Donnerstag, 10. März 2016
Trauerphase
Noah:
Spät am Abend kam sie zurück. Ich wusste nicht, wo sie war, denn sie erzählte mir nichts mehr. Als sie das Auto in der Garage abgestellt hatte, holte sie eine Einkaufstüte aus dem Kofferraum und begrüßte mich matt. Mir war schleierhaft, ob wir nun ein Paar waren oder ob ich, wie üblich, alles versaut hatte. Den ganzen Abend sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Während ich auf dem Bett saß und mit dem Laptop im Internet surfte, saß sie auf dem Boden und packte einige Geschenke für ihre Oma ein. Die würde in einigen Tagen wohl Geburtstag haben. Ungeschickt versuchte sie mit Tesafilm-Streifen das Geschenkpapier zu befestigen. Sie war noch nie gut darin gewesen, Geschenke einzupacken. Aber das machte nichts, denn dabei war sie unglaublich süß.
Als sie damit fertig war, verstaute sie die Geschenke in einer Schublade und holte ihre Schlafshorts aus dem Schrank. „Ich gehe jetzt duschen“, verkündete sie, wie ein Roboter und verschwand in den Flur. Kurz darauf war zu hören, wie sich die Badezimmertüre schloss und Wasser auf den Wannenboden prasselte. Ich legte den Laptop auf den Schreibtisch und schlich in den Flur, um mich dann dort auf den Boden zu setzen. Nein, ich wollte nicht den Spanner spielen aber ich wusste, was jetzt kam. Es musste kommen, denn das gehörte schlichtweg zu meiner Honey. Ich lehnte mich gegen die Wand und schloss die Augen. Zuerst dachte ich, auch damit hatte sie aufgehört. Nach einigen Minuten jedoch kam die Erlösung.
Sie sang. Sie sang immer unter der Dusche. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als sie den ganzen Soundtrack von „High School Musical“ durchsang. Da war sie wieder, meine Honey.
Nachdem sie das Wasser abgestellt hatte, ging ich leise zurück ins Zimmer und setzte mich wieder auf das Bett. Kurze Zeit später tauchte sie, nur im Handtuch bekleidet, im Zimmer auf und sah mich fragend an. „Hast du hunger?“ Eins musste man ihr lassen: sie kümmerte sich. Normalerweise hätte mich die Kombination des Satzes und der nackten Haut total angemacht aber jetzt starrte ich geschockt auf ihre Beine. Ihre Waden und ihre Oberschenkel waren überseht mit dunkelblauen und violetten Flecken. Sie bemerkte meinen Blick und wollte grade wieder das Zimmer verlassen, da sprang ich auf und packte sie leicht an den Oberarmen. Ihr nasses Haar tropfte auf meine Hand, als sie mich flehend ansah. „Woher kommen die Flecken?“, fragte ich sie ruhig. Ich musste jetzt ruhig bleiben, sonst würde sie erneut dicht machen. „Eisenmangel“, antwortete sie schulterzuckend. Das kaufte ich ihr nicht ab. Sie konnte noch nie gut lügen. „Wer hat das gemacht?“, fragte ich mit Nachdruck. „Noah, lass mich bitte los. Ich schaffe alles alleine. Ich mache uns jetzt Essen und danach gehen wir schlafen. Es ist alles gut“, redete sie mehr zu sich selbst. Ich lockerte meinen Griff und sie ließ mich im Zimmer zurück. Wie gerne wollte ich wissen, was mit ihr geschah. Aber die Mauer zwischen uns war zu stark und ich konnte sie noch nicht durchbrechen.

