fernseher an der Wand zeigte nur ein weißes Bild. Misstrauisch näherte ich mich der Couch. Plötzlich machte der Fernseher komische Geräusche und eine Gestalt erschien vor ihm. Erschrocken wich ich zurück und knallte mit dem Rücken gegen die Wand. Der Raum war viel zu klein, also konnte ich mich nicht verstecken. Die Gestalt war kreideweiß, besaß weder Augen, noch Mund...es war einfach nur ekelhaft. Stöhnend kam es auf mich zu, dabei streckte es seine Arme nach mir aus. Aus welchem Horrorfilm hatte mein Unterbewusstsein das denn herausgekramt? Mein Körper spannte sich an. "Es ist nur ein Traum", erinnerte ich mich selbst. Panisch suchte mein Verstand eine Lösung, während das Wesen immer näher kam. Kurze Zeit später befand sich eine Waffe in meiner Hand. Gut! Also zielte ich auf das Wesen, wie ich es in unzähligen Filmen gesehen hatte, und drückte ab. Eine dunkle Flüssigkeit floss aus der Schusswunde und das Wesen verschwamm. Danach erschien eine Türe direkt neben dem Fernseher. Erleichtert atmete ich aus. Das erste Zimmer war geschafft!

Als ich durch die Türe ging trat ich ins Leere. Ein komisches Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Nach endloser Dunkelheit landete ich direkt in einem Meer. Es war kein richtiges Zimmer, sondern tiefes Wasser. Wasser, dass stürmisch hin und her schaukelte und mich in die Tiefe riss. Im echten Leben konnte ich nicht schwimmen, also war es selbstverständlich, dass dies zu meinen Ängsten gehörte. Keuchend kämpfte ich gegen die großen Wellen, denn irgendwie musste ich über Wasser bleiben. Irgendetwas zog mich nach unten. Wasser sammelte sich in meiner Lunge, dennoch kämpfte ich weiter. Ich wusste, ich könne es da raus schaffen, wenn ich mich nur konzentrierte. Doch noch bevor ich eine Lösung fand, holte mich jemand zurück in die Realität.

"Du musst aufwachen!", hörte ich Zeynep rufen. Sie zerrte an meinem Arm. Panisch schnappte ich nach Luft und sah mich um. Es war kein Wasser mehr in Sicht und auch nicht mehr in meiner Lunge. Dafür fühlte ich mich wieder krank, wie schon seit Tagen. Zeynep stand in ihrem violetten Pyjama neben dem Bett. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden und ihre dunklen Augen waren gerötet. "Habe ich wieder im Schlaf geschrien?", fragte ich entschuldigend und schob die Decke von mir weg. "Nein, das ist es nicht aber Noah...er wird einen Fehler machen!" Sie setzte sich verzweifelt auf die Bettkante und versteckte ihr Gesicht hinter ihren Handflächen. Noah? Verwirrt schaute ich auf die leere Seite des Bettes. Wo war er? "Moment, wo ist er denn? Und wie spät ist es?" Tausend fragen bohrten in meinem Kopf nach Antworten. Ich sprang auf und setzte mich neben Zeynep. "Ich war wiedermal sehr dumm! Ich habe ihm von der Drohung von Kürsad erzählt und wie du Chris eine verpasst hast. Er meinte, er geht es jetzt klären aber er ist schon seit zwei Stunden weg und ich kann ihn nicht erreichen", berichtete sie verzweifelt. Seit zwei Stunden?! Schnell nahm ich mein Handy vom Nachttisch und sah auf die Uhr. Es war 03:23 Uhr Morgens...und ich hatte keine Nachrichten von ihm. "Und da weckst du mich erst jetzt?" Ich wählte seine Nummer aber erreichte nur die Mailbox. Super. Sie schaute mich plötzlich neugierig an. "Sag mal...seit ihr irgendwie zusammen oder so?" Zugegeben war es nicht der richtige Zeitpunkt aber kurz musste ich grinsen. Wahrscheinlich fiel ihr auf, dass ich ein T-Shirt von ihm anhatte. "Es ist schwer zu sagen", gab ich schulter zuckend zu. "Weißt du, wo er jetzt sein könnte?"
Zeynep stand auf und ging im Zimmer auf und ab. "Du kannst jetzt nicht alleine los gehen. Das ist viel zu gefährlich!" Das wollte ich auch nicht. Entschlossen verließ ich das Zimmer und rannte durch den Flur. Ohne zu klopfen öffnete ich Jonahs Türe und knipste das Licht an. Er und sein Cousin Noah sahen sich ziemlich ähnlich, vor allem wenn er schlief. Er lag auf dem Bauch und kuschelte sich in seine Decke. Kaum zu glauben, dass wir beide im selben Alter waren, denn er sah älter aus als ich. "Jonah!", rief ich und zog ihm die Decke weg. Er knurrte laut und öffnete genervt seine Augen. "Was ist denn?", jammerte er in sein Kissen. Dabei gab er seiner Surferfrisur endgültig den Rest. "Du musst mir helfen Noah zu finden!", stellte ich fest. Kaum waren die Worte ausgesprochen, stand er auf seinen Beinen. Er trug nur eine enge Boxershorts, weshalb ich peinlich berührt an die Wand starrte. Wobei ich selber kaum etwas anhatte, außer das große Shirt seines Cousins.