Ich wurde mitten in der Nacht wach und lag alleine im Bett. Ich sprang auf und schaltete das Licht an aber sie war nicht im Zimmer. Panisch rannte ich durch den Flur und begann sie zu suchen. Manchmal schlafwandelte sie und das konnte tragisch enden. Im Wohnzimmer war ein schreckliches Weinen zu hören und so steuerte ich darauf zu. Sie saß zusammengekauert in der Dunkelheit, neben der Fensterbank. Schwaches Licht drang von den Straßenlaternen durch die Fenster, sodass man wenigstens etwas sehen konnte. Ihre Knie waren angezogen und sie hielt einen Brief in der Hand, der mir bekannt vorkam. Mit zitternden Händen starrte sie auf das Papier und weinte dabei. Langsam setzte ich mich gegenüber von ihr auf den Boden und suchte ihren Blick. „Geh schlafen“, wies sie mich energisch an. „Hast du wieder schlecht geträumt?“ Ich ignorierte ihre Seitenhiebe und griff nach dem Brief. „Ich habe wieder von ihm geträumt…aber ich will nicht drüber reden. Wahrscheinlich sollte ich diesen Brief verbrennen und nie wieder daran denken“, bemerkte sie und starrte weiter auf den Brief in meiner Hand. Den Brief hatte Eric ihr geschrieben. Ihre erste große Liebe. Zugegeben, ich war nicht ganz unschuldig an der Trennung und das hinterließ einen sauren Geschmack in meinem Mund. „Ich kann ihn dir leider nicht wieder zurückholen und Martin ebenfalls nicht“, sagte ich ehrlich enttäuscht. „Marvin“, korrigierte sie mich trocken. „Du wartest immer noch auf ihn, oder? Hätte ich gewusst, wie du leidest, ich hätte mich nie in deine Beziehungen eingemischt. Ich dachte immer, ich könnte dich glücklich machen“, stellte ich wahrheitsgemäß fest. Sie hörte auf zu weinen und schien nachzudenken. Weil sie nur kurze Shorts und ein Top trug, konnte man ihre blauen Flecken sehen und ich konnte meine Blicke nicht vermeiden. Ich fragte mich immer noch, wie das passieren konnte. „Dir wäre es also lieber ich hätte wieder Kontakt mit Marv, als das ich so bin, wie jetzt?“, wollte sie wissen. Mir wäre es lieber, sie hätte gar keinen Kontakt mehr zu irgendwelchen Jungs aber ich nickte. Sie nahm mir den Brief aus der Hand und faltete ihn. Anschließend stand sie auf und sah mich auffordernd an. „Lass uns schlafen gehen…ich muss früh raus und du eigentlich auch“, flüsterte sie. „Was ist jetzt mit ihm?“ Ich wollte wenigstens wissen, was sie vorhatte. „Nichts, wir haben keinen Kontakt.“ Damit war das Thema beendet und sie setzte wieder ihre kühle Miene auf.

Die Familie unserer verstorbenen Freundin wollte nicht, dass wir auf der Beerdigung auftauchten. Das war ein enormer Schlag in unsere Herzen aber wir ließen es uns nicht nehmen, nach der Trauerfeier ihren Grabstein zu besuchen. Honey würde vermutlich nicht kommen, denn sie hatte sich weder bei uns gemeldet, noch sonst Andeutungen in die Richtung gemacht. Jonah, Dana, Nadja, Henry und ich betraten grade den Friedhof und suchten ihren Grabstein. Alle waren den Tränen nahe und ich verfluchte die Sonne, dass sie ausgerechnet heute so schadenfroh schien. Nadja behauptete zu wissen, wo der Grabstein sich befand, also folgten wir ihr.
Kurze Zeit später standen wir vor einem Holzkreuz und einem frisch angelegten Grab. Wahrscheinlich war ihr Stein noch nicht fertig. Ihr Name auf dem Kreuz wirkte surreal und keiner Sprach. Zuerst fingen die Mädchen an zu weinen und bald auch alle anderen. Trauerreden wurden gehalten. Wir veranstalteten unsere eigene Trauerfeier…wobei das Wort „Feier“ wirklich unpassend war.
Plötzlich tauchte sie auf. Honey kam langsam auf uns zu und richtete ihre nassen Augen auf das Kreuz. Keiner von uns hatte damit gerechnet, dass sie auftauchen würde. Erstaunt sahen sie alle an und machten Platz, damit auch sie trauern konnte. Sie kniete sich auf den erdigen Fußweg und regte sich nicht mehr. Wir sahen uns gegenseitig traurig an und es schien, als würden uns allen die Worte fehlen.

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