Nachdem wir uns etwas über gezogen hatten, saßen wir in meinem Auto und fuhren zu den Stammplätzen meines Exfreundes. Irgendwie hoffte ich, Noah dort nicht zu finden. Vielleicht war er einfach nur bei einem Kumpel eingeschlafen. Wunschdenken.
"Was ist mit der Bar, in der die oft abgehangen haben?", warf Zeynep ein, die sich von den Rücksitzen aus zu Jonah und mir beugte.
Also fuhr ich zu der Bar, die tatsächlich noch geöffnet hatte. Es war kaum mehr was los auf den Straßen. Auch auf dem Parkplatz der Bar standen kaum Autos. Ich parkte das Auto nah am Eingang und wir stiegen aus. Die kalte Luft tat meiner schwachen Lunge definitiv nicht gut aber für Noah nahm ich es in Kauf. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Das jedenfalls nicht. Wir betraten die große Bar, dann sahen wir uns um. Die meisten Tische waren leer. Die Barfrau putzte einige Gläser und unterhielt sich mit einem Gast, der mit ihr zu flirten schien. Mein Blick fiel auf einen großen Runden Tisch in der Ecke der Bar.
Kürsad saß dort zusammen mit einigen Freunden von ihm, die ich damals flüchtig kennengelernt hatte. Direkt neben ihm...saß Noah.

So saß man nicht mit jemandem zusammen, den man zur Rede stellen wollte. So saß man nur mit Freunden zusammen! Tausend Gedanken schossen mir in den Kopf. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf, wie ich Noah küsste und wie er mir versprach, immer für mich da zu sein. Wieso vertraute ich jedesmal so schnell? Tränen brannten in meinen Augen. Er saß da, mit dem größten Verbrecher den ich kannte. Dabei trank er noch Alkohol und es sah aus, als würde er richtig Spaß haben. Ohne mich. Ich war vergessen.
Jonah und Zeynep schauten ebenfalls dorthin. Jonah zuckte mit seinen Schultern und spannte sich an. Zeynep weitete überrascht ihre Augen. "Das darf doch nicht wahr sein!", entwich es ihr entgeistert. Noah sah erschrocken zu uns und Kürsad folgte seinem Blick. Natürlich grinste er dabei...
"Was ist bei dir schief gelaufen?", wollte Jonah wütend von seinem Cousin wissen. "Wir machen uns Sorgen um dich, weil du mit so Kreaturen der Hässlichkeit unterwegs bist und du genießt hier dein verdammtes Leben!" Jonah funkelte Noah böse an. Mir fehlten einfach die Worte, weil ich erneut verletzt wurde. Reglos stand ich neben Zeynep und sah sie flehend an. "Können wir bitte wieder fahren?" Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Lange würde ich das nicht mehr aushalten. Jonah wandte sich mitfühlend zu mir: "Fahr nach Hause. Ich fahre später mit dem Verräter zurück...es tut mir leid."
Noah sprang auf und wollte zu mir aber Jonah hielt ihn auf. Im Schnellschritt verließen Zeynep und ich das grausame Lokal. Mein Blick fiel als letztes auf Kürsad, der mir vielsagend zuzwinkerte.

Wieder in der WG packte ich meine Klamotten in meinen Koffer. Es war Zeit wieder nach Hause zu fahren. Mir war es lieber bei meiner lieblosen Familie zu wohnen, als bei einer Person, welche mir nur Liebe vorspielte. Zeynep saß auf der Bettkante und sah mir traurig dabei zu. "Die beiden sind nicht miteinander befreundet. Ich kenne Noah und weiß, dass er dir nichts vorgespielt hat. Er liebt dich", stellte sie nachdenklich fest. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer, als ich den Koffer schloss. "Ich weiß", bemerkte ich niedergeschlagen. "Aber ich weiß auch, dass die beiden eine Verbindung haben. Kürsad und Noah sind quasi zusammen aufgewachsen und waren die besten Freunde. Dem will ich nicht im Weg stehen. Doch ich kann Noah nicht küssen, wenn ich im Hinterkopf habe, dass er mit einem Schläger befreundet ist, der mein Leben zerstört hat. Außerdem wird es Zeit endlich nach Hause zu gehen. Ich muss mich um meine Großeltern kümmern und mich wieder auf meine Kurse konzentrieren. Hier habe ich mich so wohl gefühlt, dass ich die wichtigen Sachen hab schleifen lassen."
Zeynep begleitete mich zur Türe und nahm mich fest in ihre Arme. "Er wird nicht locker lassen. Ich meine Noah, denn du bist ihm sehr wichtig", flüsterte sie mir ins Ohr. Mir fiel keine Antwort dazu ein, denn ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Also öffnete ich die Türe und ging zum Aufzug. "Ich hasse Abschiede", jammerte Zeynep an der Türe, während ich im Aufzug verschwand. "Ich auch", sagte ich leise und wünschte, die ganze Nacht wäre nur Teil meines Traums gewesen.

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